Kultur als baulich gestaltete Lebenswelt
Betrachtung in Anregung vor Eröffnung von Frankfurts neuer Altstadt
von Gunnar Schanno
Wir gehen davon aus, dass das Kulturelle immer auch den Aspekt des Zeitlosen in sich trägt, denn wer würde etwa das Schöpferische in Kunst und Tradition der Jahrhunderte als „altmodisch“ bezeichnen wollen. So zeigt sich darin auch der Unterschied zum Zivilisatorischen, weil in ihm auch das Technologisch-Industrielle bestimmendes Merkmal ist. Was wir dieserart Zivilisation nennen, zeitigt sich doch als unentwegt sich verändernde sich selbst überholende Grundlage unserer Lebensverhältnisse. Sie verbindet sich mit Begriffen wie Konsum, Funktionalität, Innovation.
Vorbild der „Moderne“: das Bauhaus in Dessau mit seiner zum Prinzip erhobenen Funktionalität, alle Fotos: © Petra Kammann
Wie spannungsreich ein Zusammenhang besteht zwischen Zivilisation und Kultur im städtebaulichen Kontext, haben wie kaum anderswo sonst die Konzepte für Design und Architektur der Bauhaus-Welt eröffnet. Die Meister des Bauhauses nämlich haben besonders in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als zwingend erkannt, wie sehr die materialen Stoffe und mit ihnen verbunden die Ermöglichungen neuer Konstruktions- und Fertigungsverfahren im Baulich-Architektonischen auch Auswirkung auf kulturelle Ausdrucksformen von Lebensgestaltung und Lebenswelt haben.
Setzen wir voraus, dass im besagten Sinne das Konstruktiv-Technische das Zivilisatorische, das Gestaltend-Kreative das Kulturelle ist. Die Schriften und Werke von Bauhausmeistern wie Walter Gropius, Mies van der Rohe oder Marcel Breuer offenbaren dies. Sie tun dies auch im Erfahrungsschatz und in der Grundlegung, wie sie der 1907 gegründete Deutsche Werkbund pragmatisch gedeutet hat. Es soll nicht um die vielfältigen Verzweigungen von Werkbund oder Bauhaus gehen, vielmehr um die seit damaliger Zeit bedrängende sozial-relevante Erkenntnis, dass die Industrialisierung als zivilisatorischer Vorgang des technischen Entwickelns und Produzierens auch Konsequenzen zeitigt für den Ausdruck des Menschen als Kulturmensch.
„Das neue Frankfurt“ in den Dreißigern: Ernst-May- Bauten in der Römerstadt
Es wurde wahrgenommen, wie neu entwickelte und in Nutzung und Anwendung sich bahnbrechende Baumaterialien aus Glas, Stahl und Beton einmündeten in Perspektiven neuer Anschauungen über die Verbindung zwischen Mensch und seinem Verhältnis zu Wohn-, Arbeits-, also auch Lebenswelt. Es geschah in Erkenntnis darüber, wie materialbasierte Baulichkeit gezielt in Konstrukten neuer Lebensräume, in bewusst funktionsbetonten Lebenskonzepten ihren Niederschlag fand. Ganz allgemein wurde seit Bauhausepoche im ästhetischen Erscheinungsbild ein architektonisch sachliches und zivilisatorisch-funktionales Spannungsverhältnis erreicht, das gezielt die kulturell-emotionale Dimension historischer Bautraditionen in den Hintergrund drängte.
In diesem Erkennen stand die Bauhaustradition auch im Versuch, dem ahistorisch zivilisatorischen Aspekt einen Vorrang zu geben vor dem kulturellen, die Funktionalität vor kulturkritisch eher archaisch gedeutetes Lebensgefühl zu stellen. Dies reichte bis hin in die Sichtbarmachung des Zivilisatorischen in seinen technisch-konstruktiven Funktionen am und im Bau. Lag darin auch ihr Missverständnis, resultierte daraus auch in epigonaler Nachbauhauszeit die Korrektur ihrer Konzepte bis hin zum Abriss ganzer Baukomplexe konsequent angestrebter „liebloser“ neuer Sachlichkeit und Funktionalität im Städtebaulichen? So gibt aktuell auch Frankfurt ein Beispiel, das sich visualisiert am Rollback in die Anmutung eines historisch gestalteten Erscheinungsbilds der „neuen Altstadt“.
Die neue Frankfurter Altstadt zwischen Historie und Funktion?
Ursprünglich waren es also die Bauhausmeister, die hofften, das Zivilisatorische im Sinne ihrer stofflich-physikalisch veränderten modernen Konstruktionsmöglichkeiten mit dem Kulturellen in eine funktionsbezogene Einheit zu bringen. Das Spannungsverhältnis war schwer aufzulösen, wo das Kulturelle doch getragen ist vom individuell Gestaltenden, vom eher Kleinteiligen und Organischen, vom subjektiven Empfinden, vom privaten Wohn- und Lebensgefühl, vom Gemeinschaftsbildenden.
Freilich wurde das Potential von Werkstoffen im baulichen Vorgang schon immer ausgereizt, solange es bauliche Artefakte gibt, seit und vor Pharaonenzeiten. Doch erst seit Bauhauszeiten schien es Absicht, das Funktionale deutlich zu visualisieren und somit auch das Verbergende, Überhöhende, das sagen wir Heimelige, das Symbolische, das stilreich Assoziative, historisch Integrierende des Kulturellen aus dem material Baulichen herauszuführen.
Funktionalität als Grundprinzip der Nachkriegsarchitektur prägte den urbanen Raum
Haben die Bauhaustheoretiker und ihre Epigonen der ersten Jahrzehnte – freilich auch unter Kostenaspekten – nach Ende des zweiten Weltkriegs, in Kauf genommen, dass ihre Vorstellungen von Gegenwart und Funktionalität im Zuge dynamisch-technisch bedingter Neuformungen auch schneller der Überholtheit ausgesetzt werden? Haben die Bau- und Stadtplaner dies überhaupt erkannt, bis hin zu den vergitterten, funktionsbetonten, nach und nach wieder durch sichtbare Fensterfronten geöffnete Kaufhausfassaden eines in Bauhaustradition stehenden Architekten Egon Eiermann? Bauhaustradition war durchaus im damaligen Verständnis ein Bestreben, das dominant zivilisatorische Prinzip der Funktionalität in den Stand des Kulturellen zu heben. Im Schaffen ganzheitlich wunderbar durchgestalteter Interieurs und Wohnwelten gelang dies wohl auch, wenn wir an Häuser im Bauhausstil in Dessau, an Bauten in Stuttgarts Weissenhof-Siedlung oder Ernst Mays Frankfurter Siedlungsbautendenken.
Ist aber nicht jeder architektonisch bewusst nach zivilisatorischen Sachzwängen wie modernistischer Eigenwilligkeit gestaltete Städtebau baldhin einer der Vergangenheit? So konnten etliche nach Bauhausprinzipien errichtete Bauten, wie etwa die langgezogenen „Unités d’habitation“ in Berlin und anderen Städten von in Bauhaustradition stehenden Architekten, darunter Le Corbusier (1887-1965), Mensch und Gesellschaft auch überfordern. Denn Idee und Wirklichkeit kommen nicht immer zusammen. Und nicht selten wurden gefeierte Funktionsbauten durchaus auch zu sozialen Brennpunkten. Das Silohafte, der Baukasten, das Eckige, das Rundungslose, das rein Funktionale – der Begriff von Wohnmaschinen, wie sie Banlieues von Metropolen kennzeichnen, machte die Runde – wurde also auch zum Antagonisten des Organischen, des Gefühlhaften, Atmosphärischen, des Schützenden und Bergenden, des Gemeinschaftlichen, des Wohlempfindens, also besonders da, wo doch im Gegensatz zur Arbeitswelt die kulturhafte private Welt entstehen sollte.
Kleinteilige Plätze und historisierende Fassaden in der neuen Frankfurter Altstadt
Das Wiedererstehen einer Frankfurter Altstadt zwischen Römer und Kaiserdomist also aus vielerlei guten Gründen für die historisch-erinnernde Gestaltung des Innenstadtbereichs ein schönes Beispiel für das Anliegen, dem Empfinden organischer, vielgestaltiger, bunt wie das Leben gemischter, in Balance und korrespondierender Dimension zwischen Mensch und Haus einen städtebaulichen Ausdruck zu geben. Das Empfinden scheint universell zu sein, wird es doch geteilt vom Frankfurter bis zum touristisch Fernhergereisten aus Übersee. So bietet denn besonders Frankfurt im Stadtbild beides, auch in die Begriffe: die nun erweiterte schrägdächerreiche Stadtsilhouette als kulturell geprägtes Erscheinungsbild mit Dom oder Paulskirche als buchstäblichen Höhepunkten und darüber aufragend die City-Skyline als sichtbar zivilisatorischer Ausdruck und Ausreizung baulicher Materialität.