home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„GREY IS THE NEW PINK“ im Frankfurter Weltkulturen Museum

Berührende Momentaufnahmen des Alterns

„Die ersten hundert Jahre sind die schwersten – danach läuft es von alleine“

Von Hans-Bernd Heier

Heide Schott „Das Leben genießen“; 2017; Kuba; Call for Content

Lange Zeit fällt es einem leicht, diesen Entwicklungsprozess zu ignorieren, aber dann ist er offensichtlich und unabänderlich: Jeder Mensch wird jeden Tag älter und plötzlich ist er alt. Damit steht der Einzelne jedoch nicht allein. Allerdings altert kein Mensch wie der andere. Dieses Fortschreiten der Jahre wird individuell sehr unterschiedlich erlebt. Und auch jede Generation altert anders. Gemeinsam ist wohl allen Menschen der Wunsch: in guter Gesundheit ein hohes Alter zu erreichen.

Demografische Untersuchungen prognostizieren weltweit eine Zunahme der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung. Danach wird jedes vierte in Deutschland geborene Kind über 100 Jahre. Das Älterwerden spielt also nicht nur für jeden Einzelnen eine wichtige Rolle, sondern hat auch gravierende Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse in den jeweiligen Ländern und auf den sozialen Umgang mit den Alten. Aber ab wann kann man überhaupt von „Altsein” sprechen? Auch wenn es einheitliche biologisch sichtbare Alterungsprozesse gibt, so weist doch jede Kultur in der Bestimmung von „Alter” erhebliche Unterschiede auf. Eine allgemeingültige Definition der Lebensphase „Alter” gibt es nicht. Wer ist also wann und wo alt? Kann man der „Herausforderung Alter” optimistisch begegnen? Und welche Potenziale schlummern im Älterwerden? Viele dieser Facetten beleuchtet die variantenreiche Schau mit dem geheimnisvollen Titel „GREY IS THE NEW PINK – Momentaufnahmen des Alterns” im Weltkulturen Museum Frankfurt.

Ausstellungsansicht mit Würdestäben, Sammlung Weltkulturen Museum, und Werken von Osborne Macharia; Foto Wolfgang Günzel, 2018

„Zwischen Furcht und Zuversicht ist das Thema ‚Alter’ mit so vielen unterschiedlichen Aspekten verbunden, dass es nicht möglich ist, es in einer Ausstellung erschöpfend abzuhandeln. Um die Vielfalt kulturwissenschaftlicher, künstlerischer und individueller Herangehensweisen aufzuzeigen, wurden zu diesem Projekt nicht nur ausgewählte Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sondern auch die Öffentlichkeit zur Teilnahme aufgefordert“, schreibt Dr. Eva Ch. Raabe, kommissarische Direktorin, in dem profunden Begleitbuch. Damit beschritt das renommierte Haus mit den umfangreichen ethnologischen Sammlungen neue Wege: Weltweit rief das Weltkulturen-Museum alle dazu auf, das eigene „Bild vom Altern“ einzureichen – sei es außergewöhnliche Fotos aus dem Familienalbum, ein kurzer Handyfilm, der den eigenen Großeltern beim Lösen eines Kreuzworträtsels über die Schulter schaut oder zeichnerische Studien von Falten und Altersflecken. Dabei waren der Fantasie für die Beiträge keine Grenzen gesetzt. Die Resonanz auf den „Call for Content“! war überwältigend: über 350 beindruckende Einsendungen. Eine vielseitige Auswahl von 165 visuellen Beiträgen ist jetzt in den „Momentaufnahmen des Alterns” zu sehen. Zusammen mit 40 historischen Fotografien aus der Sammlung des Weltkulturen Museums sollen sie zum Nachdenken, zur Diskussion und möglicherweise auch zum Handeln anregend.

Osborne Macharia „Kabangu“, 2016; Kenia; Serie; Eigentum des Künstlers

Zunächst wird der Besucher mit kessen Sprüchen und Weisheiten auf das ambivalente Thema eingestimmt, wie „Alte Töpfe machen gutes Essen“ aus Brasilien, „Hör‘ auf die Worte der Zahnlosen“, Fidschi-Inseln, „Neue Besen fegen sauber, aber alte Besen kennen alle Ecken“, Trinidad /Tobado, „Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe vor dem Altern“ oder „Man ist so alt, wie man sich fühlt“.

Jake Verzosa „The Last Tattooed Women of Kalinga“, Bayada Gumaad, Philippinen; © Courtesy of the Artist

In der von Alice Pawlik kuratierten Schau nähern sich internationale Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Lyriker*innen sowie jüngere und ältere Menschen mit den unterschiedlichsten Medien, wie Fotografien, Filmen, Literatur, Zeichnungen und Gesprächen dem spannungsreichen Thema Alter(n) an. Zahlreiche Exponate aus den ethnologischen Sammlungen des Weltkulturen Museums, die einen Bezug zum Alter haben und für die Macht und den Status der Ältesten stehen, ergänzen und erweitern diese Momentaufnahmen. „Wie Bruchstücke einer Lebenserinnerung fügt die Ausstellung den individuellen Umgang mit Themen wie Lifestyle, Liebe und Sexualität, Weitergabe von Wissen, Langlebigkeit, Krankheit, Gesundheit und Tod zu einer Anthologie des Alterns zusammen und zeigt Möglichkeiten eines aktuellen und zukünftigen Umgangs mit der Lebensphase ,Alter‘ auf“, erläutert Alice Pawlik, Kuratorin für Visuelle Anthropologie im Weltkulturen Museum.

Michael Zellmer „150 Jahre jung“; 2010; Rumänien; Call for Content

Für eindrucksvolle Momentaufnahmen des Alterns konnten folgende Künstler*innen gewonnen werden: Ishola Akpo (CI/BJ), Ramy Al-Asheq (PS/SY/DE), Femi Amogunla (NG), Naama Attias (IL), Meret Buser (CH), Jess T. Dugan (US) und Vanessa Fabbre (US), André Günther/Albino (DE), Hartmut Jahn (DE), Günther Krabbenhöft (DE) und Britt Kanja (DE), Lars Krutak (US), Osborne Macharia (KE), Ninette Niemeyer (DE), Raymond Sagapolutele (WS/NZ), Patricia Thoma (DE), Karsten Thormaehlen (DE) und Jake Verzosa (PH), sowie die Teilnehmenden des „Call for Content” eines weltweiten Aufrufs zur Bürgerbeteiligung und die Mitwirkenden des kreativen Schreibworkshops „textgestALTER”. Die Vielfalt der Altersbilder ist riesengroß und äußerst beeindruckend. Sie spiegeln nicht nur die körperlichen Veränderungen im Laufe der Jahre wider, sondern auch die positiven und lebensbejahenden Aspekte.

Lilli Messina „Häute“; Deutschland; Call for Content

Besonders berührend sind die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Karsten Thormaehlen, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt der Fotografie von über 100-Jährigen widmet. Der Frankfurter Fotograf (*1965) porträtierte in „Ageing Gracefully“ auf einfühlsame und respektvolle Weise weltweit alte Menschen. Sein Werk, für das er vielfach ausgezeichnet wurde, inspirierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer Kampagne gegen Altersdiskriminierung. Bei seiner Arbeit erhielt der Fotokünstler manch persönliche Ratschläge und Weisheiten der Fotografierten, wie von der 104-jährigen Tonia Nola aus Sardinien: „Heiter und ohne Stress arbeiten, nicht neidisch sein und viel Minestrone essen“.

Anja Müller, Ohne Titel; Deutschland, Call for Content

Faszinierend ist auch die schrille Fotoserie „Kabangu“ von Osborne Macharia (*1986) aus Kenia. In den großformatigen Farbfotos porträtiert er vier ältere Hip-Hopper mit typisch jugendlichen Attributen. Selbstbewusst – mit einem gewissen Augenzwinkern – ersetzen bei ihnen Skatboard und Ghettoblaster die traditionellen Würdestäbe. Weniger spektakulär, dafür umso berührender sind die Schwarz-Weiß-Arbeiten von Ninette Niemeyer8*1961). Die Fotoserie „Der liebe Gott will mich noch nicht“ zeigt den Alltag und den Lebensraum einer 97-jährigen. Die Bilder der religiösen Frau strahlen eine spürbare Zufriedenheit aus. Erwähnt seien noch Jake Verzosas starke Fotos von tätowierten alten Frauen. Bei ihnen sind Tätowierungen, so Alice Pawlik, „eine buchstäblich unter die Haut gehende Quelle verkörperter Erinnerungen“. Weitere Highlights der klar gegliederten Präsentation sind die Themen-Räume „Niemals zu alt“, „Liebe kennt kein Alter“, „Geheimnisse der Langlebigkeit“ und „Ableben“ auf.

Heinrich Basten „Dorfälteste“, Togo; Sammlung Weltkulturen Museum

Vital und glücklich bis ins hohe Alter zu leben, ist heute keine Seltenheit. Das wird laut Dan Buettner nur zu 10 Prozent von den Genen bestimmt und zu 90 Prozent vom Lebensstil. Der 1960 in St. Paul, Minnesota, geborene Amerikaner ist Forscher, Autor und Produzent. Er hat sich seit vielen Jahren mit dem Thema Langlebigkeit beschäftigt und Orte mit Hochbetagten, sog. „Blue Zones“, aufgesucht, um die Ursachen zu erforschen. Über seine Blue Zones-Ergebnisse berichtete er 2005 in der Titelgeschichte „Secrets of Long Life“ im National Geographic Magazine. Diese Ausgabe wurde zu einem der meistverkauften Hefte der Zeitschrift.

Buettner nennt fünf Hotspots für Langlebigkeit: das bekannte Okinawa in Japan, Icaria in Griechenland, Orte auf Sardinien, Nicoya in Costa Rica und Loma Linda in Kalifornien – keinen in Afrika und keinen in Südamerika. Als Formel für lange Lebensdauer führt er neben der gesundheitlichen Verfassung u. a. regelmäßige Bewegung, semi-vegetarische Ernährung, Vermeidung von Stress und mäßigen Alkoholkonsum an sowie als unterstützende Faktoren das Eingebundensein in familiäre und soziale Netzwerke. Zu sehen ist ein Video, in dem der Amerikaner sehr selbstbewusst seine Thesen vorträgt.

Ausstellungsansicht mit Sarg von Seth Kane; Foto Wolfgang Günzel, 2018

Die figürlichen Särge sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der Bestattungsrituale der Ga in Ghana. Nach dem Wunsch der Hinterbliebenen oder der Verstorbenen selbst werden sie in Form von Tieren, Früchten und Statussymbolen gestaltet.

Dass neben der Gesundheit auch der Lebensstil mitentscheidend für Langlebigkeit ist, davon ist nicht nur oben erwähnte Tonia Nola überzeugt. Auch der 104-jährige Secundo Tomota aus Ecuador sagte in einem Interview: „ Da ich auf meine Gesundheit achten muss, habe ich aufgehört zu rauchen. Ob sich das lohnt? Aber ja, schließlich ist 100 bei uns noch kein Alter“. Das sieht auch Edward J. Palkot aus Garden City, New York, ähnlich: „Die ersten hundert Jahre sind die schwersten – danach läuft es von alleine“. Eine Hilfe dabei dürfte „Das Kochbuch der 100-jährigen“ sein.

Die sehr sehenswerte Ausstellung ist interaktiv konzipiert: So können Besucher beispielsweise an Spielkonsolen ihre Gehirnfunktion trainieren, wie es die „Silver Snipers“ mit großer Begeisterung beim E-Sport tun, und sich anschließend an der „Weltkulturen Wasserbar“ erfrischen.

 

„GREY IS THE NEW PINK – Momentaufnahmen des Alterns” bis zum 1. September 2019 im Weltkulturen Museum; weitere Informationen unter:

www.weltkulturenmuseum.de

 

Abbildungen: Weltkulturen Museum

Comments are closed.