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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Ausstellung „Moderne am Main 1919–1933“ im Museum Angewandte Kunst

Frankfurt zwischen 1925 und 1932: Bauhausparallele, Großstadtutopie und vernetzte Moderne

Anlässlich des 100jährigen Bauhaus-Jubiläums hat inzwischen die erste von drei Ausstellungen zum Neuen Frankfurt begonnen. Das Museum Angewandte Kunst zeigt die „Moderne am Main“ mit Möbeln, Schriften, Mode, Musik, Film und Fotografie. Und sie visualisiert auch das riesige Netzwerk der Menschen, die an der Neugestaltung Frankfurts beteiligt waren.

Von Petra Kammann

Hereinspaziert in die „Moderne am Main“, Foto: Petra Kammann 

Wer sich je mit dem „Neuen Frankfurt“ beschäftigt hat, denkt wohl zunächst an den legendären Stadtbaurat Ernst May (1886-1970), der, initiiert von Oberbürgermeister Ludwig Landmann, innerhalb von fünf Jahren kürzester Zeit 12.000 günstige Wohnungen bzw. Siedlungsbauten mit moderndem Komfort an den verschiedensten Stellen in Frankfurt geschaffen hat  – vom Reihenhaus bis zur „Wohnung für das Existenzminimum“ –  hinterlassen hat, die sich heute noch sehen lassen können, gleich ob in der Römerstadt, am Bornheimer Hang oder in „Zickzackhausen“. Oder man hat die grandiose Großmarkthalle von Martin Elsaesser(1884 – 1957) aus dem Jahr 1928 vor Augen, in die heute die der Turm der EZB integriert ist. Frankfurt war in den Zwanziger Jahren eine Hochburg der Moderne der Weimarer Republik.

In der Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ schrieben u.a. Vertreter der puristischen Moderne wie Marcel Breuer, Walter Gropius, El Lissitzky, Mart Stam, Le Corbusier, Frank Lloyd Wright, Joseph Frank, Oskar Schlemmer, Johannes Itten oder Adolf Loos, Foto: Petra Kammann

Mit der Firmierung „Neues Frankfurt“ hat sich die Stadt mit Hilfe von Ernst May zum „Archetyp der modernen Großstadt“ entwickelt, der weit über die Stadtgrenzen ausstrahlte und diskutiert wurde. Das wurde ergänzt durch ein „beispielloses Programm baulicher und kultureller Erneuerung“, das zwischen 1926 und 1933 mithilfe von 17 Ausgaben der Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ publizistisch begleitet wurde, worin man u.a. Beiträge von Bauhaus-Akteuren wie Walter Gropius und Marcel Breuer nachlesen konnte. Aber die Moderne erschöpft sich nicht allein in der Architektur und im Wohnungsbau…

Wie aus einem vorgegebenen Grundriss eine praktische Küche entsteht, Foto: Petra Kammann 

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und mit dem Beginn der Weimarer Republik hatte sich der komplette Alltag drastisch verändert. Sämtliche Lebensbereiche der Menschen waren von der zunehmenden Industrialisierung tangiert. Und die mussten neu gestaltet werden, schnörkellos, sachlich und effizient. Neue industrielle Produkte wie Autos, Telefone, Radios, Werbeplakate, Zeitschriften und Schriften, das Mobiliar der Wohnungen, die Mode für die berufstätige und die elegante moderne Frau entstanden, sie alle sollten einen eigenen Charakter bekommen und doch auch seriell eingesetzbar sein. Aber auch die Kunst, das junge Medium Film, der Rundfunk und die elektronische Musik entwickelten sich – all diese verschiedenen Elemente sollten in wenigen Jahren in Frankfurt im Sinne eines neuen Großstadtmenschen neu bedacht und gestaltet werden, ästhetisch innovativ und sozial.

Ein Exemplar der legendären „Frankfurter Küche“ von Margarete Schütte-Lihotzky hat nun Eingang in die Dauerausstellung Elementarteile des Museum  gefunden, Foto: Petra Kammann 

Das urbane Leben brachte somit einen umfassenden ästhetischen Wandel mit sich. Das wurde nicht nur am Bauhaus, das gerade in Weimar, Dessau und Berlin sein hundertjähriges Jubiläum feiert, gesehen, da hat auch das „Neue Frankfurt“ eine große Pionierarbeit geleistet, wo zum Beispiel die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) den Urtyp der standardisierten hochmodernen Einbauküche, die sogenannte Frankfurter Küche entwickelte, die wegen ihrer Effizienz sogar heute noch für so manche Einbauküche Pate steht. Damals wurden von der Frankfurter Küche mehr als 10.000 Exemplare für fast alle Siedlungsbauten in verschiedenen Varianten eingebaut, die alle kaum größer als 7 qm sind. Sie gehörten zur Bauausstattung, deren Kosten auf die Miete umgelegt wurde.

Dann verlangte die Elektrifizierung der Städte nach neuen Leuchtmitteln und Lampen. So wurde etwa der Bauhaus-Schüler Christian Denn nach Frankfurt geholt, der von 1926 bis 1933 dann als Leiter der Metallwerkstatt am Design für industriell hergestellte Leuchten an der Frankfurter Kunstschule arbeitete und u.a. 1933 für die Firma Gebrüder Kaiser & Co in Neheim-Hüsten den Klassiker unter den Tischlampen entwickelte, die Lampe „Idell“.

Beleuchtungskörper-Typen des Neuen Frankfurt und Lampen von Bauhaus-Schüler Christian Dell, Foto: Petra Kammann 

Sinnvoll erscheint daher der Ansatz, anlässlich des Bauhaus-Jubiläums 2019  und des breiten Spektrums der „Frankfurter Moderne“ gleich drei verschiedene Museumsorte in der Mainmetropole mit verschiedenen Ansätzen zu bespielen: das Museum Angewandte Kunst, das Deutsche Architekturmuseum und das Historische Museum Frankfurt  sowie das neugegründete „Forum Neues Frankfurt„.  Das Museum Angewandte Kunst hat dazu, noch bevor das Baujahrsjahr offiziell eingeleitet wurde, eindrucksvoll den Aufschlag gemacht, und das mit einer unglaublichen Fülle von Anschauungsmaterial, das häufig von privaten Sammlern zur Verfügung gestellt wurde. In Frankfurt trifft man nämlich auf eine Vielzahl von Objekten, die in großer Stückzahl hergestellt und tagtäglich benutzt wurden, von der von der Teetasse bis zur Türklinke, vom Stuhl bis zur praktischen Gartenbank, von der Einbauküche bis zur Lampe und auch auf solche mit geringerer Auflage wie der modische Schuh oder das Adler-Luxusgefährt, die dafür aber die Qualität eines stylischen Designobjekts besitzen.

Für die neuen Häuser wurde auch neues Mobiliar entwickelt, darunter Stühle vor allem im Stil der neuen Sachlichkeit von Ferdinand Kramer, vom Architekten Martin Elsaesser, von dem auch der elegante Ausziehtisch stammt. Hier herrschte, Foto: Petra Kammann 

Wie aber kam es dazu, dass gerade in Frankfurt ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Großstadtutopie einen so universalen Anspruch im Mode-, Interieur-, Industrie-, Produkt- und Kommunikationsdesign umfasste? Dafür steht allem voran der so visionäre wie progressiv denkende Oberbürgermeister Ludwig Landmann (1868 – 1945), der schon vor seiner Wahl 1924 zum Oberbürgermeister als Stadtrat von 1917 an ein Erneuerungsprogramm vorangetrieben hatte, das sowohl die Wirtschaft wie auch das Wohnungswesen umfasste und der schon früh ein Netzwerk aufgebaut hatte, das bis in die Kulturkreise hineinreichte.

Als Anhänger eines dezentralen Einheitsstaats, in dem die Großstädte Ausgangspunkt der neuen Reichsgliederung sein sollten, hatte er die Vision eines Groß-Frankfurts, das sich als  Zentrum der Rhein-Main-Region von europäischer Bedeutung entwickeln sollte, was eben auch die Kultur mit einschloss. Und sein erster großer Schritt war daher 1919 die Wiederbelebung der Frankfurter Messe, als Wirtschaftsfaktor, aber auch als Ort der Kultur. Damit beginnt die Ausstellung.

Blick in die Ausstellung: Überall eine Einheit von Entwerfen, Gestalten, in Produktion gehen, Leben, auch im Wohnhaus von Ernst May in der Siedlung Höhenblick, Foto: Petra Kammann  

Anders als in anderen Städten wurden wegen des allumfassenden Gestaltungswillens in Frankfurt etwa die Kunstgewerbeschule und die Städelschule zur „Frankfurter Kunstschule“ vereint. Fritz Wichert (1878 – 1951) wurde 1923 als deren Direktor berufen. Er sollte dort neue künstlerische Kräfte bündeln und an Frankfurt binden. Ähnlich wie beim Bauhaus stand zwar auch für Wichert die Architektur im Mittelpunkt. Doch gehörte für ihn zur Gestaltung des Hoch- und Wohnungsbaus auch die Innenausstattung, Metall- und Textilienkunde, Mode- und Schmuckgestaltung, Gießerei, Werbegrafik und Typografie. Die verschiedenen „Kunstgewerbe“ standen für ihn gleichwertig neben der Malerei, der freien Grafik und Bildhauerei und sollten daher in der Ausbildung an der Kunstschule, zu deren Bau, den Elsaesser konzipiert hatte, es leider nicht mehr kam, berücksichtigt werden.

Wichert suchte außerdem gezielt die Zusammenarbeit mit Industrie, Handwerk und Stadt. 1924 verhandelte er mit dem Bauhaus-Architekten Walter Gropius, dessen Ziel  die Errichtung des „Baus der Zukunft“ als Gesamtkunstwerk war, über eine Fortführung der Weimarer Schule des Bauhauses in Frankfurt, doch war der Direktor des Bauhauses nicht bereit, sich dem Frankfurter Schuldirektor unterzuordnen, so dass stattdessen dann Dessau  als neuer Ort zum Zuge kam.

Auch Gestaltungsbeispiele von Walter Gropius finden sich in der Ausstellung wie Aufnahmen vom Gropius-Adler, Foto: Petra Kammann 

Dennoch war Gropius in Frankfurt aktiv und hat dort durchaus seine Spuren hinterlassen, nicht nur 1930 in einer Ausstellung seiner Zeichnungen, Fotos und  Modelle im Frankfurter Kunstverein. Auch für die Frankfurter Adlerwerke, für die er als Berater und Entwerfer gestalterisch tätig war, entwarf er ebenfalls das neue Firmenlogo sowie den PKW Gropius-Adler. In der Frankfurter Schau ist der eindrucksvoll gestaltete Kühler-Grill aus hochpoliertem Chrom zu bestaunen.

1925 gelingt es Wichert, dessen Motto „lerne, lehre, bilde, wirke“, lautete, den Werkmeister der Metallwerkstatt Christian Dell, als Leiter der Frankfurter Fachklasse zu berufen und Josef Hartwig als Werkstattmeister für die Bildhauerei. Der Bauhäusler Karl Peter Röhl wurde Leiter einer der beiden Vorklassen. 1925/26 kam zudem der innovative Paul Renner aus München als Werbegrafiker und Typograf nach Frankfurt, und der Bildhauer Richard Scheibe stieß zum künstlerischen Netzwerk, während Franz Schuster für die Innenausstattung 1927 eigens aus Wien, einem Zentrum der Moderne, nach Frankfurt kam und 1928 Willi Baumeister als Dozent für Werbegrafik und Typografie aus Stuttgart. Er sollte u.a. auch die Gestaltung der Zeitschrift „Neues Frankfurt“ verantworten.

Als Leiterin der Modeklasse wurde die bis dahin ebenfalls in Wien tätige Margarethe Klimt geholt, die über beste internationale Kontakte verfügte wie etwa zu Coco Chanel oder Sonia Delaunay in Paris. Der weitsichtige Landmann erkannte aber genauso gut den Wert der freien Künste und bot dem seit 1915 in der Stadt lebenden Maler Max Beckmann ein Meisteratelier an. Seine in dieser Zeit entstandenen Bilder vom Eisernen Steg hängen heute im Städel.

Paul Renner entwickelte gemeinsam mit der Bauerschen Schriftgießerei die Schrift FUTURA, die weltweit exportiert wurde, Foto: Petra Kammann  

Damals herrschte am Main eine euphorische Aufbruchsstimmung, ging es doch um ein politisches Projekt für eine neue Gesellschaft. Die sollte eben nicht nur in der Wohnung sichtbar sein, sondern in allen Produkten und auch im öffentlichen Raum. Die städtischen Ämter, die Kunstschule und die Messe arbeiteten intensiv zusammen. Aber auch viele Unternehmen und Handwerker haben sich vom Geist der Moderne anstecken lassen. Anders als an den drei Bauhaus-Orten Weimar, Dessau und Berlin, an denen gedacht, gelehrt und entworfen wurde, zogen in Frankfurt Künstler, Architekten, Designer, Bürger, Politiker und Unternehmer am selben Strang, der da lautete: die neue Stadt muss gestaltet werden. „Wenn das Bauhaus die Akademie der Moderne war, dann war Frankfurt seine Werkstatt“, sagt Matthias WagnerK, der Direktor des Frankfurter Museums Angewandte Kunst, der neben dem Designspezialisten Prof. Klaus Klemm, der stellvertretenden Direktorin Grit Weber und der Kunsthistorikerin Annika Sellmann, als einer der vier Kurator*innen und als Herausgeber des exzellent aufgemachten und sehr informativen Katalogs zeichnet. In Frankfurt sei man weniger daran interessiert gewesen, ikonische Objekte oder Prestigearchitektur wie im Bauhaus zu schaffen, sondern hier habe man praktisch, sozial und progressiv gedacht. Kein Wunder, dass bezeichnenderweise die von Paul Renner neu erfundene schlichte klassische Schrift den Namen „Futura“, also „Zukunft“ trägt!

Auf der Frankfurter Messe wurden die neu gestalteten Produkte präsentiert, Foto: Petra Kammann  

1920 beschließt der Deutsche Werkbund, einen ständigen Ausstellungsort auf dem Frankfurter Messegelände einzurichten. In diesem herrlichen, von Fritz Voggenberger (1884-1924) gestalteten Haus Werkbund mit seiner 65 Meter langen, geometrisch elegant gegliederten Straßenfront, das gleich neben der Festhalle mit der Kuppel lagsollten vorbildliche Produkte aufbewahrt werden. Ein Jammer, dass dieses schöne Gebäude selbst, das 1921 eröffnet wurde, nicht mehr erhalten ist! In ihm wurden über das Messegeschehen hinaus ganzjährig Arbeiten auch von Nichtmitgliedern ausgestellt, wobei in diesem Ambiente exportorientierte Luxusprodukte im Mittelpunkt standen.

Hier richtete auch Lilly Reich, die Berliner Mode- und Ausstellungsgestalterin, zwischen 1924 und 1926 zweimal jährlich Ausstellungen für das Frankfurter Messeamt ein, und hier unterhielt sie ein eigenes Modeatelier. 1926 hatte sie im Hauptbau der Frankfurter Messe die Textilausstellung Von der Faser zum Gewebe konzipiert, mit der sie sich endgültig als prominente Ausstellungsmacherin etablieren konnte. Durch ihre Tätigkeit  lernte Lilly Reich hier übrigens auch Ludwig Mies van der Rohe kennen, dessen spätere Atelierpartnerin sie wurde und den sie vergeblich versuchte, an Frankfurt zu binden.

Einblicke in die Modeklasse der Kunstschule mit der renommierten Modeschöpferin Margarethe Klimt, um 1929, Foto: Petra Kammann 

1926 wurde Hans Leistikow Leiter des grafischen Büros der Stadtverwaltung. Er hat als verantwortlicher ,Gebrauchsgrafiker‘ das Erscheinungsbild Frankfurts entscheidend geprägt – zunächst hat er ein zeitgenössisches Signet für die Bauverwaltung entworfen und sämtliche städtischen Drucksachen auf eine klare grafische Linie gebracht und vereinheitlicht. Außerdem war er an den Farbkonzepten für die Siedlungen beteiligt. Sein konstruktivistischer Adler wurde 1930 zum allgemeinen neuen Stadtlogo, was nun in verwandelter Form vom „Forum Neues Frankfurt“ im vergangenen Jahr wieder aufgegriffen wurde. Auf allen Gebieten gab es damals in der Avantgarde Synergien, sei es in der Architektur, im Design, in der Musik, in den Medien, in der Ökonomie, in der Industrie wie auch in den Geisteswissenschaften.

Grete Leistikow (1892-1962), Treppe zum Bierkeller, ca. 1930, Vintage Print, 8,6 x 11,8 cm, Moderne am Main (1919-1933) © Galerie Berinson, Berlin

So fand im Neuen Frankfurt 1926 ebenfalls die erste große Fotoausstellung, die Deutsche Photographische Ausstellung im Haus der Moden, statt. Befeuert durch die Entwicklung der Leica als Kleinbildkamera mit Rollfilm, wurde auch die Fotografie revolutioniert. Schon bald übten Frauen den Beruf der Fotografin aus wie Elisabeth Haase oder Grete Leistikow, die Schwester von Hans Leistikow, welche zunächst vor allem die neue Architektur aus kühnem Blickwinkel dokumentierte. Herausragend war auch Marta Hoepffner, eine der Schülerinnen von Willi Baumeister, oder auch Ilse Bing, die zunächst höchst raffiniert ihr Spiegelbild mit der Leica als Selbstporträt inszenierte, bald aber auch schon die Weltwirtschaftskrise zu spüren bekam, die sie in entsprechenden Szenen fotografisch dokumentierte und Frankfurt bereits 1930 in Richtung Paris verließ, bevor sie 1940 endgültig nach New York emigrierte.

Ella Bergmann-Michel und der Fotograf Paul Wolff, mit den sie weiterhin in Kontakt stand, nutzen das neue Medium Film, um werbende Darstellungen über die Gestaltungshaltung des Neuen Frankfurt zu produzieren. Im gleichen Jahr fand das Brückenfest mit Oskar Schlemmers Triadischem Ballett statt, wovon ein restaurierter Film im Museum zeugt, und auf dem die Lebendigkeit der Stadt sicht- und greifbar wird. Den Endpunkt der Fotografie-Reihe beschreibt eindrucksvoll ein Foto von Gisèle Freund, Studentin der Soziologie an der Frankfurter Universität bei Karl Mannheim, ein Foto, auf dem sie mit ihrer Leica eine Personengruppe festgehalten hat, die einheitlich den Hitlergruß ausübt. Dieses Foto ist zweifellos eines der Dokumente, das ihr später in der Emigration in Paris als professionelle Grundlage für ihre Tätigkeit als Fotoreporterin für die Publikationen Weekly Illustrative und Life diente.

Experimentieren mit den neuen akustischen Medien, Foto: Petra Kammann 

Vor dem offiziellen Beginn des „Neuen Frankfurt“ entstand 1924 aber noch eine ganz andere weitere wichtige Institution: „Radio Frankfurt“, der dritte deutsche Rundfunksender nach Berlin und Leipzig. Geleitet wurde er vom gerade mal 27-jährigen experimentierfreudigen Gründungsintendanten Hans Flesch. Der lässt darin zum Beispiel in frühen Musiksendungen dasselbe Stück in unterschiedlichen Räumen und mit unterschiedlichen Mikrofonkonstellationen aufführen, weil er die Bedeutung der technischen Apparatur für die Rezeption in der Praxis vorführen möchte. Für das Radio experimentierte er unermüdlich auch mit anderen neuen Musikformaten und arbeitete vor allem mit dem Komponisten Paul Hindemith (1895 – 1963), einem der Hauptvertreter Neuer Musik in Deutschland, zusammen, der wiederum von 1916 bis 1923 als Konzertmeister am Frankfurter Opernhaus agierte.

Dieser wiederum hatte 1922 zusammen mit dem Musiker Reinhold Merten in Frankfurt die Gemeinschaft für Musik als neue Form der Musikpraxis gegründet. Sein Ziel war es, ausschließlich „qualitätvolle“ unbekannte neue und alte Musik zu spielen. Der Rundfunk wiederum arbeitete außerdem mit dem Schauspiel zusammen. Hier entstand 1924 auch das erste Hörspiel von Hans Flesch „Zauberei mit dem Sender“. Durch den russischen Erfinder Lew Sergejewitsch Termin war außerdem die Erzeugung von ätherischen Klängen möglich geworden. Auf dem Sendegerät in der Ausstellung kann man einen akustischen Eindruck davon gewinnen, wie so etwas klingt. Hier können die Besucher selbst das Theremin bespielen, das ohne haptische Berührung Töne erzeugt, indem es die Leitfähigkeit des menschlichen Körpers nutzt, und so die selbst produzierten Klänge erleben.

Hans Leistikow, Plakat zum Konzert von Paul Hindemith bei Musik im Leben der Völker, 1927

Last but not least wird auch dem legendären Frankfurter Institut für Sozialforschung ein Kapitel gewidmet, an dem ab 1930 Max Horkheimer (1895-1953) die wissenschaftliche Ausrichtung mit einem interdisziplinären Forschungsprogramm bestimmte, das später als „Kritische Theorie der Frankfurter Schule“ bekannt wurde und das von Persönlichkeiten wie u.a. Theodor W. Adorno, Friedrich Pollock, Walter Benjamin, Erich Fromm, Siegfried Krakauer, Leo Löwenthal und Ludwig Marcuse geprägt war. Nachdem 1933 damit Schluss war, die Polizei in das Institut einbrach und die Räume versiegelte, wurden die Wissenschaftler ins Exil gezwungen, wo Max Horkheimer, Gretel und Theodor W. Adorno dann in Kalifornien gemeinsam an der „Dialektik der Aufklärung“ arbeiteten. Aber das ist eine andere und ganz eigene Geschichte.

Bleibt die Frage, warum etliche Gestaltungsideen des „Neuen Frankfurt“– anders als die des Bauhauses – in der Nachkriegszeit bei uns nicht wieder aufgegriffen wurden, die Objekte nicht wahrgenommen wurden. Einige der linke Protagonisten wie Ernst May hatten ihr Exil zunächst im Osten statt in den USA gesucht und waren dort vom Regen in die Traufe, nämlich vom Nationalsozialismus in die Diktatur des Stalinismus geraten und mussten Russland wieder verlassen. In der Nachkriegszeit hatten sie im Westen dann auch schlechtere Chancen, an ihren Utopien wie an ihren Erfahrungen anzuknüpfen. Besonders bitter ist die Geschichte des 1933 entlassenen Oberbürgermeisters Ludwig Landmann, der zum Ende des Kriegs 1945 im niederländischen Exil in Den Haag starb… Wie gut, dass das Bauhausjubiläum uns wieder einen neuen Blick auf die Geschichte des hochspannenden „Neuen Frankfurt“ hat werfen lassen, das uns zweifellos noch auch die nächsten Jahre bis 2025 zum Jubiläum des Neuen Frankfurt beschäftigen wird. Dabei sind sicher noch spannende Entdeckungen zu machen, zumal die aktuellen urbanen und sozialen Herausforderungen Parallelen aufweisen!

 

Das Objekt demonstriert die Lage des Neuen Frankfurt nach 1933. Sie sollte wieder entwirrt werden.
Dargestelltes Objekt: Das Neue Frankfurt, Frankfurter Küche, Aluminium, Edelstahl, Digitaldruck 2016, Galerie Parisa Kind Frankfurt am Main,
Foto: Petra Kammann  

Die Ausstellung im Museum Angewandte Kunst geht bis zum 14. April 2019. Sie wird von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen von Bauhaus 100, dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt am Main gefördert.

Der Katalog
Zur Ausstellung
haben die Kurator*innen
Grit Weber,
Annika Sellmann,
Prof. Dr. Klaus Klemp,
Prof. Matthias Wagner K
einen so umfangreichen
wie äußerst lesenswerten Katalog
mit vielen unbekannten Exponaten und
Trouvaillen herausgegeben,
der bei av edition erschienen ist
304 Seiten, broschiert mit Klappen,
350 Abbildungen, 16,5 × 24 cm,
39 Euro.
Erhältlich über
www.avedition.de
oder direkt im Museum Angewandte Kunst

Die ausgestellten Werke stammen von folgenden Architekt*innen, Grafiker*innen, Gestalter*innen und Künstler*innen

Philipp Albinus (1884–1957), Nadine Auth (*1988), Willi Baumeister (1889–1955), Ella Bergmann-Michel (1895–1971), Ilse Bing (1899–1990, Max Bittrof (1890–1972), Anton Brenner (1896–1957), Max Bromme (1878–1974), Johannes Cissarz (1873–1942), Hermann Collischonn (1865–1945), Franz Delavilla (1884–1967), Christan Dell (1893–1974), Walter Dexel (1890–1973), Martin Elsaesser (1884–1957), Werner Epstein (1903–1987), Hans Flesch (1896–1945), Oskar Fischinger (1900-1967), Gisèle Freund (1908–2000), Laura J Gerlach (*1980), Albert Fuß (1889–1969), Walter Gropius (1883–1969), Erika Habermann (1903–1993), Josef Hartwig (1880–1955), Elisabeth Hase (1905–1991), Ninni Hess (1882-1942), Carry Hess (1889–1957), Lucy Hillebrand (1906–1997), Paul Hindemith (1895–1963), Marta Hoepffner (1912–2000), Margarethe Klimt (1892–1987), Rudolf Koch (1876–1934), Ferdinand Kramer (1898–1985), Grete Leistikow (1893–1989), Hans Leistikow (1892–1962), Richard Lisker (1884–1955), Ernst May (1886–1970), Olav Metzel (*1952), Adolf Meyer (1881 –1929), Robert Michel (1897–1983), Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969), Leberecht Migge (1881–1935), Liselotte Müller (1906–1990), László Moholy-Nagy (1895-1946), Peter Rasmussen (1897–1935), Lilly Reich (1885–1947), Paul Renner (1878–1956), Karl Röhl (1890–1975), Richard Schadwell (Daten unbekannt), Caspar Schirdewahn (1988), Ernst Schoen (1894–1960), Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000), Franz Schuster (1892–1972), Kurt Schwitters (1887-1948), tatcraft (Tim Fleischer und Fabian Winopal), Joachim Warnecke (1900–1988), Fritz Wichert (1878–1951), Albert Windisch (1878–1967), Paul Wolff (1887–1951)

 

 

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