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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Inge Werths empathische Fotos der Umbruchjahre um 1968 im Museum Giersch

Dinge zeigen, wie sie wirklich sind – nie mit roten Scheuklappen

Das Museum Giersch der Goethe-Universität widmet in der Sonderausstellung „Paris, Frankfurt am Main und die 1968er-Generation – Fotografien von Inge Werth“ den Arbeiten der 1931 in Stettin geborenen Fotografin die erste museale Präsentation.

Von Hans-Bernd Heier

Besetztes Haus Eppsteinerstr. 44, Westend, September 1972; © Inge Werth

Die Fotografin Inge Werth hielt mit ihrer Kamera eine bewegte Zeit gesellschaftlicher und politischer Umbrüche fest. Sie arbeitete als freie Bildjournalistin für Medien wie die „Frankfurter Rundschau“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Zeit“, „Konkret“ und „Pardon“. Sie erfasste eindrucksvoll die Rebellion der 1968er-Generation gegen die bestehenden Verhältnisse. Hauptpersonen der bisweilen gewaltsamen und  schlagzeilenträchtigen Großereignisse im öffentlichen Raum fotografierte Werth ebenso unauffällig wie Auffälligkeiten auf Nebenschauplätzen.

Obwohl sie neben Barbara Klemm und Abisag Tüllmann zu den wichtigen Dokumentaristinnen ihrer Zeit gehört, gilt es, ihr umfangreiches Schaffen als Chronistin einer Epoche noch zu entdecken. Mit dieser eindrücklichen Schau knüpft das Museum am Schaumainkai thematisch an die Frühjahrspräsentation „Freiraum der Kunst – Die Studiogalerie der Goethe-Universität Frankfurt 1964–1968“ an.

Temperamentvoll gibt Inge Werth (Mitte) bei der Pressekonferenz Einblicke in ihre Arbeiten; daneben Kuratorin PD Dr. Viola Hildebrand-Schat vom Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität und Museumsleiter Dr. Manfred Großkinsky; Foto: Hans-Bernd Heier

Die neue sehenswerte Ausstellung mit rund 100, bisher noch nicht gezeigten Schwarzweiß-Fotografien legt den Schwerpunkt auf Ereignisse um das Jahr 1968. Werths empathische Arbeiten – eine Verbindung von Kunst und Reportage – führen den Betrachter an zentrale Schauplätze der Rebellion in Paris und Frankfurt am Main. Sie zeigen studentische Unruhen und Protestaktionen ebenso wie kulturelle Ereignisse in jenen spannenden und spannungsgeladenen Aufbruchszeiten. Zu sehen sind beispielsweise auch Aufnahmen der Frankfurter Buchmesse mit Sit-ins, der provokativen Aufführung von Peter Handkes Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“ und des Ostermarsches 1966 unter Beteiligung der Sängerin Joan Baez.

Joan Baez beim Ostermarsch in Frankfurt, 11. April 1966; © Inge Werth

Werths Interesse galt vor allem der Sichtbarmachung jener zeittypischen, kontroversen Umbruchsstimmung – aber „nie mit roten Scheuklappen“, wie die Autodidaktin selbst sagt. Um redlich zu sein, war sie stets bestrebt, beide Seiten zu zeigen. Ihr ging es darum, „die Atmosphäre und Unmittelbarkeit der Aktionen einzufangen und die Dinge zu zeigen, so wie sie sind“. Dafür nahm sie sogar gewisse Unschärfen bei den Fotos in Kauf. Man müsse nah dran sein, um die Emotionen festzuhalten. Damit sie schnell auf Veränderungen reagieren konnte, verzichtete die Fotografin auf technische Hilfsmittel wie Stativ oder Wechselobjektive und weitgehend auch auf Blitzlicht. „Ihre Arbeiten überzeugen“, so Museumsleiter  Dr. Manfred Großkinsky „durch Empathie und nicht durch fotografischen Voyeurismus“.

Jürgen Habermas diskutiert mit streikenden Studenten der Goethe-Universität Frankfurt, 1968; Institut für Stadtgeschichte; Fotosammlung Inge Werth © Inge Werth

Die üblicherweise unter „68er-Bewegung“ oder „68-Unruhen“ zusammengefassten Ereignisse konzentrierten sich nicht auf ein einziges Jahr. Die Kritik der Nachkriegsgeneration am politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik führte bereits in den 1960er Jahren zu einem Klima der Unzufriedenheit und des Aufbegehrens. Radikale Bürgerrechtsbewegungen wurden gegründet, immer häufiger kam es zu gesellschaftspolitisch begründeten Streiks und teilweise gewalttätigen Demonstrationen, die schließlich 1968 in der Studentenrevolte eskalierten. Die lautstark und aggressiv skandierten Parolen richteten sich gegen das etablierte System und den Verhaltenskodex einer Gesellschaft, die sich mit dem Wirtschaftsaufschwung nach alten Mustern einzurichten und die Geschehnisse der jüngsten Geschichte – Nationalsozialismus, Holocaust und Weltkrieg – zu verdrängen suchte. Diese aufgeheizte Stimmung hat Werth mit ihrer „lausigen Kleinbildkamera“, so ihre Worte, eindrücklich eingefangen – auch für diejenigen, die damals nicht dabei waren.

Demonstration für die Regierung von Charles de Gaulles, Paris, 24. Mai 1968; © Inge Werth

In der Bundesrepublik Deutschland formierten sich mit den „Ostermärschen“ ab Beginn der 1960er Jahre, der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) und dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS) drei voneinander unabhängige Initiativen. Doch führten gesellschaftspolitische Anliegen – Ablehnung atomarer Aufrüstung, Widerstand gegen die Notstandsgesetze und Forderungen nach Reform des Bildungs- und Erziehungssystems – zu gemeinsamen Aktionen.

Studenten beim Go-in vor dem Erziehungsheim Staffelberg, 28. Juni 1969; Institut für Stadtgeschichte; Fotosammlung Inge Werth © Inge Werth 

Die Protestbewegungen setzten sich nach 1968 weiter fort: Hausbesetzungen als Reaktion auf die Kommerzialisierung von Wohnraum sowie Kundgebungen gegen militärische Aufrüstung und die von den Akteuren als  Nachrichtenverfälschungen durch dominierende Presseorgane kritisierte Berichterstattung gehörten zu den alltäglichen Themen.

Angela Davis Solidaritätskongress vom 3. und 4. Juni 1972, der anlässlich der Freisprechung der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin stattfand, die 1970 in den USA zu Unrecht zum Tode verurteilt worden war; Institut für Stadtgeschichte; Fotosammlung Inge Werth; © Inge Werth

Ein zentraler Ausgangspunkt für grundlegende Kritik an der Realität der westlichen Demokratie und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem war damals der Vietnamkrieg. Nachdem die USA ihre Streitkräfte nach Vietnam entsandt, Land und Bevölkerung flächendeckend bombardiert hatten, zogen die unfassbar grausamen Geschehnisse – ausgehend von US-amerikanischen Protesten – weltweit die Aufmerksamkeit auf sich. In der Bundesrepublik Deutschland formierte sich die „Initiative Internationale Vietnam-Solidarität“ mit dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS) in führender Rolle.

Auch in Paris kam es bei Aktionen der Vietnamkriegsgegner zu Zusammenstößen mit der Polizei. Etliche Studenten wurden verhaftet, unter ihnen Daniel Cohn-Bendit als einem der Rädelsführer. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1968 eskalierten die Unruhen in Straßenschlachten im Quartier Latin. Die Studenten errichteten Barrikaden, die Polizei rückte mit Schlagstöcken und Tränengas vor. Als Reaktion auf das Vorgehen der Polizei riefen am 13. Mai alle großen Gewerkschaften zu einem eintägigen Generalstreik auf. Millionen von Menschen strömten zu einem Protestmarsch zusammen. Am 30. Mai erklärte Präsident Charles de Gaulle im Fernsehen den Aufständischen den Kampf. Dies hatte weitere Protestmärsche zur Folge – sowohl von den Gegnern als auch von den Anhängern de Gaulles.

Eltern-Kind-Kollektiv, Frankfurt, März 1972; Institut für Stadtgeschichte; Fotosammlung Inge Werth; © Inge Werth

In Deutschland standen in den Folgejahren darüber hinaus überholte Lehr- und Erziehungsmethoden, politisches und soziales Unrecht, Diskriminierung und Stigmatisierung von Randgruppen und insbesondere die Nachteile, denen sich Frauen ausgesetzt sahen, im Zentrum der systemkritischen Studenten. Diese kontrovers diskutierten Themen lösten heftige Protestaktionen mit Sit-ins, Go-ins und Teach-ins aus. Im Juni 1969 trafen sich beispielsweise Studenten aus Frankfurt, Marburg und weiteren hessischen Universitäten zu einem Go-in in dem Erziehungsheim „Staffelberg“ im nordhessischen Biedenkopf. Die Aktion richtete sich exemplarisch gegen veraltete und unzureichende Zustände. In den meisten Heimen fehlte geschultes Personal, das auf eine Resozialisierung der Jugendlichen hinwirkte. Stattdessen kamen Methoden zum Einsatz, die an Praktiken aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnerten.

Frauen demonstrieren in der Frankfurter Innenstadt gegen den Paragraph 218, 16. März 1974; Institut für Stadtgeschichte; Fotosammlung Inge Werth; © Inge Werth

Auch die traditionelle Erziehung geriet in den gesellschafts-kritischen Fokus der 68er, die für „antiautoritäre“ Erziehungsmethoden plädierten und mit Eltern-Kind-Kommunen neue Wohnformen  schaffen wollten. Die Eltern teilten sich dabei die Betreuung der Kinder, so dass genügend Zeit blieb, einer Berufstätigkeit nachzugehen.

Die im Häuserkampf vehement artikulierten Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen erfassten auch die Frauenbewegung. Sie formierte sich in Frankfurt im „Weiberrat“ und in der „Frauenaktion 70“. Letztere machte mit Teach-ins und Unterschriftensammlungen Schlagzeilen, um für Frauen das Selbstbestimmungsrecht und somit auch den Schwangerschaftsabbruch einzufordern.

Die Fotografin Inge Werth hat all diese spektakulären Aktionen wie auch viele andere weniger beachtete Ereignisse in einer bewegten Zeit behutsam mit ihrer Kamera festgehalten. Die Schau im Museum Giersch verfolgt keine lückenlose Dokumentation aller relevanten Geschehnisse dieser Jahre, sondern eine punktuelle Wiedergabe der Situationen, an denen Inge Werth in der Zeit von 1966 bis 76 als diskrete Beobachterin mit ihrer Nikon-Kleinbildkamera teilnahm. Die beindruckenden Arbeiten sind weitgehend chronologisch gehängt.

„Paris, Frankfurt am Main und die 1968er-Generation – Fotografien von Inge Werth“ bis zum 14. Oktober 2018 im Museum Giersch der Goethe-Universität; weitere Informationen unter: www.musuem-giersch.de

 

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