Barbara Honigmann las aus ihrer neuesten Erzählung „Georg“ in der Frankfurter Romanfabrik
Lakonisch und witzig, traurig und warmherzig erzählt — Erinnerungen an das schillernde Leben ihres Vaters
Von Petra Kammann
Romanfabrik: Barbara Honigman las aus ihrem neuen Buch „Georg“
Barbara Honigmann, die heute in Straßburg lebende Autorin und Malerin, die frühere Dramaturgin und Regisseurin, die an so renommierten Theatern wie der Volksbühne und dem Deutschen Theater in Berlin gewirkt hat, folgt in ihrer neuen autobiographischen Erzählung den Spuren ihres Vaters Georg Honigmann (1903-1984).
„Georg“, so auch der Titel der Erzählung, ist ein ruheloser Zeitgenosse, profilierter Journalist und Bohemien, der die Frauen liebt. Von Georgs vier Frauen – er heiratete immer dreißigjährige Frauen – und seinen vielen Geliebten, seiner Untreue und seiner Staatstreue zur DDR berichtet die Autorin, aber sie beschäftigt sich auch mit dem assimilierten Juden aus Hessen. Er war „ein Jude ohne Bekenntnis, aber das Judesein war ihm ins Gesicht geschrieben“ mit seinem „mediterranem Aussehen“ und seiner „prominent nose“. So wird er auch später in den Akten beschrieben.
Der weltläufige Vater berichtet aus Düsseldorf, Berlin und Paris, lebt während der Nazi-Zeit in London, wird zwischenzeitlich in den Wäldern Kanadas interniert, kehrt nach London zurück und siedelt nach Kriegsende mit Litzy, der Mutter der Schriftstellerin, nach Berlin-Ost in die DDR über, wo sie sich zunächst einmal für den den ,besseren‘ Staat engagieren, und er spioniert für die Sowjetunion. In Ost-Berlin kommt auch die Tochter Barbara zur Welt und wächst heran.
Barbara Honigmann beim Signieren in der Romanfabrik
Nirgends fühlte Georg sich heimisch. Für die Engländer war er stets ein Deutscher geblieben, für die Deutschen ein Jude, für seine Genossen „war er zu bürgerlich“, für „die richtigen Bürger war er zu bohèmehaft“. Mit ihrer teils schmerzhaft hervorgeholten Erinnerung an den Vater knüpft Barbara Honigmann an ihre ebenfalls autobiographisch gefärbten früheren Bücher an wie „Eine Liebe aus nichts“ (1991), an die Geschichte ihrer eigenen Mutter in „Ein Kapitel aus meinem Leben“ (2004) und an „Chronik meiner Straße“ (2015), der Rue Edel, in der sie selbst heute wohnt. Und sie geht der Frage nach, wie stark unser Leben durch die Biografien unserer Eltern und Vorfahren geprägt wird. Trotz manch bitterer Erkenntnis rechnet sie aber nicht mit dem Vater ab, sondern will vor allem eines: ihn verstehen …
Gespräch der Autorin Barbara Honigmann mit Michael Hohmann, Geschäftsführer und künstlerischer Leiter der Romanfabrik
Frankfurt ist für ihn wie für sie ein wichtiges Scharnier. Hier beginnt sie, einen Tag nach ihrem 70. Geburtstag, die erste Station ihrer Lesereise durch Deutschland. In Frankfurt hatte sie auch 1984, also nunmehr vor 35 Jahren, zunächst angedockt und ein paar Monate verbracht, bevor sie gemeinsam mit Mann und Kindern von Berlin-Ost aus endgültig ins „Thora-Judentum“ nach Straßburg übersiedelte, denn in der DDR gab es zwar noch eine Synagoge, aber die jüdische Gemeinde war wegen der Religionsfeindlichkeit des Staates so gut wie nicht mehr vorhanden und blutleer geworden. Das Bekenntnis zum Judentum als Glaubensgemeinschaft war, so hat Barbara Honigmann es in mehreren ihrer Bücher geschildert, eine Art innerer Ausreise aus der DDR.
Wenn die Autorin über sich, ihr Leben und ihre Vorfahren spricht, dann merkt man, dass Erzählen für sie ein Urbedürfnis ist, sie es nicht zum ersten Mal tut. Ihr leicht schnoddriger Berliner Tonfall wirkt authentisch, und sie trifft dabei immer den angemessenen Ton, der frei von jeglichem Pathos ist. Da springt der Funke der Sympathie gleich ins Publikum über. Mal wirkt die Betrachtung des Lebens ihres Vaters und der damit verbundenen Umstände relativierend kritisch und ketzerisch, wenn sie die Dinge beim Namen nennt, mal sucht sie nach den passenden Worten, wenn es um delikatere Sachverhalte wie das Verlassenwerden oder die Spionagegeschichten geht. Aber immer überwiegt ihre Freude zu fabulieren. Und die muss ihr trotz aller chaotischen Lebensverhältnisse wohl der Vater – eine ausgesprochene Künstlernatur – mit auf den Weg mitgegeben haben.
Nicht chronologisch, sondern rondoartig nimmt sie den roten Faden und die Motive seines Lebens auf. Georgs Lebensweg führt ihn von Wiesbaden, wo er 1903 als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Wiesbadener Arztes am feinen Sonnenberg zur Welt kommt, über Frankfurt, wo er als Kind begeistert den Palmengarten besucht und von den fleischfressenden Pflanzen fasziniert ist, an die Odenwaldschule, wo ihn die Reformpädagogik von Paul Geheeb ebenso prägt wie Martin Buber im benachbarten Heppenheim oder die Besuche des „goldisch Bubbsche“ bei der geliebten Großmutter Anna, Tochter eines Hofbankiers der Großherzöge von Hessen-Darmstadt, in „Dammschtadd“.
Die Großmutter hatte den Enkel nach dem frühen Tod der Mutter und dem Tod eines älteren Bruders im Ersten Weltkrieg zu sich genommen. Schließlich studiert Georg in Gießen, promoviert über das Weltbild Georg Büchners, wird Redakteur der Vossischen Zeitung, zunächst in Düsseldorf, dann in Berlin und er kommt weiter in der Welt herum, zunächst als Journalist und Korrespondent nach Paris, und dann gelangt er mithilfe seiner Chuzpe – denn eigentlich kann er gar kein Englisch – nach London, was sich für ihn als lebensrettend erweist, obwohl er von London aus auch in den Wäldern Kanadas interniert wird.
Zurück in Großbritannien, wendet er sich dann dezidiert dem in London lebenden „Wiener Kreis“ und dem Kommunismus zu, mit dem ihn Litzy, die Mutter der Autorin, bekannt macht, die ihrerseits wiederum zu diesem Zeitpunkt noch mit dem sowjetischen Spion Kim Philby verheiratet ist.
Die Erzählung setzt damit ein, dass die Autorin ihren Vater besucht, der nunmehr 60 Jahre alt ist, grau und zusammengesunken in einem kleinen möblierten Zimmer, Toilette und Bad auf dem Gang, bei einer zickigen Landlady in Hirschgarten, einem südöstlichen Vorwort von Berlin, wohnt. Um sich Luft zu verschaffen, gehen die beiden spazieren. Der ansonsten so erzählfreudige Vater reagiert der Tochter gegenüber fast stumm und weint. Er hatte das in Ost-Berlin angesagte Hugenottenviertel wegen Trennung von seiner letzten Frau verlassen müssen. „Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. (Nur) er wurde älter… Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine Mutter, Gisela und Liselotte.“ Er hat sich gerade wieder einmal von einer Frau getrennt, von einer Frau, mit der Barbara bis an ihr Lebensende befreundet blieb.
Im Falle von Gisela handelte es sich wohl um die berühmte Brecht-Interpretin und Diseuse Gisela May, für die Hanns Eisler eigens Songs geschrieben hat. Köstlich beschreibt die Autorin, die als 10-Jährige „mit vier Eltern und zwei verschiedenen Leben“ aufwächst, von Mays erstem großen Auftritt am 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, wo sie sich wegen ihrer vorlauten Bemerkungen den Zorn des Vaters zuzieht und die erste Ohrfeige erhält. Dies ist nur eine der Szenen, die äußerst humorvoll geschildert werden. Dabei wollte Barbara, begeistert von der französischen Lebensart, der Sängerin doch nur raten, sie solle sich nach dem Vorbild der französischen existenzialistischen Chansonsängerinnen ganz in Schwarz kleiden, womit sie aber nur die Eifersucht Mays heraufbeschwor…
Die Lesung in der Romanfabrik wurde von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt unterstützt
Barbara Honigmann erweckt in ihrer atmosphärisch gelungenen Erzählung die Ost-Berliner Theaterszene um Bert Brecht, Ernst Busch, Hanns Eisler, Thomas Langhoff zu neuem Leben, beschreibt die legendäre „Möwe“, Inn-Treff der Ostberliner Intellektuellen-Schickeria. Der Vater wiederum bezeichnet die dort verkehrenden Wichtigtuer als „Kulturaffen“. Es ist nur eine der vielen dichten Szenen in dem komprimierten Buch von gerade mal 158 Seiten, das einen ganzen Kosmos aufschließt.
Das Ende seines Lebens verbringt der so charmante wie depressive Misanthrop in der Klassikerstadt Weimar, wo dessen letzte Frau alles der Stasi zutrug. Nun war er „an old man in a hurry“, beschäftigt sich nochmal mit der Geschichte der Emanzipation des Judentums, und nach einem äußerst mäandernden Lebenslauf und einem Guerillakampf als Journalist stirbt er schließlich im Jahre 1984. Das wiederum bedeutete für die Tochter Barbara, die zuletzt mit ihm in heftigem politischem Streit lag, wegen der Beerdigung eine Rückkehr in die DDR, von der sie sich schon innerlich schon längst verabschiedet hatte …
Und es dauerte mehr als drei Jahrzehnte, bis Barbara Honigmann sich intensiv mit dem Leben des Vaters, das maßgeblich durch die unterschiedlichsten wechselnden gesellschaftlichen Bewegungen wie auch durch verschiedene politische Systeme beeinflusst war, intensiv auseinandersetzen konnte. Dass sie die Hintergründe des Lebens ihres Vaters recherchieren konnte, hat sie dem Schriftstellerkollegen Peter Stephan Jungk zu verdanken. Der hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass er beim Studium der Stasi-Akten auf ihren Vater gestoßen wäre, sie solle sich doch der Sache annehmen, denn nach 30 Jahren seien auch die Akten des britischen Geheimnisdienstes MI5 frei zur Einsicht. So konnte die Tochter während eines Artist-in-Residence-Aufenthalts in London schließlich ausgiebig die Akten durchforsten.
Glücklicherweise ist sie nicht der Versuchung erlegen, die Erzählung mit den detaillierten Ergebnissen ihrer Recherchen zu überfrachten, stattdessen hat sie ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts in Ost und West und einen Teil ihrer eigenen individuellen Geschichte „gerettet“. Ein Glück für den Leser!
Alle Fotos: Petra Kammann