Starke Stücke im Schauspiel Frankfurt (16)
Inszenierungen von Regisseur David Bösch am Schauspiel Frankfurt und „Die Verdammten“ am Berliner Ensemble
„räuber.schuldenreich“ von Ewald Palmetshofer, „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing am Berliner Ensemble, „Die Verdammten“ nach Viscontis Film und „Mut und Gnade“ von Ken Wilber
von Renate Feyerbacher
Szene aus „räuber.schuldenreich“, Regie: David Bösch, v.l.n.r.: Matthias Redlhammer, Anke Sevenich, Heidi Ecks, Peter Schröder, Foto: Robert Schittko, Schauspiel Frankfurt
„räuber. schuldenreich“
Fabel aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – Bedrohungsszenarien
Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer (*1978), der soeben den Else-Lasker-Schüler Dramatikerpreis erhielt, hat sich, was die Namen angeht, von Friedrich Schillers Sturm-und Drang-Drama „Die Räuber“ inspirieren lassen. Außer den Namen Franz und Karl besteht aber kein Bezug zum Schiller’schen Stück. Palmetshofer studierte Theaterwissenschaft, aber auch Theologie und Philosophie. Derzeit arbeitet er als Dramaturg am Theater Basel. Sein Theaterstück, 2012 unter dem Titel „räuber.schuldengenital“ in Wien uraufgeführt, wurde in Frankfurt umbenannt in „räuber. schuldenreich“ und verdichtet von Regisseur David Bösch.
Die Brüder, zwei Gescheiterte, schlagen sich durchs Leben, kündigen sich bei den alten Eltern Linde und Otto an, die von ihrer Pension verhältnismäßig gut leben können. Die haben ein kleines Haus und einen Garten. und verfallen schier in Panik, als einer der Brüder mit seinem Kommen droht. Warum wollen sie kommen?
OTTO: „ich dacht’, ihr wärt aus Liebe hier, so hat’s der Ält’re doch gesagt, dass ihr aus Liebe, sag’s nur nach und wär ich selber, zugegeben, zwingend nicht auf den Gedanken draufgekommen, dass die Liebe euer Grund, nur wenn’s der Ält’re sagt, will ich’s ihm glauben, frag mich nur, warum von dieser Liebe man nur Hunger sieht, das frag ich mich, warum man von der Liebe nur mehr Hunger sieht, ich geh ins Bett“
LINDE da geh ich, Otto, wart auf mich da geh ich mit gut Nacht!“
Nein, die Brüder kommen nicht aus Liebe. Palmetshofer zeigt die Familie nicht als Solidaritätsanker. Im Gegenteil: die Alten, Otto und Linde, wollen das Wenige, was sie haben, nicht teilen. Sie haben Desinteresse am Wohl ihrer Söhne. Die Jungen, Franz und Karl, gönnen ihnen das Wenige nicht. Es ist fraglich, ob sie sich je darum bemühten, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Mitgefühl mit den beiden kommt nicht auf. Petra ist die junge Tochter der Nachbarin, die im Rollstuhl sitzt und die ihre Tochter wie eine Dienstmagd herum kommandiert. Sie träumt zu viel und daher gelingt es ihr nicht, sich zu behaupten. Die Figuren schenken sich gegenseitig nichts.
Regisseur David Bösch, der an der Oper Frankfurt seit 2009/10 aktiv ist, zuletzt „Der fliegende Holländer“ (2015) und „Il trovatore“ (2017) inszenierte, gelingt es, den familiären Wahnsinn künstlerisch in den Griff zu bekommen. Er spricht von schöner lyrischer Sprache, die allerdings schwer lesbar ist, es sind abgebrochene Sätze, Satzfetzen, aber im Spiel gewinnt der Text. Bösch hat ihn gekürzt, umgestellt und Ergänzungen hinzugefügt. Er neige zum Hoffnungsvollen, sagt Bösch in der Pressekonferenz, und mildert die apokalyptische Situation. Die 26 Szenenfolgen werden nicht ausgewalzt, sondern kühl interpretiert, bleiben aber spannend. Er führt die Figuren schnell und sehr eng. Düster ist die Bühne von Falko Herold, locker dagegen die Kostüme von Moana Stemberger. Keine Ablenkung durch Requisiten: eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank und ein Stuhl genügen.
„räuber.schuldenreich“, Regie: David Bösch, links Isaak Dentler als Franz und Florian Sandmeyer als Karl; Foto: Robert Schittko, Schauspiel Frankfurt
Es sei eine Freude gewesen, mit den Schauspielern zu arbeiten, sagt Bösch. Das sind Peter Schröder als Otto und Heidi Ecks als seine Frau Linde. Die beiden als älteres Ehepaar zu erleben, ist wirklich eine Freude. Wie sie miteinander reden, Sex haben, das ist einfallsreich und gekonnt. Mit Issak Dentler, Franz, und Fridolin Sandmeyer, Karl, sehr coole Typen, und Sarah Grunert, Petra, hat Bösch in „Emilia Galotti“ bereits zusammen gearbeitet. Sarah Grunerts Gesicht bietet viele Nuancen: Verzweiflung, Misstrauen, Verbitterung, Entzückung, Träumerei und später Glück. Anke Sevenich als Edith, die Nachbarin im Rollstuhl, und ihre Liebe Sepp, gespielt von Matthias Redlhammer, komplettieren dieses schaurige makabre Familienepos. Otto zieht ein Fazit: „Mein teurer Sohn ach hätt ich ihn, den Samen, besser aufgespart im Samensack nicht ausgestreut für dieses – Nichts!“
Vorstellungen in den Kammerspielen am 16. Dezember 2018, weitere am 4.und 28. Januar 2019.
Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing auch am Berliner Ensemble
Bürgertum contra Herrschaft und Verführung als Spiel mit der Zerbrechlichkeit
David Bösch hatte im April „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) auf die Bühne gebracht. Lessings Trauerspiel, 1772 uraufgeführt, beschäftigt sich mit der Handlungsabhängigkeit aufgrund sozialer Stellung. Es gibt keine Gewissensfreiheit, keine Selbstbestimmung des Untertanen. Macht als auch Gewalt der Herrschenden kennt keine Grenzen, weder damals noch heute. Selbst Liebe lässt sich erzwingen. Bösch bindet das Stück an keine Epoche, dennoch sind starke Bezüge zur Jetztzeit zu erkennen.
Der Prinz von Guastalla begehrt die bürgerliche Emilia Galotti, die kurz vor der Hochzeit mit dem Grafen Appiani steht. Das stört den Prinzen Hettore Gonzaga nicht, er nimmt sich, was er will. Er beauftragt seine Hofschranze Marinelli, den Hochzeitswagen zu überfallen. Der Graf wird getötet, Emilia entführt und vom Prinzen vergewaltigt. Bei Lessing tötet der Vater seine Tochter, weil er fürchtet, dass sie zur Mätresse degradiert wird. Der von Bösch ausgedachte Schluss soll nicht verraten werden. Gibt es eine Chance der Bürger, der Gewalt der Herrschenden zu entgehen?
David Bösch hat das Stück komprimiert, Szenen weggelassen und Personen gestrichen. Knappe zwei Stunden ohne Pause bietet er dem Publikum. Das genügt, um die Geschichte zu verdeutlichen. Dadurch ist auch Spannung gegeben. Eine durchdachte Inszenierung.
Isaak Dentler, Foto: Renate Feyerbacher
Wie ein Mafiaboss kommt der Prinz daher. Schlampig hängen die Hosenträger (Kostüm Meentje Nielsen) runter. Isaak Dentler, schon seit der Intendanz Reese im Ensemble, außerdem mit von der Partie im TV-Team des Frankfurter „Tatort“, spielt diesen heruntergekommenen, getriebenen, skrupellosen Prinzen als schluffenden Herrscher. Das macht er vorzüglich.
Mitreißend spielt auch Katharina Bach als Gräfin Orsina, die abgelegte Geliebte des Prinzen. Sie macht daraus eine Paraderolle. In ihrer Bissigkeit steckt viel Witz. Die Gonzaga-Klicke, zu der der geschniegelte Kammerherr Marinelli gehört, den Fridolin Sandmeyer aalglatt spielt, hat die Zuneigung des Publikums. Das Böse, das Kriminelle triumphiert.
Zu blass dagegen, nicht packend genug, Sarah Grunert als Emilia. Die Szene mit ihrer Mutter, dargestellt von Olivia Grigolli, war die eindrücklichste, die Szene mit dem Prinzen undefinierbar. Der Vater Galotti ist schwer zu deuten. Was für einen Vater, der seine Tochter erschießt, wenn auch nicht in der Inszenierung, muss Sebastian Kuschmann da vorführen. Wolfgang Vogler als Graf Appiani, den Emilia heiraten soll und will, sitzt aus nicht deutbaren Gründen im Rollstuhl.
Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, Regie: David Bösch; Sarah Grunert und Isaak Dentler, Foto: Thomas Aurin, Schauspiel Frankfurt
Ein Kreuz an die Rückwand projiziert, symbolisiert die Kirche, dort spricht der Prinz Emilia an. Blümchen Tapete bei den Galottis, Glitzer, Luftballons und sonstiger Tand, der vom Schnürboden fällt, dieses Bühnenbild entwickelte Patrick Bannwart, unterstützt von Falko Herold (Video) und Johan Delaere (Licht). Einwände sollten nicht davon abhalten, die Inszenierung zu besuchen, denn die sorgfältig eingerichteten Szenen und die überzeugenden, schauspielerischen Momente überwiegen.
Weitere Vorstellungen im Großen Haus des Schauspiel Frankfurt am 30. Dezember 2018 und am 17. und 26. Januar 2019.
„Die Verdammten“ am Berliner Ensemble
Regisseur David Bösch ist derzeit an vielen Bühnen aktiv so auch am Berliner Ensemble. Er hat sich an „Die Verdammten“ herangemacht, die derzeit auch woanders zu sehen sind. Der Schweizer Hans-Peter Litscher hat den Text des Visconti-Films aus dem Jahre 1969 schon 2012 übersetzt und bearbeitet. Beim Theaterfestival in Avignon 2016 und kurz danach wurde das Stück in Wien im Theater in der Josefstadt vom Publikum und von den Kritikern gefeiert. In Berlin zollte das Publikum allerdings nur verhaltenen Beifall.
Das Thema ist interessant und hat Bezug zu uns. Visconti schildert den Fall der deutschen Industriefamilie Krupp und fängt die Stimmung des aufkommenden Nationalsozialismus in den 30er Jahren auf. Er erzählt die Geschichte, weil er befürchtet, dass der Faschismus immer noch lebt. Er hatte 1969 recht, und selbst heute ist das Problem noch in der Welt, das zeigen noch heute die faschistischen Ausschreitungen weltweit. Das waffenproduzierende Familienunternehmen geht in moralischer Hinsicht unter. Der Nationalsozialismus übernimmt die Macht in der Firma.
Die deutschen Industriellen-Familien haben Hitler an die Macht gebracht – so auch die Krupps. Der Firmenchef heißt in Die Verdammten Joachim von Essenbeck. Er gibt seine ablehnende Haltung gegenüber den Nazis auf und ernennt Sohn Konstantin, seinen zweiten Sohn, Mitglied der SA, zu seinem Stellvertreter. Sophie, die Witwe seines ältesten Sohnes, und ihr Liebhaber verfolgen eigene Pläne, unterstützt von SS Mann Wolf von Aschenbach. Er will die gesamte Firma und damit die Rüstungsindustrie unter Parteikontrolle bringen. Sofia, eine Art Lady Macbeth, taktiert wie eine Lady Macbeth – auslöschend. Corinna Kirchhoff als Sophie enttäuscht aber ebenso wie Nico Holonics als ihr Sohn Martin. Beide sind als grandiose Schauspieler bekannt, aber hier macht ihr Spiel ratlos.
Bösch, der das Stück selbst mit der Dramaturgin nochmal bearbeitete, hat ein Boulevardstück daraus gemacht. Die wenigen wichtigen Texte huschen vorbei. Es gibt zu viel Klamauk vor allem in der Person von Martin, der in Kostüm und Verhalten im wahrsten Sinne zu irre ist.
Die Festtafel, die sich schräg über die Bühne erstreckt, wurde zu Ehren des Konzernchefs, der Geburtstag hat, festlich gedeckt. Sie hat keine Funktion, denn es wird nicht an ihr gefeiert und verdrängt wichtiges Geschehen in den Hintergrund.
Bösch gelingt es nicht, die Verstrickungen von Industrie und Nazis auf den Punkt zu bringen. Vor allem die familiären Intrigenspiele, die erhellend hätten sein können, stehen im Vordergrund. Eine vertane Chance, das brisante Thema der Verquickung von Industrie und Nationalsozialismus zu vertiefen.
„Mut und Gnade“
„Freundschaft schließen mit dem Leben wie es ist“.
Krebs, eine Diagnose, die Angst, Selbstvorwürfe mit der Frage „Warum?“ auslöst, und die den Tagesablauf total verändert und zudem noch finanzielle Sorgen mit sich bringt.
Diese quälenden Momente hat Ken Wilber, Autor, transpersonaler Psychotherapeut und Mystiker, selbst vor über 40 Jahren erlebt. 1983 lernt er Treya Killam, die Liebe seines Lebens, kennen. „Liebe auf die erste Berührung“, wie er sagt. Die beiden heiraten. Noch vor den Flitterwochen wird in ihrer Brust ein Krebsknoten diagnostiziert. Über fünf Jahre begleitet sie die Krankheit. Wilber schränkt seine schriftstellerische Arbeit ein, um Treya zu pflegen. Die Höhen und Tiefen dieser Periode, die Treya zu ungeahnten Aktivitäten führt, sie beginnt krebskranke Menschen zu beraten, hält Vorträge, dokumentieren sie in Tagebuchaufzeichnungen. 1991 verfasst Ken Wilber das Buch „Grace und Grit“ („Mut und Gnade“).
Ken Wilber, der bald 70 Jahre alt wird, ist heute selbst schwer krank, schriftstellerisch aber noch sehr aktiv.
Der Text des Theaterabends, der auf den Aufzeichnungen / seinem Buch beruht, wurde von der Frankfurter Schauspiel-Dramaturgin Marion Tiedtke und dem belgischen Regisseur Luk Perceval bearbeitet. Es ist kein Theaterstück eher eine Performance, eine Choreographie mit wenig Text, herauskristallisiert aus den Tagebuchaufzeichnungen und ergänzt durch Fakten über Krebs. Zweieinhalbstundenlang waten, stapfen, toben, schlittern, rutschen, suhlen vier Schauspielerinnen und vier Schauspieler ohne Pause durch das auf der Bühne geflutete Wasser.
„Mut und Gnade“, Regie: Luk Perceval, Ensemble, Foto: Robert Schittko
„Die Kraft der Kunst ist Imagination“, sagt Luk Perceval. Warum das Wasser? Er, der auf dem elterlichen Schiff, das später unterging, aufwuchs, hat eine tiefe Verbindung zum Wasser. Für ihn bietet das Urelement Wasser, aus dem wir kommen und aus dem wir hauptsächlich bestehen: „Ritualität, Trance und den Versuch, sich durch das Wasser zu reinigen.[…] Und jetzt wird gesagt, das Wasser wird uns überfluten, wenn die Klimakatastrophe kommt.“
Seit Jahren ist Perceval vom Buddhismus fasziniert vom Kerngedanken der Religion die da lautet: das Leben ist Leiden. Es geht dem Regisseur, der schon viele Preise bekam, darum, Empathie und Bewusstsein dafür zu wecken. Dem Thema Krebs wollte nur das Schauspiel Frankfurt eine Bühne geben. Andere Theater lehnten ab wie zum Beispiel das Thalia Theater in Hamburg, wo Perceval fast zehn Jahre leitender Regisseur war. Er verließ dieses Theater u.a. aufgrund von finanziellen Zwängen. Demenz war ein anderes Thema, dem er sich am Wiener Burgtheater widmete. Überhaupt interessieren ihn die menschlichen Probleme, wie das Überleben in Armut, wie Liebe, Tod und Loslassen in „Mut und Gnade“.
Es gibt in der Aufführung Augenblicke, die von beeindruckender Tiefe und Schönheit sind. Vor allem auch die Leistung der Schauspielerinnen, Katharina Bach, Claude De Demo, Luana Velis und Patrycia Ziolkowska; sie spielen bis zur Erschöpfung. Erdrückend, wie sie die Achterbahn der Gefühle darstellen: ihre Ängste, Hilflosigkeit, die Hoffnung und Einlassung auf den Tod. Alle vier waren Treya und alle vier Schauspieler, Sebastian Kuschmann, Rainer Süßmilch, Andreas Vögler und Uwe Zerwer, waren auch Ken Wilber, d.h. alle Paare durchleben diese schwierige Krankheitsphase. Erschreckend war es dabei, die Hilflosigkeit der Männer zu erleben, die allerdings ihren Partnerinnen bis zum Ende beistehen. Das waren die eindrücklichsten Momente. „Freundschaft zu schließen mit dem Leben, wie es ist“, hatte Treya Killiam Wilber in einer Ansprache vor betroffenen Frauen gesagt. Loslassen können lautet die Botschaft, die über allem steht.
Das Publikum spendete viel Beifall, ein junger Künstler neben mir war sichtlich berührt. Aber wie verhält sich das Gros der Leute im wahren Leben? Die meisten verschließen die Augen vor der Krankheit Krebs. Noch nicht einmal die Hälfte der Frauen geht zur Vorsorge und nur jeder fünfte Mann tut es. Die Frauen haben, um Brustkrebs früh zu erkennen, immerhin die Möglichkeit, durch Abtasten der Brust, eventuelle Knoten zu ertasten. Die frühe Erkennung erhöht die Chance der Heilung. Insofern erscheint es folgerichtig, dass vor dem Premierenabend am 1. Dezember eine Informationsveranstaltung mit einem Oberarzt und einer Oberärztin zum Thema Krebs stattfand – moderiert von Marion Tiedtke. Inwieweit der Theaterabend „Mut und Gnade“ motiviert, sich dem Thema zu stellen, bleibt fraglich. Kürze hätte dem Abend jedenfalls gut getan.
Weitere Vorstellungen sind am 15., 21. und am 22. Dezember 2018 – vorläufig zum letzten Mal.