„Mensch! Skulptur“ Wiedereröffnung des Kunstforums Ingelheim Altes Rathaus
Gelungene Symbiose von Architektur und Skulptur
Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Körper steht im Mittelpunkt der Ingelheimer Ausstellung „Mensch! Skulptur“. Anhand von 12 Motivgruppen werden im renovierten Alten Rathaus dort während der Internationalen Tage Ingelheim und noch bis zum 21. Oktober 2018 rund 60 besondere Skulpturen aus Stein, Bronze und Terrakotta gezeigt u.a. von so herausragenden Künstlern wie Auguste Rodin, Edgar Degas, Wilhelm Lehmbruck, Alberto Giacometti und Henry Moore. Sie alle dokumentieren die Entwicklung der Skulpturen von der dreidimensionalen Körperlichkeit hin zur Abstraktion, die von Museen und Privatsammlern aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz nach Ingelheim ausgeliehen wurden.
Schon das Betreten des Gebäudes am François-Lachenal-Platz mit den hellen Sonnenschirmen über dem Café am Eingang verbreitet heiterste Stimmung. Die frisch sanierte Lisenenarchitektur mit Blendgiebeln aus dem 19. Jahrhundert, die 1982 als Ausstellungsort eingerichtet wurde, wurde äußerst behutsam vom Frankfurter Architekturbüro Scheffler + Partner und den Darmstädter Architekten Gottstein & Blumenstein modernisiert und erweitert. Das zweistöckige Gebäude mit den grau-gelb changierenden Schichten aus Ingelheimer Kalkstein ist in seiner Transparenz ganz neu zu erleben.
Durch die Rundbogenfenster dringt nun das Streiflicht, das gefiltert auf die wohlkomponierten thematisch gegliederten Skulpturengruppen – stehende, hockende oder sitzende menschliche Körper, Liegende und tänzerische bewegte Figuren oder einzelne Gliedmaßen wie Kopf und Hände – fällt. Durch die schlicht weißen und leicht transparenten Fensterplanen kann man die dahinterliegende rheinhessische Landschaft und die historischen Mauern der frühmittelalterlichen Kaiserpfalzanlage erahnen. Das einfallende wechselnde Tageslicht macht im Inneren sowohl die Oberflächenstruktur der ausgestellten Skulpturen verschiedener Materialien wie Stein, Ton, Bronze oder Terracotta wie auch deren Plastizität sicht- und erlebbar. Die Platzierung der Skulpturen auf individuell angepassten Sockeln und Stelen erlaubt ein Herumgehen, das den Zuschauer die Dreidimensionalität der Skulpturen erfahren lässt.
Das Zusammenspiel von bewegter Figur und unserer eigenen Bewegung im Raum ist besonders eindringlich im Raum der Tanzenden zu erleben, wo etliche Skulpturen von dem französischen Künstler ausgestellt sind, den wir vor allem als Maler kennen, von Edgar Degas (1834 – 1917). Seine aus Draht und Wachs zunächst nur für sich selbst modellierten Tänzerinnen wurden erst nach seinem Tod in Bronze gegossen. Die meisten seiner Plastiken geben typische Ballettposen wieder, andere aber auch freie, beiläufig beobachtete aus der Erinnerung modellierte Bewegungen. Ihre Lebendigkeit rührt nicht nur vom Eindruck des Unvollendeten her, sondern auch von der sichtbar an der Oberfläche gebliebenen Modellierung aus einzelnen Wachsklümpchen – die eine wohlausgesogene Balance zwischen Ruhe und Bewegung herstellen. Wenn wir uns selbst durch die Gruppe tanzender Figuren bewegen, fügen sich die Eindrücke so zu einem Ballett zusammen, als stünden wir mittendrin. Ganz anders die„Tänzerin!“ von Max Beckmann (1884 – 1950). Sie verkörpert das Gegenteil anmutiger Überwindung der Schwerkraft. Die im ausschreitenden Spagat an den Boden gepresste Gestalt wirkt gebeugt und niedergeschlagen. Sie wird zur Metapher von Beckmann eigener gedrängter Existenz in der Zeit des Nationalsozialismus. Kein Anflug von Leichtigkeit ist hier am Endpunkt eines Raumes mehr zu spüren.
Ausstellungsansicht im ,Saal der Stehenden‘: Auguste Rodins Bronzestatue Eva, um 1881. Dargestellt ist hier der schmerzhafte Moment der Scham nach dem Sündenfall, (Leihgabe Städel Museum Frankfurt)
Lebendigkeit kann nicht nur durch die Interaktion im Betrachten suggeriert werden, sondern bereits in der Art der Herstellung angelegt sein, indem der Künstler den Entstehungsprozess sichtbar lässt. Bei einer modellierten Figur kann das durch skizzenhafte, lockere Modellierung erzeugt werden, bei einer Skulptur durch Stehenlassen der Spuren des Meißels. Dem gegenüber erschöpft sich schon bald die Faszination bei einer detailgenauen, alle Bearbeitungsspuren tilgenden Herstellung, im äußersten Fall beim künstlerisch zu recht tabuisierten Körperabguss.
Darum haben Bildhauer der Moderne die Lebendigkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhundert sowie der ersten des 20. Jahrhunderts nicht durch detailgenaue Perfektion der Oberflächen erzielt, sondern u.a. im Gegenteil durch die radikale Beschränkung auf einzelne Teile des Körpers. Waren es in der Renaissance seit der Entdeckung des Torsos vom Belvedere Bruchstücke antiker Skulpturen, die – zu allererst die Künstler selbst – begeisterten, so hat um 1900 als erster Bildhauer Auguste Rodin den Torso als Kernform des Körpers zum gültigen Motiv erhoben. Mit dem Anstoß, das Teilstück im Geiste zu ergänzen, beflügelt er die Assoziationsmöglichkeit des Betrachters.
Ganz anders Giacometti (1901 – 1966), der in den 1930er Jahren eine radikale Wende vollzogen hat. Er suchte keine äußere Porträtähnlichkeit mit dem Modell, sondern einen Weg, um zum Ausdruck seines Wesens, zu seinem „Energiekern“, vorzudringen. Die Beobachtung einer auf der gegenüber liegenden Straßenseite gehenden Frau machte ihm klar, dass er deren Wesen bereits mit einem Blick aus der Ferne erfassen konnte. Diese Erfahrung setzte eine jahrelange, stete Verkleinerung seiner Köpfe und Figuren in Gang. Er stellte sie auf im Verhältnis riesige, manchmal sogar gestufte Sockel, um sie auch dem Betrachter zu entrücken und stellte damit ein Gegenbild zu den faschistischen Heldenstatuen etwa eines Arno Brekers her. Auch nach 1945, als die Abstraktion zur Weltsprache der Kunst erhoben wurde, wuchsen seine Skulpturen – Stehende oder Schreitende – sogar bis hin zur Überlebensgröße, so entziehen sie sich zugleich durch extreme Reduzierung ihrer Substanz und strahlen gleichwohl durch die lockere Modellierung eine hohe Lebendigkeit aus.
Ausstellungsansicht im Saal der Stehenden, Giacometti, Der Wald, 1950, Leihgabe des Kunsthaus Zürich, Giacometti-Stiftung, 1965
Die gelungene Beleuchtung von Skulpturen spielt, wenn die Quelle beweglich ist, eine zusätzliche Rolle im Wechselspiel zwischen Werk, Betrachter und Raum. Darum sind die meisten der Ingelheimer Räume mit ihren nach drei Seiten gerichteten Fenstern für eine Skulpturenschau besonders geeignet. Das wechselnde Licht bietet zu den verschiedenen Tageszeiten hier jeweils ein anderes Schauspiel, und die Bewegung des Betrachters im Raum macht aus starren Werken gleichsam Mobiles.
Bei dieser speziellen Schau liegt die Kraft in der Konzentration auf das Wesentliche. Sie führt nicht das gesamte Spektrum der Skulptur vor Augen, wohl aber die Kostbarkeit des einzelnen Kunstwerks. Zwölf Künstler insgesamt wurden ausgewählt, die diesen Wandel deutlich machen: Alexander Archipenko, Max Beckmann, Rudolf Belling, Edgar Degas, Alberto Giacometti, Georg Kolbe, Henri Laurens, Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol, Henry Moore, Pablo Picasso und Auguste Rodin. Sie führen uns den Formenreichtum der Skulptur von mehr als hundert Jahren vor Augen.