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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Lost Highway“ – Musiktheater von Olga Neuwirth im Bockenheimer Depot

Alles gerät aus den Fugen

von Renate Feyerbacher

Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt

„Lost Highway“ (1996-97), Filminteressierte kennen den Film noir des amerikanischen Regisseurs David Lynch, den die österreichische Komponistin, unterstützt von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, zum Libretto umarbeitete. Ihr gleichnamiges Musiktheater, das 2003 in Graz uraufgeführt wurde, erlebte in ihrer Anwesenheit soeben seine Deutsche Erstaufführung im Bockenheimer Depot.

Elizabeth Reiter (alle Frauen; oben) und Jeff Burrell (Fred; oben und unten)

Kein leichter Abend wederl inhaltlich noch musikalisch, aber ein grandios umgesetztes Gesamtkunstwerk.

Die Geschichte um den Jazzer Fred alias Pete ist konfus. Wahrheit, Unwahrheit, Fiktion, Wirklichkeit, Traumvorstellungen, Halluzinationen bestimmen das Geschehen. Ein absurdes Theater.

Versuch, den Inhalt zusammenzufassen: „Dick Laurent ist tot“, hört Fred über seine Hausprechanlage, aber niemand steht vor der Tür. Das Eheleben ist erkaltet, Sex gelingt ihm nicht mehr. Jeden Morgen liegt eine Filmkassette vor der Haustüre. Auf ihr sind die schlafenden Eheleute gefilmt. Fred denkt, seine Frau Renée, äußerst gesprächsarm, geht fremd. Polizei erscheint, Renée fühlt sich nicht mehr sicher. Auf Andys Party trifft Fred den Mystery Man, der behauptet, sich in diesem Moment in Freds Haus aufzuhalten. Ein Telefonat bestätigt das. Was hat Renée mit Andy, den sie schon länger kennt, zu tun?

Dann wieder ein Video, das Fred neben der Leiche seiner Frau zeigt. Er wird verhaftet, kommt ins Gefängnis, wird zum Tode verurteilt. In der Zelle hat er heftige Kopfschmerzen. Fred ist verschwunden, dafür ist jetzt der junge Automechaniker Pete in der Zelle. Er wird von seinen Eltern abgeholt, aber ständig von Sicherheitsleuten beobachtet. Wieder arbeitet Pete in der Werkstatt, als Mr. Eddy seinen Wagen vorbeibringt. Ein bulliger Typ, der tobt, als ein Mann verbotenerweise in der Werkstatt raucht. Er macht ihn verbal im wahrsten Sinne des Wortes zur Sau und schlägt ihn zusammen. Später bringt der zwielichtige Gangster Alice, seinen weiblichen Besitz, mit. Die Warnung an Pete ist deutlich. Aber Pete fällt auf Alice, die im Pornogeschäft aktiv war, rein und lässt sich zur Flucht mit ihr bewegen. An Geld kommen sie durch Andys Ermordung und fliehen in die Wüste, wo sie sich lieben. Pete: „Ich will dich..“ Alice: „Du wirst mich niemals haben.“

Im dritten Teil der Story erneut eine Verwandlung. Jetzt ist es wieder Fred, der nach Alice beziehungsweise Renée sucht. Er findet sie zusammen mit Eddy in einem Motelzimmer. Fred schneidet ihm die Kehle durch und flieht, An seinem Haus angekommen, klingelt er und sagt „Dick Laurent ist tot.“

Foto Nr. 11 David Moss (Mr. Eddy / Dick Laurent) und John Brancy (Pete)

Ein psychogener Kreislauf mit Gedächtnisschwund und mit Identitätswechsel. Filmemacher David Lynch prägte den Begriff der psychogenen Fuge (psychogene Fugue) oder der dissoziativen Fugue, einer Form von Amnesie – ein plötzliches Weggehen von zu Hause, vom Arbeitsplatz. Der Mensch reist ziemlich planlos, hat einen starken Drang wegzufahren, wegzulaufen. Zustände, die bereits in der Kindheit beginnen können.

Nicht das Was, sondern das Wie der Umsetzung ist das Tolle an diesem Abend.

Erstaunliche Ideen sind dem 39-jährigen amerikanischen Opern- und Theaterregisseur Yuval Sharon, der in diesem Jahr zusammen mit dem in Leipzig lebenden Künstlerehepaar Rosa Loy und Neo Rauch einen viel beachteten und kontrovers diskutierten „Lohengrin“ auf die Bayreuther Bühne brachte, eingefallen. Er habe den Lynch Film fünf oder sechs Mal angesehen, erzählt er bei Oper extra.

Es gibt eine doppelte Spielebene. Zunächst agiert Fred unten in einer grünen Ebene assistiert, geleitet von ominös weiß gekleideten Gestalten, während oben das Geschehen im Video gezeigt wird. Echte Bilder, dazwischen irreales Flimmern, Videoaufnahmen vom rasenden Auto auf dem Highway und reale Sängerauftritte. Das ist gekonnt gemacht, sehr modern  – man kann von Zukunftsvisionen sprechen.

Das Orchester, das Ensemble modern, spezialisiert auf modern-experimentelle Musik, sitzt nicht sichtbar hinter dem Bühnengeschehen und wird gelegentlich videotechnisch eingeblendet. Es ist mit vielen Musikern besetzt. Unterstützt wird es von Markus Noistering, einem Forscher und europaweit Lehrenden Spezialisten für Sounddesign und Live-Elektronik, sowie von Gilbert Nouno und dem Klangregisseur Norbert Ommer. Wie Dirigent Karsten Januschke die schwierige Partitur mit den Musikern meistert, und wie alles mit dem komplizierten Bühnenbild (Jason H.Thompson, Kaitlyn Pietras), der Inszenierung, den Lichteffekten zusammenkommt, ist beeindruckend. Das waren sicher schwierige, langwierige, minutiöse Proben. Doey Lüthi schuf die Kostüme.

Foto Nr. 20 Elizabeth Reiter (Renee) und Jeff Burrell (Fred; oben und unten)

Fred, den Jeff Burrel eindringlich spricht – in Englisch mit deutschen Übertiteln – ist Jazz-Trompeter. Olga Neuwirth, soeben 50 Jahre alt geworden, begann mit sieben Jahren das Trompetenstudium, auch kompositorisch widmete sie sich der Trompete. Schon als Jugendliche ging sie in die USA, kam dann zum Studium nach Wien zurück, ging nach Paris, wo sie sich beim IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique /Forschungsinstitut für Akustik/Musik) mit Live-Elektronik auseinandersetzte. Wie Jelinek ist auch sie gesellschaftspolitisch engagiert. „Ich lass mich nicht wegjodeln“ (Rede Wiener Großdemonstration Wien 19.Februar 2000).

Neunzehn Figuren werden von elf Akteuren realisiert. Herausragend sind Elizabeth Reiter in der Doppelrolle von Renée und Alice. John Brancy, Preisträger des Concours Musical International de Montreal 2018, mit hohem Bariton als Pete und David Moss, gebürtiger Amerikaner, ein Multitalent als Mr. Eddy / Dick Laurent.

Um Olga Neuwirths Musik wirklich zu verstehen, müsste ich vorher allerdings ein intensives Seminar absolvieren. Dennoch ein Musikspektakel, das auch aufgrund seiner phänomenalen Realisierung gefeiert wurde. Inmitten von Musikerinnen und Musiker, von Akteuren und Regieteam stand die zierliche, bescheidene Olga Neuwirth, die sich über den Erfolg freute.

Weitere Vorstellungen am 17., 19., 21. Und 23. September im Bockenheimer Depot.

 

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