Verleihung des Hörspielpreises des Jahres 2018 im Frankfurter Literaturhaus
Eine Sternstunde. Susann Maria Hempels „Hörspiel des Jahres“ „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ im Literaturhaus Frankfurt
Von Uwe Kammann
Die Preisträgerin Susann Maria Hempel als Zuhörerin im Literaturhaus
Der Gast vom Institut Français in Mainz war verblüfft. Und beeindruckt. Denn zu seinen bisherigen kulturellen Erfahrungen hatte dies noch nicht gezählt: die öffentliche Vorführung eines Hörspiels. Und jetzt, bei seiner ganz persönlichen Premiere im Frankfurter Literaturhaus, erlebte Bruno Girardeau gleich eine Sternstunde. Denn als das diesjährige Preis-Stück im Rahmen des traditionellen Wettbewerbs „Hörspiel des Jahres“ an der Adresse Schöne Aussicht im so kleinen wie feinen Büchersaal in knapp einer Stunde zu erleben war, hätte man die sprichwörtlich fallende Nadel hören können. So gebannt lauschte das Auditorium – sichtlich eine Hörspielgemeinde – dem, was Susann Maria Hempel geschrieben, inszeniert, gesprochen, komponiert, gesungen und klanglich arrangiert hat. Was es in dieser Form, so Christoph Buggert als Organisator und Verantwortlicher dieses von der Akademie der Darstellenden Künste ausgelobten Preises, in der nun schon über vierzigjährigen Geschichte der Auszeichnung noch nie gegeben hatte.
Ja, schon dies war eine Besonderheit. Eine weitere: Dies war erst die zweite Radioarbeit der im thüringischen Greiz lebenden jungen Autorin. Wer das Stück hörte und hört, wird dies kaum glauben: So präsent ist es, eine solche Kraft strahlt es aus, so überzeugend, geradezu überwältigend ist seine inhaltliche Linie, sein dramaturgischer Aufbau, seine stimmliche und klangliche Realisierung, seine von der ersten bis zur letzten Minute sich mitteilende Intensität. Das Urteil läge nahe: Hier ist jemand schon auf dem Höhepunkt eines langen Reifeprozesses.
Und worum geht es in diesem Stück unter dem anspielungsreichen Titel „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“? Eben um den Prozess eines Erkundens – tastend, fragend, zögernd, dann wieder hastend, drängend, zweifelnd, zwingend. Ein Prozess, der ein Leben rekonstruieren will und soll, in einer kreisenden, offenen Annäherung. Ein Leben, dass durch Traumata bestimmt ist, Verletzungen, Ausgrenzungen, Demütigungen, Einengungen, auch ganz real: indem der Protagonist – ein junger Mensch in der DDR – eingesperrt wurde. Vordergründig: Versuch der Republikflucht. Aber auch im weiteren war er eingeengt, litt unter Demütigungen, Versehrungen, in jeglichem Sinne. Das hat etwas von Büchner-Figuren, vom Woyzeck, vom Lenz.
Susann Maria Hempel transportiert diese existentiellen Erfahrungen – die eine tatsächlich gelebte Grundlage haben – in eine beklemmende Gegenwart. Mit einem ungewöhnlichen Verfahren. Indem sie das, was ihr realer Protagonist als drängend und bedrängend erlebt hat auf der Suche nach Perspektive und Sinn, in eine dialogische Situation kleidet: der Suchende wendet sich an sie, Susann, ganz namentlich, ganz direkt, und teilt in einem manchmal geradezu gehetzten Ton seine bedrängenden Erfahrungen und seine inneren und äußeren Auf- und Ausbruchversuche mit, mehr noch: Er teilt sie auch mit ihr. Sie ist insofern mehr als ein Resonanzraum, ein zuhörendes und emphatisches Gegenüber. Diese enge Verschränkung wird durch einen Kunstgriff verstärkt: indem die Autorin sowohl ihren eigenen Part spricht als auch den ihres Protagonisten. Die Nuancen der beiden Rollen sind gleichwohl gut zu unterscheiden, auch wenn diese Geschichte einer Suche nach Eigenem und nach einer Befreiung von allem Einschränkenden und Verletzendem im Stück zu einem gemeinsamen Akt wird.
Gebannt lauscht das Publikum
Das, was als Dokumentiertes und Dokumentarisches diesem Stück innewohnt (wegen dieser Elemente wurde es auch von der Feature-Abteilung des Rundfunks Berlin Brandenburg betreut), bekommt gleichwohl einen jederzeit spürbaren interpretatorischen Rahmen: indem die Autorin bewegende Verspassagen der deutschen Romantik einfügt, in sparsamer Komposition melancholisch-sehnsüchtig grundiert, leicht verfremdet, indem die Tonebenen mit zarter Variation geschichtet werden. Und, als zusätzliches Element, fügt sie Vogelstimmen ein, im leichten Crescendo – für den Seele-Suchenden (der weiß, wie wenig greifbar sie ist: wie Nebel, existierend, doch nicht greifbar) das akustische Aufleuchten von Freiheit, gefunden im Wald, dem stets präsenten Zufluchts- und Sehnsuchtsort.
Das hört sich in der Beschreibung womöglich nach Kunst und Künstlichkeit an, nach zuviel Kalkulation, ausgeklügelter Konstruktion. Dabei ist dieses im Ausgangspunkt dokumentarische Hörspiel nichts weniger als das. Es ist so selbstverständlich, bei gleichwohl stets spürbarem eigenen Klangraum, dass man sich tatsächlich in einer eigenen Welt wähnt, fremd und vertraut, entfernt und ganz nah.
Zu Recht spricht die Jury in ihrer Begründung von einem „radiophonen Gesamtkunstwerk“. Und unterstreicht, dass Hempel uns in ihrem Stück über „die Auflösung des Ich und den Versuch seiner Rekonstruktion“ – der ja viele Gespräche zugrundeliegen – „die große Intimität dieser Unterhaltung miterleben“ lasse, „ohne ihre Vertraulichkeit zu verraten.“
Die Begründung der „einhellig begeisterten“ Jury endet mit einer appellativen Voraussage: dass die „künstlerische Kraft“ der Autorin „ganz sicher noch weitere wichtige Impulse für die Hörspielgestaltung setzen wird.“
Preisträgerin Susann Maria Hempel im Gespräch mit hr-Redakteur Alf Mentzer
Dass diese Hoffnung ihren festen Boden hat, ließ das anschließende kleine Werkstattgespräch (moderiert von HR-Kulturredakteur Alf Mentzer) mit der RBB-Redakteurin Mareike Maage und der Autorin mehr als erahnen. Denn klar wurde dabei: Über eine solche Mischform, deren Kern dokumentarisch ist, die aber zugleich auf eindeutig künstlerische Mittel setzt, kann eine Radioredaktion nur glücklich sein. Weil sie eine schwebend-authentische Annäherung an Personen und ihre jeweils eigene Wirklichkeitserfahrung erlaubt, weil sie in ihrem Gesamtduktus Authentisches transportiert, ohne den eigenen interpretatorischen Zugang zu leugnen. Mit Staunen erfuhr das Publikum, dass Susann Maria Hempel mit den Personen, deren Geschichte sie in sich aufnimmt, oft über Jahre spricht, immer wieder, dass sie dabei diese Gespräche für sich in Protokollen niederschreibt (kein Mikrophon schafft einen erkennbar medialen Rahmen) und anschließend in einem editorischen Verfahren zu einem Text wie dem des jetzigen Hörstücks verdichtet. Wobei, dies kommt dem Authentischen entgegen, die einzelnen Sätze dem protokollierten Wortlaut entsprechen.
Verblüffend auch beim jetzigen Hören: aus der Biographie Hempels zu wissen, dass sie bislang vor allem durch kürzere Experimentalfilme aufgefallen ist, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Werdegang als Musikerin, Schauspielerin und künstlerische Mitarbeiterin im Künstlerkollektiv „Theaterhaus Weimar“ zeigt schon den Facettenreichtum ihres Schaffens auf, dessen theoretische Grundlage auch beim Studium der Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar mit dem Schwerpunkt Kurz- und Experimentalfilm gelegt wurde.
Die Begeisterung der Jury, hier ein Hörspiel auszeichnen zu können, dass in dieser Form eben nur im Radio sein angemessenes Medium findet und in der Konzentration auf die radiophonen Gestaltungsmittel seine Stärken entfalten kann – vor allem eben: die intensive Konzentration auf den reichen und hochdifferenzierten Erfahrungsraum der Stimme (ein Merkmal, das Alexander Kluge immer wieder herausstellt) -, diese Begeisterung ist umso verständlicher, wenn man weiß, wieviele der immer noch in großer Zahl produzierten Hörspiele eben diesem Kriterium nicht genügen, sondern oft eher verlegen wirkende Adaptionen literarischer Vorlagen sind, um nur eine Kritik zu nennen. In ihrem Rückblick versagte sich die Jury (aus Höflichkeit?), diese Fehlstellen im einzelnen zu benennen, kritisierte jedoch im pauschalen Fingerzeig, wieviel Schlechtes ihr im Jahrespensum untergekommen sei.
Team mit Preisträgerin, v.l.n.r.: Regine Beyer(Jury), Benno Schirrmeister (Jury), Nikolaus Löwe (Toningenieur rbb) , Viktorie Knotkova (Jury), Susann Maria Hempel (Preisträgerin), Mareike Maage (Redaktion Feature rbb) Christoph Buggert (Präsidium DADK), Daniela Ginten (Generalsekretärin der DADK)
Und dieses Pensum ist groß, entsprechend dem System dieses Preises, dass eine dreiköpfige Jury (diesmal: Viktorie Knotkova, Regine Beyer und Benno Schirrmeister) alle Originalproduktionen der Sender hört, daraus im steten Rhythmus zwölfmal ein Hörspiel des Monats wählt und schließlich aus diesem Zwölfer-Kreis das beste, das in ihrem Urteil hörenswerteste, bemerkenswerteste Stück kürt, eben das Hörspiel des Jahres.
In den Anfangsjahren dieses Bemühens um das Hörspiel durch die Akademie der Darstellenden Künste gab es diese Schluss-Anerkennung noch nicht. Im Gründungsjahr, 1977, stand die Überlegung im Vordergrund, im laufenden monatlichen Verfahren die besonderen Leistungen zu finden und herauszufiltern, mit dem Vorzug, ganz verschiedene Ansätze verfolgen und möglichst öffentlichkeitswirksam herausstellen zu können. 1987 dann die Entscheidung, diesen Öffentlichkeitseffekt zu vergrößern, mit der Konzentration auf den jährlichen Termin mit der Auszeichnung „Hörspiel des Jahres“.
Das war ein wichtiger und richtiger Schritt, der den Preis aufwertete, so dass er in der Wahrnehmung mit dem schon Anfang der 50er Jahre gegründeten, seither mit viel Renommee aufgeladenem „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ gleichziehen konnte. Vor einem Dutzend Jahren trat dann noch der „Hörspielpreis der ARD“ dazu (inzwischen: „Deutscher Hörspielpreis der ARD„). Dessen Besonderheit liegt darin, dass die Jury einmal jährlich öffentlich über die von den Sendern eingereichten Stücke diskutiert (die Entscheidung selbst allerdings erfolgt in interner Beratung) – ein Modell ganz wie beim Fernsehfilmfestival der Akademie der Darstellenden Künste in Baden-Baden.
Letzte Preisübergabe durch Christoph Buggert (Präsidium der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste)
Keine Frage, diese drei Radiopreise – bei denen jener der ARD natürlich eine Art Wettbewerb in eigener Sache ist, angereichert durch eine Reihe von Diskussionen und Vorführungen – sind angesehene Instrumente, um die Qualitäten der Gattung Hörspiel zu würdigen, der, wie oft betont wird, reinsten radiogenuinen Kunstform. Doch ebenso klar ist auch, dass deren Wahrnehmung im weitesten Sinne durch das Fernsehen stark in die Enge getrieben wurde. Fiktionale Bedürfnisse bedient heute der Fernsehfilm, er zieht das Massenpublikum an, er ist das Haupt-Unterhaltungsmedium. Mit nicht wenigen exzellenten Produktionen, in den letzten Jahren allerdings mit einem Hang zur Dominanz des Krimis, dass hier, nicht zuletzt von Kritikern, ein erheblicher Mangel gesehen wird.
Doch wie auch immer: Das Hörspiel hat eine – auch in sich differenzierte – Gemeinde. Und es findet ein aufgeschlossenes Publikum auch außerhalb der Radioverbreitung: mit Aufführungen im Saal, auch unter freiem Himmel – dann eben als Event. Nicht zu übersehen/zu überhören: Es gibt schon lange keinen festen Kanon der Formen mehr, die an Literatur orientierten Anfänge sind längst nur eine unter vielen Optionen der Darstellung; alles ist möglich, von der monologischen Strenge bis zum opulenten Spielpanorama, von der Originalton-Collage bis zum reinen Klangexperiment, vom linearen Erzählen bis zur Performance, von der klassischen Studioproduktion bis zur Bühnenaufzeichnung oder zur Autorenproduktion am heimischen Computer.
Auch Susann Maria Hempel produziert im eigenen Raum, in einer kleinen mit Styropor ausgekleideten Kabine (frotzelnd wegen der farbigen Illumination „Jamaika“ genannt). Das schließt natürlich die professionelle Aufbereitung für das fertige Radioprodukt nicht aus. Hier, beim Preisstück, war es Nikolaus Löwe, der als Toningenieur beim Radio Berlin Brandenburg (rbb) für das höchst subtile Klangerlebnis verantwortlich war.
Der Eindruck des Preis-Publikums im Literaturhaus war – soweit sich das aus der Summe der Einzeläußerungen generalisierend schließen lässt – sehr vorwärtstragend: Doch, das Hörspiel hat weiter Zukunft, wenn die Verantwortlichen sich auf dessen besondere Qualitäten konzentrieren und nicht an zu vielen Stellen der Routineversuchung nachgeben, die dann leicht – so ja auch das Monitum der Jury – zu Verlegenheitslösungen führt, zu Stücken, die reine Zeitfüller im Programm sind, ohne Relevanz, ohne Hör-Wert.
Buggert zu Ehren feierte die Hörspielszene nach der Preisverleihung in kleinem Kreise. Buggerst Nachfolgerin Barbara Schäfer (Mitte) hielt eine warmherzige Dankesrede
Jemand, der immer mit höchstem Engagement für das Hörspiel gearbeitet hat – unermüdlich, ob als Organisator, Inspirator, Theoretiker und nicht zuletzt als erfolgreicher, mit Preisen ausgezeichneter Autor – wurde übrigens an diesem schönen Feier-Abend verabschiedet: Christoph Buggert. Nun, natürlich war das kein Abschied ins Nimmerwiedersehen, sondern schlicht ein Schlusspunkt unter seinem Ehrenamt bei diesem Wettbewerb Hörspiel des Monats / Hörspiel des Jahres. Er – der beim Hessischen Rundfunk lange als Hörspielchef fungierte – hat diese weithin anerkannte, zu einer eigenen Tradition gewordene Aktivität der Akademie der Darstellenden Künste über nun vier Jahrzehnte geprägt, in Schwung gehalten, befeuert, ihr die verlässliche organisatorische Grundlage verliehen.
Seine Nachfolgerin, Barbara Schäfer (Leiterin der Abteilung Hörspiel und Hintergrund Kultur beim Deutschlandfunk), würdigte Buggerts Verdienste im kleinen Kreis der Hörspiel-Vertrauten mit wohltuend warmen Worten – Und einem bayerischen Bier, weil Buggert vor dem Ruf nach Frankfurt in München beim BR dem Hörspiel auf die Sprünge geholfen hatte. Holger Rink von Radio Bremen mit einer Kiste Rotwein aus den berühmten Bremer Rathausbeständen.
Auch Schäfer hat (nach Stationen beim Sender Freies Berlin und beim WDR) BR-Provenienz. Zehn Jahre war sie Chefdramaturgin der dortigen Abteilung Hörspiel und Medienkunst, danach leitete sie für sieben Jahre das BR-Nachtstudio. Als sie vor fünf Jahren ihr Amt in Köln antrat, hatte sie übrigens ganz explizit den in ihrer Abteilung zusammengefassten Genres Hörspiel, Feature und Essay eine „funkelnde, vielgestaltige Zukunft“ in den öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen gewünscht, mit weitem Herzen für „innovative und genreübergreifende Projekte“ (da kam das aktuelle Preisstück sicher gerade recht). Eine Position auf jeden Fall, die für die jetzige spezielle Zusatzaufgabe bei der Akademie als ideale Voraussetzung gelten kann.
Erinnerungen an alte Bremer Zeiten: RB-Hörspielchef Holger Rink mit Buggert und einer Gabe aus dem Bremer Ratskeller
Deren Präsident, Hans-Jürgen Drescher, hatte diese Offenheit als Pluspunkt schon anklingen lassen, als er in seinem Begrüßungsauftakt des Hörabends die doch bedeutende personale Zäsur in der Hörspielarbeit der Institution verkündete, verbunden mit allem bekundeten außerordentlichen Respekt und mit großem Dank für das in dieser Form so außergewöhnliche Engagement des nun bald 81-jährigen Buggert.
Allein, die Zahl besagt nichts, wie auch Barbara Schäfer in der Feierrunde betonte. Mit seinem Temperament, seinem Schaffensdrang (ja, es entstehen im fast jährlichen Rhythmus weiter Hörspiele mit den Initialen CB) sei er ein leuchtendes Vorbild an Jugend(lichkeit).
Akademiepräsident Hans-Jürgen Drescher
Kein schöneres Kompliment an diesem Abend. Jedenfalls, wenn es nicht dem ausgezeichneten Hörspiel des Jahres galt und gilt. Das hatte seinen ganz eigenen Rang. Doch wenn man bei dessen Titel „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ die Anführungszeichen entfernt und ihn als Aufgabe nimmt, kommt man schnell zum Schluss: Diese Seele wurde gefunden, benannt und geehrt. Damit waren, jedenfalls an diesem Samstag, alle zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das glückt ja nicht so oft. Hier durften wir es erleben. Wie schon gesagt: eine Sternstunde.
Fotos: Petra Kammann und Uwe Kammann