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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Der Lyrik einen Resonanzraum geben – Der erste Frankfurter Festivalkongress „Fokus Lyrik“

„Wer A sagt…“ – Es kommt auf den ersten Schritt an und auf die, die folgen

Von Petra Kammann

Vom 7. bis 10. März fand in Frankfurt der große Festivalkongress „Fokus Lyrik“ statt. „Dass Frankfurt eine Stadt der Lyrik ist, würde man auf den ersten Blick nicht erwarten. Zwischen Hochhaustürmen der Banken und Kanzleien läuft der städtische Alltag im Eiltempo ab. Dabei bedarf die freie, spielerische Sprache der Poesie Zeit und Muße“, sagt die Kulturdezernentin der Mainmetropole. Aber kann nicht gerade ein solcher Ort, an dem überdies Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Milieus leben, ein Kraftquell poetischer Energien sein, an dem man zum Innehalten, genauen Hinschauen und zu neuem Atemholen animiert wird? Um solchen und ähnlichen Fragen nachzugehen, hat der Kongress mehr als 100 Akteure der Lyrikszene nach Frankfurt gelockt. Neben einem öffentlichen Programm fanden nicht-öffentliche Roundtables mit Autoren sowie Experten aus den Bereichen Übersetzung, Veranstaltung, Verlage, Buchhandel, Schule, Universität, Kritik, Zeitschriften statt. Da wurden zentrale Anliegen, Thesen und Forderungen in Sachen Lyrik formuliert.

Auftakt – Der schwedische Dichter Magnus William-Olsson öffnet den Brief mit der deutschen Übersetzung; Fotos: Petra Kammann

Musikalischer Dialog mit der Dichtung bei der Eröffnung von der brillanten Saxofonistin Angela Niescier 

Schon die Eröffnungsveranstaltung des Festivalkongress „Fokus Lyrik“ – ein Phantasma in fünf Stimmen –, war Eine ideale Eröffnung, wie es in der Programmankündigung hieß, stellten Dichter doch die Frage, was eine ideale Eröffnung zum Thema Lyrik wäre. „Füße zu haben, um sich zu bewegen“, frei nach einem Gedicht von Laura (Riding) Jackson, war nur eine der vielfältigen Antworten. Man bekam gleich am Anfang unmittelbar zu spüren, dass hier etwas „Hand und Fuß“ hatte. Künstler, Sprachkünstler, Inszenierungskünstler waren hier am Werk wie der witzig-ironische britische Performer und Dichter Steven J. Fowler oder die weit ausholende an die Bibel und an die Ilias erinnernde Dichterin Barbara Köhler, während der schwedische Autor Magnus William-Olsson das Publikum animierte, die am Eingang verteilte, im  verschlossenen Brief versteckte Übersetzung ins Deutsche mitzulesen.

Selbstbewusste und kluge Insider, die Dichter Monika Rinck und Tristan Marquardt, hatten das gesamte Festival kuratiert und adäquate Künstler, Übersetzer und Kritiker gefunden, die in personam das Anliegen repräsentierten. Am Anfang schon stand ein hoch gesteckter künstlerischer Anspruch, aber ebenso das Bewusstsein, dass Lyriker in der Öffentlichkeit zwar hoch geschätzt werden, mit ihrer Arbeit aber kein oder kaum Geld verdienen. Ergo sollte der Lyrik nicht nur mehr Resonanz und mehr Würdigung zuteil werden, sondern auch mehr Auftrittsmöglichkeiten und den Dichtern vor allem Geld, leben doch die meisten von ihnen am Existenzminimum. Sie üben verschiedenste Berufe nebeneinander aus und hangeln sich von Projekt zu Projekt. Also hatte man folgerichtig sämtliche mit der Lyrik verbundenen Akteure ebenfalls eingeladen, damit die anstehenden Fragen auf den Tisch kamen.

So gab es nicht nur durchgängig künstlerisch überzeugende Performances, Lesungen und Darbietungen an sechs verschiedenen Orten der Stadt, sondern auch 18 Podien zur Lage und Zukunft der Lyrik und entsprechende Diskussionen  – im Festivalzentrum in der Evangelischen Akademie auf dem Römerberg, im Frankfurtersalon in der Braubachstraße, im Haus am Dom, in der Jugend-Kultur-Kirche Sankt Peter, im Künstlerhaus Mousonturm und im Museum MMK an der Domstraße. Allein daran wurde deutlich, dass die Lyrik – anders als die Kunst oder die Musik – keinen Ort für sich hat.

Der vom gutleut verlag und Salon Fluchtentier kuratierte Abend „Nachtblende Lyrik“ im Frankfurtersalon 

Auch diskutierten Autoren mit Veranstaltern, Verlegern, Buchhändlern und Schulvertretern. Darüberhinaus gab es zur Selbstvergewisserung und zum kompetenten Hintergrund im MMK eine ganztägige Ringvorlesung zur Geschichte der deutschsprachigen Lyrik von ihren Ursprüngen des Althochdeutschen bis heute. Und an einer öffentlichen Jurysitzung für die Auslobung eines neuen im Entstehen begriffenen Lyrik-Preises (darüber später mehr unter www.feuilletonfrankfurt.de) konnte sich das Publikum Einblicke verschaffen, welche Kriterien zu welcher Auswahl führen. Soviel nur zum Ergebnis: Hier wurde der erste mit 2000 Euro dotierte „Frankfurter Lyrik-Preis“ ins Leben gerufen. Er geht an Sebastian Unger für seinen Band „Die Tiere wissen noch nicht Bescheid“ (Matthes & Seitz, 2018).

„Lyrik ist längst keine Spezialszene im Untergrund mehr“, so das Bekenntnis der Kulturdezernentin Ina Hartwig. Sie sollte recht behalten. Der Festivalkongress „Fokus Lyrik“ stieß in Frankfurt auf große Resonanz bis hin zur letzten Veranstaltung im Mousonturm, wo unter dem Motto „Eine Frage der Zeit – Lyrik zwischen Dystopie und Utopie“ die Sprachkünstler Ann Cotten, Tim Holland, Verity Spott, Simone Kornappel und die außergewöhnliche koreanische Dichterin Kim Hyesoon, ihre Texte präsentierten, die von den Hintergrundprojektionen der Schattenschnittkünstlerin Gisela Oberbeck hinterlegt wurden, und durch den brillanten Sound-Künstler Andy Vazul und sein experimentelles Harmonika-Spiel in einen neuen klanglich-räumlichen Zusammenhang gestellt wurden.

↑ Abschlussveranstaltung im Mousonturm: Experimentelle „Zwischentöne“ des ungarischen Soundkünstlers Andy Vazul

↓ v.l.n.r.: Kuratorin Monika Rinck mit Ann Cotten, Tim Holland, Verity Spott, Simone Kornappel, Kim Hyesoon, Schattenschnittkünstlerin Gisela Oberbeck, und Andy Vazul

Experiment gelungen und der erste Frankfurter Lyrik-Preis 

Auf der anschließenden Pressekonferenz wurden die in der Nacht zuvor formulierten „Frankfurter Positionen zur Lage und Zukunft der Lyrik“ vorgestellt, die wir unten im Wortlaut abdrucken.

Festivalleiterin Sonja Vandenrath empfand die Dynamik des Festivals als frappierend, die auch mit einer Selbstverpflichtung für die Zukunft einhergehen müsse. Überrascht war sie zudem über den lebhaften Buchverkauf zu den Veranstaltungen. Die engagierte Vertreterin der Kulturstiftung des Bundes Friedrike Tappe-Hornbostel sagte, der Kongress habe Hoffnung gemacht, und sie unterstrich noch einmal die Notwendigkeit, Netzwerke zu bilden und mit anderen Institutionen zu kooperieren. Vorbildlich sei etwa die Zusammenarbeit mit dem MMK gewesen, u.a. mit der „Funkverbindung Lyrik: Im Vorübergehen gehört“, wo man sich entlang der Korridore mit Kopfhörern durch die Räume bewegte und Räume anders erfahren habe. Außerdem habe auch der Tanzkongress in Hellerau zuletzt gezeigt, welche Dynamik von einem solchen Kongress ausgehen könne.

Mit Dichtung im Ohr: Akustische Raumerfahrung im Museum (MMK)

Monika Rinck sprach über den originellen und fairen Meta-Diskurs der Jury, die erst einmal Grundlagen geschaffen habe, und sprach von deren „selbsteigenem Ruckeln“, das am Ende zum beglückenden Konsens beim ersten „Frankfurter Lyrik-Preis“ geführt habe. „Der rockt!“, zitierte sie eine Reaktion. Und ihr Kollege Tristan Marquardt mahnte im Zusammenhang mit den Förderstrukturen vor allem an, dass diese von vornherein auch „familientauglich“ angelegt sein sollten. Denn man könne es den Dichtern nicht zumuten, sich für ein Jahr aus allen sozialen Zusammenhängen herauszureißen, um ein entsprechendes Stipendium wahrnehmen.

Frankfurter Positionen zur Lage und Zukunft der Lyrik

In den Diskussionen wurde festgestellt, dass die Produktions- und Rezeptionsbedingungen für Lyrik in vielerlei Hinsicht zu verbessern sind. Gefordert wurde eine dauerhafte und breitenwirksame Lyrikförderung. Ein wesentliches Ergebnis der Roundtables ist, dass die Gegenwartslyrik gezielte Förderstrukturen brauche, die ihren spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen entsprächen. Die „Frankfurter Positionen zur Lage und Zukunft der Lyrik“ verstehen sich ausdrücklich als Vorschläge, die einen Anstoß geben sollen, wie sich diese gestalten ließen.

Abschließende Pressekonferenz: Friedrieke Tappe-Hornbostel (Kulturstiftung des Bundes), Festivalleiterin Sonja Vandenrath (Stadt Frankfurt) und die beiden Kuratoren und Dichter Tristan Marquardt und Monika Rinck, Foto: Petra Kammann

Zentrale Forderungen, die in den Roundtables zur Sprache kamen, sind folgende:

1. Autor*innen

  • Weil Lyrik eine intellektuelle Praxis ist, die sprachliche Räume für kritisches und freies Denken offen hält, betreibt sie gesellschaftliche Grundlagenarbeit. Sie wirkt interkulturell und intrakulturell verbindend. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, benötigt sie faire Entlohnung. Erstrebenswert ist ein verbindliches Mindesthonorar von 500 Euro netto pro Auftritt.
  • Eine zeitgemäße Förderung muss längerfristig, orts- und altersunabhängig sowie familienkompatibel sein.
  • Förderungen sollten so ausgerichtet sein, dass neben Buchproduktionen auch auditive, performative und digitale Erscheinungsformen der Lyrik unterstützt werden.
  • Die Lyrik benötigt eine direkte fachliche Einbindung ins öffentliche Bildungswesen.

2. Übersetzung

  • Die unterschiedlichen Honorierungen (Normseite, Zeile, Gedicht) müssen auf ein einheitliches Zeilenhonorar von mindestens 3 Euro netto festgelegt werden.
  • Bei der Einladung von fremdsprachigen Lyriker*innen sollten die Übersetzer*innen miteingeladen werden – bei einem Honorar, das sich an dem der Autor*innen orientiert (500 Euro netto).
  • Zur besseren Vernetzung von Lyriker*innen und Lyrik-Übersetzer*innen sollte eine Datenbank literarischer/lyrischer Übersetzer*innen – ähnlich wie es sie beispielsweise in den Niederlanden gibt  – aufgebaut werden.
  • Mehr Preise für Lyrik-Übersetzungen sollten eingerichtet werden.

3. Veranstaltung

  • Förderer (Kommunen, Länder, Bund, alle Kulturpolitiker) sollten sich stärker zu Lyrik bekennen und die Wichtigkeit von Lyrik anerkennen. Deswegen braucht es eine Quote in der Kulturförderung: Lyrik ist ein eigenständiger Bereich und muss eigenständig gefördert werden.
  • Bei Projekten der freien Szene sollten auch die Organisationskosten angemessen berücksichtigt werden.

4. Verlage

  • Es sollte ein eigenständiger Förderfonds für Lyrik gegründet werden.
  • Anzustreben ist eine vermehrte Präsenz von Lyrik in Bibliotheken, Stadtbüchereien und Literaturhäusern.

5. Buchhandel

  • Lyrik-Veranstaltungen im Buchhandel sollten durch die öffentliche Hand gefördert werden.
  • Benötigt wird eine bundesweite digitale Vernetzungs-Plattform, über die Lyriker*innen, Übersetzer*innen, Verlage und Buchhandlungen miteinander in Verbindung treten können – ähnlich der, die es für Illustrator*innen schon gibt.
  • Zwischenhändler sollten kuratierte Lyrik-Pakete zur Verfügung stellen, so wie es solche auch in anderen Genres gibt.
  • Lesen von Lyrik und das Verständnis von Lyrik sollten in der Buchhändler-Ausbildung verankert werden.
  • Erstrebenswert sind Aktionstage für Lyrik, die sich am Erfolg des Indiebookdays orientieren.

6. Schule

  • Öffnung der Schulen und Curricula für Vermittlungsformate und -formen von (Gegenwarts-)Lyrik auch jenseits von üblichen Interpretationsmodellen. Zur Lyrik gehört wesentlich auch die Irritation und das Nicht-Verstehen (Ambiguitätstoleranz).
  • Unterrichtsmaterialien dafür müssen vermehrt entwickelt und bereitgestellt werden.
  • Lyrikvermittlung muss Teil der Didaktik werden und in die Lehrerausbildung an den Hochschulen implementiert werden.
  • Lyrik könnte in Schulen als Wahlpflichtfach angeboten werden, sie könnte von speziell ausgebildeten Lehrkäften und Lyriker*innen im Tandem unterrichtet werden. Der Unterricht sollte Performance, Konkrete Poesie, Songwriting und digitale Poesie einschließen, um Lyrik zeitgenössisch zu vermitteln.

7. Universitäten

  • Festanstellung von Dichter*innen an der Universität nach amerikanischem Vorbild ohne Promotionsverpflichtung.
  • Programm Gegenwartskultur/Gegenwartslyrik für die Lehrerausbildung als Fortbildung nach einigen Jahren Berufserfahrung (z. B. im Freistellungsjahr nach zehn Berufsjahren).
  • Empirische Studie über den Anteil der Gegenwartslyrik an den philologischen Instituten der deutschen Universitäten.

8. Kritik

  • Zu installieren sind eigene Kritik-Dozenturen an den existierenden Schreibschulen, an journalistischen Schulen und an Universitäten.
  • Digitale Plattformen für Lyrikkritik müssen in die öffentliche und private Förderung  aufgenommen werden.
  • Zu stärken und quantitativ auszubauen ist der Stellenwert von komplexeren Lyrikrezension im klassischen Feuilleton. Gleichzeitig sollte ein Bewusstsein für den Wert lyrikvermittelnder Kritik geschaffen werden.

9. Zeitschriften

  • Literaturzeitschriften sind Non-Profit-Publishing, für das rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Für die Inhalte sorgen die Zeitschriften unabhängig.
  • Da die in Deutschland existierenden dezentralen Förderungsmöglichkeiten schwer überschaubar sind, sollte eine zentrale Förderungsorganisation für Zeitschriften eingerichtet werden, wie es sie beispielsweise in Norwegen gibt.

Die detaillierten Ergebnisse der Roundtables werden in Kürze auf dieser Webseite veröffentlicht. Zudem werden sie dem „Netzwerk Lyrik e.V.“ übergeben. 

 

Mehr zum Festivalkongress unter: www.fokuslyrik.de

 

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