Die Pianistin Maria Sintamarian im Hauskonzert von Viviane Goergen
Von Erhard Metz
Ein stilvolles Ambiente gibt der adretten Wohnung ihr Gepräge, die Wände zeigen Gemälde des bedeutenden luxemburgischen Malers und Zeichners, Widerstandskämpfers und großen Europäers Edmond Goergen, dem im Sommer vergangenen Jahres in Bitburg eine große Retrospektive gewidmet war, des Vaters von Viviane Goergen, die ein musikaffines wie kennerschaftliches Publikum zu einem Hauskonzert eingeladen hatte. Das Polstermobiliar war vor den bestens gepflegten und gestimmten großen Steinway-Flügel gerückt, Wohn- und Esszimmer – mit mehr als 20 Stühlen bestückt – waren in ein angemessenes Auditorium verwandelt. Mit der Vorstellung von Maria Sintamarian verband Viviane Goergen mit einem vielversprechenden Augenaufschlag die Ankündigung, die Künstlerin werde ihr ungewöhnlich anspruchsvolles, ja überaus ambitioniertes Programm höchstpersönlich moderierend begleiten.
Viviane Goergen und Maria Sintamarian
Es war keineswegs zuviel versprochen: Die bereits auf den ersten Blick sympathische Künstlerin stellte – mit dem ihr eigenen freundlich-selbstbewussten, das erwartungsvolle Publikum gewinnenden Charme – den ersten Programmpunkt vor: Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge Nr. 18 in gis-Moll (BWV 863). Ihr anschließendes Spiel bestätigte ihren Auftritt als Moderatorin: mit hoher Konzentration und Präsenz, mit Respekt vor der in Transzendenz und überirdische Sphärenhöhen führenden Komposition des Meisters, zugleich mit einer stillen, heiteren, vom Bewusstsein ihrer souveränen Könnerschaft getragenen Freude am Spiel, den Anschlag beherrschend vom sanftesten Streicheln der Tasten bis zu markanter Wucht, mit einer unvergleichlichen, sich gleichsam in der Musik wiegenden feinen Eleganz in Gestus und Körpersprache ohne jeden Hauch eines falschen, aufgesetzt und unauthentisch wirkenden Pathos.
Bachs etwa fünf Minuten Spielzeit in Anspruch nehmendes Werk, aus dem Ersten Teil der als „Das wohltemperierte Klavier“ bekannten Sammlung von Präludien und Fugen, steht dort an 18. Stelle der 24 Satzpaare in allen Dur- und Molltonarten, die chromatisch aufsteigend von C-Dur bis h-Moll angeordnet sind. Das Hauptmotiv des durchmodulierten Präludiums folgt dem Anfang des Liedes „Christ lag in Todesbanden“. Klavieranfänger mögen an der Tonart mit fünf Kreuzen, überwiegend zu spielen auf den schwarzen Tasten, schier verzweifeln. Sie wird überwiegend als „schwer“, „traurig“, „klagend“, „wehleidig“, aber ebenso als „vornehm“ charakterisiert.
Dem einen oder anderen, den Programmablauf eher flüchtig nach geläufigen Namen überblickenden Konzertbesucher mag der zweite, zwischen Johann Sebastian Bach und dem später folgenden Josef Haydn vielleicht etwas „versteckt“ erscheinende Programmtitel nicht sofort aufgefallen sein: das Klavierstück Nr. V von Hans-Peter Müller-Kieling. Der 1947 im westfälischen Gronau geborene, inzwischen emeritierte Professor für Liedkunst an der Musikhochschule Freiburg studierte Komposition und Klavier in Detmold und Freiburg. Sein Klavierstück Nr. V fußt auf seiner Befassung mit dem Dracula-Stoff (vier „Dracula-Lieder“ sowie Filmmusik zu „Nosferatu“ von 1995 nach dem berühmten Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau). Das wiederum etwa fünfminütige Stück vertont die Charakterzüge eines Teufels (Draculas), der sich – wie Maria Sintamarian in ihrer Moderation charmant-augenzwinkernd erzählte – keineswegs nur böse, wütend und launisch, sondern auch melancholisch präsentiert und sich recht einsam fühlt – eine pianistische Herausforderung, die Maria Sintamarian sichtlich lustvoll meisterte.
Dem Ausflug in die zeitgenössische Moderne folgte nun, wie bereits angedeutet, die rund fünfzehnminütige, auch als Divertimento bezeichnete Klaviersonate in As-Dur (Hobogen-Verzeichnis XVI:46) von Josef Haydn. Das Werk in der als heiterklingend empfundenen Tonart As-Dur mit den drei Sätzen Allegro moderato, Adagio und Finale Presto entstand in den späten 1760er Jahren. Sie zählt zu der Reihe von Kompositionen, in denen Haydn mit neuen Formen der Sonate experimentierte und eine neue empfindsame musikalische Sprache gesteigerter Sensibilität entwickelte. Vielfach wird die XVI:46 zu seinen schönsten Klavierkompositionen gerechnet, insbesondere das feinsinnige wie poetische Adagio mit dem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Sprung vom As-Dur des Kopfsatzes mit seinem besonderen rhythmischen und strukturelle Reichtum in ein Des-Dur. Virtuos dann das rund zweiminütige Finale Presto mit seinen perlenden Sechzehntelfolgen. Und wieder überzeugte Maria Sintamarian mit ihrem feinsinnigen, verinnerlichten wie ebenso spannungsreichen, klar akzentuierenden, ja den Eindruck souveräner Mühelosigkeit erzeugenden, faszinierenden Spiel.
Dass Konzert-Gastgeberin Viviane Goergen Recht hatte mit der Bewertung der Programmfolge als ungemein anspruchsvoll, bestätigte sich in der folgenden Vorstellung und anschließenden Interpretation der Klaviersonate Op. 1 h-Moll von Alban Berg von 1909/1910. Das einsätzige, etwa 13 Minuten Spielzeit erfordernde chromatisch-tonale, hohe Anforderungen an einen Pianisten stellende Werk wird vielfach der Spätromantik zugerechnet, greift jedoch weit darüber hinaus in die Moderne, folgt aber im Grunde der bekannten klassischen Form einer Sonate aus Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. Berg – wie Anton Webern ein Schüler Arnold Schönbergs, die drei gelten als die Haupt-Protagonisten der Neuen bzw. Zweiten Wiener Schule – entwickelt die gesamte Komposition aus einem nur wenige Töne umfassenden Ausgangsmaterial, wobei unter stetiger Verwandlung des Motivs sozusagen eine jeweilige Entwicklungsstufe im Sinne eines ständigen sich Entfaltens die Grundlage für die nächstfolgende bildet.
Den spieltechnisch virtuosen Höhepunkt des Konzerts bildete Franz Liszts „Étude d’exécution transcendente Nr. 4“ in d-Moll – die berühmte „Mazeppa“. Die insgesamt zwölf Etuden, die zu den maximalen Herausforderungen für die großen Pianisten dieser Welt zählen, vor allem eben jene vierte, hielten Liszts pianistische Zeitgenossen der Überlieferung nach resignierend für „unspielbar“. Der Salonlöwe Liszt, europaweit als Star des Klaviers gefeiert, dem die Damen seiner Zeit zu Füßen lagen, hatte so gewissermaßen das Reich für sich.
Mit dem ihr eigenen Charme und Humor führte Maria Sintamarian in das Werk ein: Iwan Masepa (Mazeppa) – die historische Figur lebte von 1639 bis 1709 – wurde wegen eines Verhältnisses zu einer Magnatengattin auf den Rücken seines Pferdes geschnallt, das nach einem Peitschenknall durch die Steppe rast, damit er an Auszehrung und Erschöpfung sterbe. Der weiteren, vielfach literarisch verarbeiteten Überlieferung nach stirbt das Pferd, Mazeppa aber wird nach einer wundersamen Vision gerettet und später zum Herrscher der Kosaken gewählt.
Die hier auf eine Dichtung von Victor Hugo wie auf eine frühere Techniketüde zurückgehende (später von Liszt für Orchester bearbeitete) – im wilden Ritt hochvirtuose, in der Vision poetische und in der finalen Rettung fast schon heiter schwingende – Tondichtung lässt sich verbal kaum beschreiben, man muss sie hören. Nicht minder wild als Mazeppas Ritt über die Steppe war Maria Sintamarians furioser Ritt über nahezu alle 88 Tasten des Flügels. Sie bewies es: das als Anspruchsvollstes Geltende zu beherrschen, was die Klavierliteratur zu bieten hat. Was folgte, war rauschender, begeisterter Applaus.
George Enescu (1881-1955) am Klavier, 1930, Foto: E. Joaillier, Paris, Bibliothèque nationale de France/wikimedia commons
Zum Abschluß des Konzerts brachte Maria Sintamarian die knapp halbstündige Suite Nr. 2 Op. 10 in D-Dur von George Enescu (1881-1955) zu Gehör, als eine Hommage sicherlich auch an den bedeutendsten rumänischen Komponisten und ihren rumänischen Landsmann. Wer könnte berufener sein als sie, dieses in Deutschland – bedauerlicherweise – immer noch wenig bekannte Musikstück mit solchem Einfühlungsvermögen und solcher Leidenschaft aufzuführen! Obwohl Enescu die vier Sätze seiner zwischen 1901 und 1903 komponierten, auch „Des cloches sonores“ benannten, dem Neoklassizismus zuzurechnenden Suite mit den Bezeichnungen Toccata, Sarabande, Pavane und Bourrée überschrieb, lösen sich diese von entsprechenden historischen Vorbildern, wobei Anklänge an rumänische Folklore dem Klavierstück seine eigene, spezifische musikalische Farbe geben. Ein großartiges Werk, für manche der Konzertbesucher sicherlich eine willkommene Entdeckung.
George Enescu, 1881 in Liveni Vîrnav geboren, spielte bereits im Alter von vier Jahren Violine und komponierte als Fünfjähriger sein erstes Stück. In Wien und Paris studierte er Violine und Komposition, gründete später ein Klaviertrio und ein Sinfonieorchester, arbeitete an musikwissenschaftlichen Studien und erwarb sich einen Ruf als Dirigent. Nach einer Konzertreise in die Vereinigten Staaten nach Kriegsende kehrte er aus Protest gegen die kommunistische Regierung nicht mehr nach Rumänien zurück.
Maria Sintamarian bedankte und verabschiedete sich nach anhaltendem stürmischem Applaus des Auditoriums mit einem Tango „Murga del Amanecer“ des argentinischen Pianisten und Komponisten Pablo Ziegler.
Maria Sintamarian anläßlich des Hauskonzerts von Viviane Goergen
Maria Sintamarian, 1992 in Cluj-Napoca/Rumänien geboren, lebt seit 2011 in Deutschland. Im Alter von sieben Jahren begann sie ihre Klavierausbildung am Sigismund Toduta Musikgymnasium in Cluj-Napoca, wo bis zu ihrem Abitur von Professorin Monica Noveanu unterrichtet wurde. 2011 nahm sie ihr Studium an der Hochschule für Musik Freiburg auf, zunächst im Bachelor-Studiengang bei Andreas Immer und, nach Abschluss mit Höchstpunktzahl, seit 2016 im Masterstudiengang bei Christoph Sischka. Parallel studiert sie in einem zweiten Master-Studiengang Musiktheorie bei Hans Fuhlbom.
Als Pianistin konnte Maria Sintamarian bei verschiedenen Wettbewerben Aufsehen mit dem Gewinn Erster Preise erregen: Nationalwettbewerb für Interpretation, Bistrita (2010), G. Georgescu Internationaler Wettbewerb für Instrumentalinterpretation, Tulcea (2009), Pro Piano-Romania Internationaler Klavierwettbewerb, Bukarest (2008). 2017 wurde sie beim Internationalen Klavierwettbewerb Nuova Coppa Pianisti in Osimo/Italien mit dem Premio Grete Sultan für die beste Interpretation eines zeitgenössischen Werkes ausgezeichnet, und beim Internationalen Musikwettbewerb Premio Vittoria Caffa Righetti in Cortemilia/Italien gewann sie im Herbst 2017 den 1. Preis ex aequo in der Sparte Klavier. Im Herbst 2018 gewann Maria Sintamarian beim Euterpe International Piano Competition in Bari/Italien den 2. Preis ex-aequo sowie den J.S. Bach Preis. Der erste Preis wurde nicht vergeben.
Maria Sintamarian hat an mehreren internationalen Meisterkursen teilgenommen, unter anderem bei Bernd Goetzke, Georg Steinschaden, Robert Levin, Andrei Deleanu, Roglit Ishay und Gerard Willems. Wichtige künstlerische Impulse erhält sie durch die intensive Zusammenarbeit mit dem Freiburger Dozenten für Gehörbildung Jörg Scheele und dem Komponisten Hans Peter Müller-Kieling.
Im Jahr 2013 wurde sie mit einem Stipendium der Helene-Rosenberg-Stiftung (Freiburg) ausgezeichnet, und von 2016 bis 2018 wurde sie von der Adelhausenstiftung Freiburg i. Br. gefördert. Neben ihrem Studium unterrichtet sie seit 2012 Kinder und Erwachsene und ist seit dem Wintersemester 2014/2015 Tutorin für Harmonielehre und Gehörbildung sowie Klavier an der Hochschule für Musik Freiburg.
Was wünschen wir uns nach Maria Sintamarians faszinierendem Auftritt jetzt in Frankfurt am Main mehr als eine baldige Wiederbegegnung mit dieser ebenso sympathischen wie hochbegabten Klaviervirtuosin?
Fotos (soweit nicht anders angegeben): Erhard Metz
→ Musikalische Matinee in der Goethe Universität mit der rumänischen Pianistin Maria Sintamarian
→ Musikalische Matinee mit Alexander Koryakin im Gästehaus der Frankfurter Goethe-Universität
→ Der junge russische Pianist Alexander Koryakin im Hauskonzert von Viviane Goergen
→ Pianistin Maki Wiederkehr zu Gast im Hauskonzert von Viviane Goergen
→ Pianist Xi Zhai im Hauskonzert von Viviane Goergen
→ Pianistin Patricia Hase zu Gast im Hauskonzert von Viviane Goergen
→ Pianist Jean Muller im Hauskonzert von Viviane Goergen und in der Alten Oper Frankfurt
→ Viviane Goergen spielt Werke von Lyonel Feininger und Kurt Dietmar Richter
→ Viviane Goergen spielt Werke früher Komponistinnen: Marguerite Roesgen-Champion, Mélanie Bonis, Germaine Tailleferre, Marie Jaëll, Vítezslava Kaprálová, Otilie Suková-Dvořákova