„Antanas Sutkus. Fotografien“ in den Rüsselsheimer Opelvillen
Emphatische Abbilder des schlichten Alltags und visionäre Fotografien – so „als ob die Vorahnung einer Flutwelle in der Luft hängt“
Bekannt wurde er bei uns zunächst mit seinen Aufnahmen von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Heute zählt der 1939 in Kluoniškiai, Kaunas, Litauen, geborene Antanas Sutkus zu den großen humanistischen Fotografen der Welt, denn es sind fast ausschließlich Menschen, die ihn als Motiv interessieren. Geduldig beschäftigt er sich mit denjenigen, denen er begegnet und die er völlig unverstellt in die Kamera blicken lässt. Eine sehenswerte Ausstellung in den Rüsselsheimer Opelvillen zeugt davon.
Von Petra Kammann
Ausstellungsflyer; Foto: Petra Kammann
Gidon Kremer, der virtuose Geiger und Leiter der Kremerata Baltica, eröffnete im vergangenen Jahr in der Kronberger Johanniskirche das 25-jährige Bestehen der Kronberg Academy nicht nur mit einem Solo-Konzert der „Preludes to a lost time“ des sowjetischen Komponisten polnisch-jüdischer Herkunft Mieczysław Weinberg, sondern auch mit der Projektion ausdrucksstarker Fotos des litauischen Fotokünstlers Antanas Sutkus. So wurde ich erstmals auf den Fotografen aufmerksam.
Kremer war nämlich der Überzeugung, dass der Musiker und der Fotograf, die einander gar nicht kannten, eine gemeinsame künstlerische Sprache verband. Das Leben mit allen Höhen und Tiefen finde sich laut Kremer nicht nur als Leitmotiv in der Musik, sondern eben auch in den besonderen Fotografien von Sutkus, den er zur Vorbereitung des Konzerts in Vilnius getroffen hatte. Beide Persönlichkeiten hätten auf die bedrängende utopische Ideologie einer sowjetischen „verlorenen Zeit“ der 60er Jahre reagiert – mit ihrem spezifischen Medium und auf ihre jeweilige künstlerische Weise, so Kremer.
Litauen war in dieser Zeit Teil der UdSSR. Die komplizierte gemeinsame Geschichte mit den Russen empfanden damals aber nicht nur der Musiker und der Fotograf als fremdbestimmt. Viele der Landsleute sprachen zwar nicht darüber, sondern brachten unterschwellig ihre mit der Unterdrückung verbundene Bedrücktheit zum Ausdruck, wenn auch nur in ihrer Körperhaltung oder durch schlichte Gesten. Das entging natürlich dem so scharfen wie anteilnehmenden Blick des Fotografen nicht, was er in seinen Bildern auch dokumentierte. Und obwohl es keine direkte Verbindung zwischen den beiden Künstlern gab, müssen sie ähnliche Lebenserfahrung während der Sowjet-Periode in den 60er Jahren geteilt und daher entsprechend reflektiert haben.
Blick in den Film-Vorführraum mit einem Film von Foto-TV in den Rüsselsheimer Opelvillen, in dem Sutkus u.a. die Begegnung mit Sartre kommentiert, Foto: Petra Kammann
Beim Kronberger Konzert war mir aber noch nicht bewusst, dass Sutkus auch Urheber des ungewöhnlichen Fotos vom französischen Philosophen Jean-Paul Sartre war, auf dem dieser in geradezu existenzialistischer Manier durch die weiße Leere des Sandes gegen den Wind anstürmt. Durch diese 1965 in Nida entstandene Aufnahme von Jean-Paul Sartre wurde Sutkus über Nacht bekannt. Auch mir war diese Ikone vertraut, vor allem aber wegen der Covergestaltung einiger Bücher über Sartre.
Dieses Foto hat wohl so sehr Geschichte geschrieben, dass inzwischen sogar eine bronzene Nachbildung an der Stelle der Kurischen Nehrung aufgestellt wurde, wo die Aufnahme entstand. Sie soll an Sartres Visite mit der Schriftstellerin Simone de Beauvoir erinnern. Roseline Granet nahm das Foto zum Vorbild für ihre Statue vor der Nationalbibliothek in Paris.
Das französische Buch über den 5-tägigen Litauen-Aufenthalt Sartres und de Beauvoirs erschien in den Editions Le Bord de l’Eau, die deutsche Biographie Sartres erschien bei Rowohlt
Natürlich ist dem Kapitel der Reise Sartres nach Litauen in der Rüsselsheimer Ausstellung auch ein ganzer Raum gewidmet. Denn Sutkus hat 1965 den Philosophen bereits am Flughafen in Empfang genommen und über die Tage fotografisch begleitet. Das war insofern ungewöhnlich, als Sartre sich eigentlich nur von Henri Cartier-Bresson fotografieren lassen wollte. Aber da Sutkus den Fehlsichtigen nicht zwang, direkt in die Kamera zu schauen und sich mit ihm unterhielt, fühlte Sartre sich entspannt. Die in dieser Zeit entstandenen Fotografien von Sutkus, auf denen Sartre äußerst gelöst wirkt, wurden später zu den bekanntesten Portraits des französischen Intellektuellen, der Sutkus zunächst für einen unbekannten Dichter gehalten hatte, den er mäßig ernst nahm.
In der Ausstellung entdeckt man den Alltag der Menschen in Litauen; Foto: Petra Kammann
Welche Überraschung nun, in den Rüsselsheimer Opel-Villen nicht nur diesen Zyklus, sondern auch viele andere der eindringlichen Bilder des humanistischen litauischen Fotografen zu entdecken! Anrührende Szenen des sowjetischen Alltags, Bilder und Vorahnungen, die zur Entstehungszeit unvorstellbar waren wie das bewegt-bewegende Bild von der brandenden Ostsee, wo eine Mutter auf einer Holzbank sitzend ihr Kind festhält und sich gegen den Wind stemmt, weil die Flut auf sie zukommt, so „als ob die Vorahnung einer Flutwelle in der Luft hängt“ (Sutkus), und das bereits dezent den großen Umbruch andeutet, der Jahre später erst kommen sollte. Viele solcher Bilder hatte Sutkus bei sich privat über die Jahre in Schachteln gut gehütet.
So wurden erst kürzlich in den um die 700.000 Negative umfassenden Fotoarchiven seine neuen alten Werke wiederentdeckt wie Sutkus‘ Foto vom „Pionier“ aus dem Jahr 1964, das mir als Motiv plötzlich ähnlich vertraut vorkam wie Sartres Ikone von 1965, oder der 1991 von ihm fotografierte Denkmalsturz, sein ganz individueller Abschied vom Lenin-Denkmal mit dem entlarvenden Titel „Abschiedsparty Kameraden!“. Sutkus hatte das Motiv des am Haken baumelnden und wegschwebenden Lenin, dessen Stiefel auf dem Denkmalsockel leer zurückblieben, in der Nähe des KGB-Gebäudes so fotografiert, dass man die Geschichte der stehengebliebenen Stiefel weiterspinnen kann. Er hatte die Szene am 23. August 1991 nach dem Moskauputsch in Vilnius aufgenommen.
Sutkus hatte aber schon in den 1950er Jahren begonnen, die Menschen seines Heimatlandes Litauen – die damals besetzte Teilrepublik der Sowjetunion – zu fotografieren: kompromisslos, ungeschönt, direkt und auch emotional, mit einer sichtbaren anteilnehmenden Menschlichkeit. Da fotografierte er die Mühen der Arbeit wie zum Beispiel die Szene im Torfabbau-Kombinat, wo seine Mutter tätig war, oder den tristen und ärmlichen Sonntag in einer Arbeiter-Siedlung.
Anrührend später dann die Fotos von Kindern, wo zum Beispiel ein kleines Mädchen schutzsuchend die Hand der Mutter ergreift oder ein Junge sich dabei fest an den Arm des Vaters klammert, während sein Blick mutig und gerade neben dem Ärmel des Vaters herausschaut. Dann Szenen, wo eingeschüchterte Kinder für einen Platz in der Kunst- oder Ballettschule vorsprechen müssen. Wirken die Gesichter der Arbeiter und Arbeiterinnen nach der harten Schicht für den Aufbau des Kommunismus entleert, so sieht man vor allem den alten Leuten besonders die trostlose Armut an.
Und doch war jeder, den Sutkus fotografierte, für ihn etwas Besonderes, gleich ob alt oder jung, schön oder verbraucht, attraktiv oder schmutzig und müde. Denn trotz aller Tristesse stellt Sutkus immer auch die Würde und das Wesen dieser Menschen heraus. Und an seinen Fotos kann man förmlich die Alltagsgeschichte des Volkes in der Sowjetunion ablesen, fotografiert er doch ebenso direkt wie einfühlsam die Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen bei der Arbeit, in ihrer Freizeit oder auf der Straße. Immer wirft er ein besonderes Licht auf sie.
Natürlich blieb sein kühnes Unterfangen, solche Eindrücke im „kalten Krieg“ und unter sowjetischer Herrschaft ganz real zu dokumentieren, von der Obrigkeit nicht unbemerkt. Schließlich entsprachen seine Bilder von den Menschen und ihren bescheidenen Freuden, die sie trotz der Widrigkeiten des Lebens erfahren haben, eben nicht dem sowjetischen Ideal vom strahlenden Menschen. Und erst recht waren sie keine gelungene Propaganda für die „glücklichen Lebensumstände im Baltikum“.
Blick in die Ausstellung: Der Alltag der Dargestellten lässt auch die Besucher nicht kalt. Sie schauen konzentriert hin; Foto: Petra Kammann
Stattdessen sieht man auf den Fotos oft Menschen mit desillusionierten Gesichtern, trostlosen Straßen, hässlichen Gebäudekomplexen in Plattenbausiedlungen. Die Bilder zeigen die Menschen so, wie sie wirklich sind oder waren. Dass es sich dabei um Schwarz-weiß-Fotografien handelt, unterstreicht nur die Tristesse. Und vom Westen aus betrachtet, erscheinen die Fotos wie Bilder aus einer ganz anderen und sehr fernen Welt.
Aber sie unterstreichen auch die Innigkeit einzelner Menschen zueinander, sie sind schön, wunderbar beleuchtet, bestens komponiert und wirklich sehenswert. Sutkus ist ein großer Könner, denn jedes Bild ist gleichsam auch eine Komposition aus Licht und Schatten. Er zeigt interessante, faszinierend fremde und schöne Gesichter, selbst die der KZ-Überlebenden, in deren Gesichter man im Film schaut. Und er lenkt den Blick auf scheinbare Nebensächlichkeiten, Kleidung und Lebenswelten. Seine beseelte Fotografie öffnet Blicke in eine Welt, die es so nicht mehr gibt und die es bei uns im Westen in dieser Ästhetik vielleicht so auch nie gegeben hat, einige der Fotos sind allenfalls mit den frühen Arbeiten von Barbara Klemm zu vergleichen.
In den 1950er Jahren hatte Sutkus begonnen, die Menschen seines Landes zu fotografieren. Jahrzehnte lang hat er an seinem nie abgeschlossenen Zyklus: Menschen aus Litauen gearbeitet. Sein Ziel dabei war und ist es, die wertvollen Augenblicke festzuhalten, die sich im Anblick von Natur und Menschen bieten. Die Grenzen zwischen „informativer“ und „künstlerischer“ Fotografie sind dabei fließend. Nie war es allein die pure Dokumentation, die ihn faszinierte, sondern das innere Wesen der Menschen mit all ihrer Freude, Einsamkeit, ihrem Leid und Mitgefühl. Kindern, Jugendlichen und dem „durchschnittlichen“ Menschen galt sein Augenmerk. Heute lesen sich seine Arbeiten wie eine Art fotografischer Rechenschaftsbericht über eine bestimmte soziale, politische Epoche.
Blick in den Teil der Ausstellung: Etliche Fotos sind dem Besuchs Jean-Paul Sartre gewidmet, auch in den Dokumenten in den Schaukästen; Foto: Petra Kammann
Manche der ausgestellten Szenen erschließen sich zusätzlich auch noch durch begleitende Filme auf den beiden Ausstellungsebenen, die auf Foto Tv zu sehen sind und die Interviews mit dem Fotografen zeigen. Im ersten Teil erzählt Sukus, Sohn einer Bäuerin und eines Vaters, der Mechaniker war, von seiner Entwicklung, von seiner Kindheit und seinen Jugendjahren, wo Antanas Sutkus schon mit sechs an Tuberkulose erkrankt war, aber er berichtet auch, dass er in dieser Zeit mit Hilfe der Literatur eine humanistische Bildung erlangte, die sich letztendlich auch in seinen Werken widerspiegelt.
Sein Vater hatte sich zu Beginn des Krieges am Tag der Oktober-Revolution erschossen, „weil er sich mit den Machthabern nicht verstand“, woraufhin sich seine Mutter verstecken musste. Als sie daraufhin einen Offizier des unabhängigen Litauens heiratete, kamen die Russen erneut, weswegen seine Mutter sich abermals verstecken musste. Seither ging sie einer schweren körperlichen Arbeit nach, sah ihren Sohn nur selten, während dieser bis zum Alter von 16 Jahren glücklich und zufrieden bei den Großeltern aufwuchs, wo er grenzenlos geliebt wurde, nur manchmal „ein wenig Hunger“ verspürte.
Seine erste Kamera hatte Sutkus sich bereits mit 14 gekauft. Eigentlich hatte er damals auf ein Fahrrad gespart, aber das Geld, das er beim Torfstechen mit der Mutter verdiente, reichte dafür nicht. Später war er verzaubert durch Begriffe wie Methol, Hydrochemol und Fixierung, was ihn zur Fotografie führte. Er war nicht nur von den Begriffen fasziniert, sondern auch vom Entwicklungsvorgang, dass man ein weißes belichtetes Blatt in ein Bad taucht, auf dem nach und nach Gesichter vervortreten und auf dem sich dann menschliche Porträts offenbaren.
Nach seinem Journalistikstudium an der Universität Vilnius entfernte sich Sutkus, desillusioniert vom sowjetischen System, der Propaganda wie von der heimischen Bürokratie, welche auch die Kunst maßregelte, somit von der offiziellen Wiedergabe der Lebensumstände im Baltikum und begann dann nur noch an seinem Zyklus „Menschen in Litauen“ zu arbeiten, einer direkten wie einfühlsamen Dokumentation des Lebens in seiner Heimat. Daneben begeisterte ihn immer wieder die baltische Meereslandschaft. Bemerkenswert daher ebenso seine kühnen Lichtkompositionen am Meer oder von Landschaften, die er häufig aus der Vogelperspektive wahrnimmt.
In der ersten Etage geht die Ausstellung weiter, Foto: Uwe Kammann
Im zweiten Teil des Interviews berichtet Antanas Sutkus von den Schwierigkeiten seines Schaffens in der Sowjetunion, in einer Zeit, als Abbildungen der Wirklichkeit oftmals lieber ungesehen bleiben sollten. Dabei öffnet er in dem Interview seine Schatzkisten, aus denen er einige der unliebsamen Motive hervorholt, die in den 60er, 70er und 80er Jahren entstanden und die er über die Jahre nur privat für sich gemacht hat.
Er zeigt einige dieser neuen alten Werke, wie das Motiv des Springbrunnens vor der Plattenbausiedlung, in der er lebte oder das Foto des Pioniers, welches zwar damals schon in einem Moskauer Fotomagazin veröffentlicht worden war, aber unmittelbar einen Skandal ausgelöst hat, weil der Blick des fast kahlköpfigen Pioniers nicht gerade Optimismus verströmte. Das brachte dem litauischen Fotojournalisten den Ruf ein, der „Solschenizyn der Fotografie“ zu sein.
Dadurch hatte Antanas Sutkus eine Vorstellung von dem bekommen, was erlaubt war und was nicht. Er kommentierte andere Motiv wie die ängstlichen Dorfkinder an einer Hundehütte mit dem surreal wirkenden Hund in der unteren Ecke des Bildes, auch Szenen aus Bulgarien, wo Frauen wie vor hundert Jahren strickend vor der Haustür sitzen und ratschen, während die Männer mit ihren Kannen losziehen, um Wein zu kaufen.
Elend und trist wirkt der Bahnhof von Vilnius, wo vor allem Frauen in Kopftüchern auf harten Holzbänken warten, um mit ihrem in der Stadt gekauften Brot wieder zurück in ihre Dörfer zu fahren, zwischendurch die fröhlich hüpfende eigene Tochter, dann die ängstlich in Unterwäsche bibbernden und wartenden Dorfmädchen, die darauf hoffen, in die Ballettschule aufgenommen zu werden. Das noch im Jahr 1964, wo bei uns schon längst die hedonistische farbige Popart präsent war und die junge Aufmüpfigkeit anstachelte.
Trotzdem wollte Sutkus nach der Wende nicht mehr fotografieren. Er hätte Menschen, die sich nun wie die litauischen Biker-Rocker dem neuen westlichen System angepasst hatten, denunzieren müssen, was er nicht wollte, weil er sie nicht mehr authentisch fand. Außerdem, so sagte er im Interview, habe er in seinem Alter die für die Arbeit notwendige Liebe nicht mehr, weshalb er sich daher lieber an die Archivaufarbeitung gemacht hat.
Antanas Sutkus hatte 1969 zusammen mit anderen litauischen Fotografen die „Litauische Gesellschaft für Fotografie“ begründet. Ab 1996 stand er ihr vor und wurde 2009 zu ihrem Ehrenpräsidenten gewählt. Inzwischen wurde er auch mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Erich Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. Seine Bilder sind heute Teil von großen Museumssammlungen in Paris, New York, London und Stockholm. Zu Recht. Wir könnten uns heute kaum mehr einen solchen Alltag in Ländern wie Litauen vorstellen. Aber vor allem hat Sutkus uns mit seinen eindringlichen Blick für die Liebe zu seinen Menschen geöffnet.
Die Ausstellung „Antanas Sutkus. Fotografien“ ist noch bis zum 28. April 2019 in den Opelvillen in Rüsselsheim zu sehen.
Die an die 100 Silbergelatine-Vintage-Prints hat Beate Kemfert zusammen mit dem Berliner Galeristen Norbert Bunge aus verschiedenen Privatsammlungen zusammengetragen. Außerdem sind auch zwei etwa 20minütige Filme zu sehen, in denen der Fotograf über seine Kindheit und seine Arbeitsweise berichtet.
Weitere Informationen unter: www.opelvillen.de