Ray 2018 – Fotografieprojekte Frankfurt/Rhein/Main – Extreme. Nomads im MMK1 (2)
Nomadentum heute
Das Plakat zeigt Richard Mosse, Incoming, Filmstill, 2017 © Richard Mosse, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galerie carlier|gebauer
Bilder bestimmen unseren Alltag und unsere Wirklichkeit. Die Institutionen und Fotografie-Sammlungen in Frankfurt und der Region Rhein-Main mit ihrer bemerkenswerten Dichte und Kompetenz in Sachen Fotografie haben sich in ihrer 3. Auflage des RAY Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain 2018 dem Thema EXTREME gewidmet, das uns derzeit auf den verschiedensten Ebenen begegnet. Darin kommt auf jeden Fall die Bildmächtigkeit des Mediums Fotografie besonders deutlich zum Vorschein. Und das anhand einer Vielfalt internationaler künstlerischer Strategien. Über 40 Künstlerinnen und Künstler, 15 Partnerinstitutionen, 10 Ausstellungsorte und 6 Städte im Rhein-Main-Gebiet haben sich insgesamt zusammengeschlossen, um die Heftigkeit dieses Fokus sichtbar zu machen. Mit Ausstellungen, zahlreichen Events und erstmals auch mit einem viertägigen Festival zum Triennale-Thema EXTREME wird die facettenreiche Auseinandersetzung mit der Fotografie bis zum 9. September 2018 im Rhein-Main-Gebiet beleuchtet, werden in insgesamt fünf Ausstellungen in verschiedenen Häusern in Frankfurt/RheinMain ausgewählte künstlerische Positionen und unterschiedliche Aspekte des Extremen, so im Museum für Moderne Kunst (MMK1) die EXTREME NOMADS präsentiert.
Von Petra Kammann
Das MMK1 hat unter Leitung des scheidenden Vizedirektors Peter Gorschlüter, der Frankfurt in Richtung Essen verlässt – er wird künftig das renommierte Museum Folkwang leiten –, vor allem drei ausdrucksstarke Werke und Positionen dreier Protagonisten aus den verschiedensten Ecken der Welt stringent in Szene gesetzt: mit großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien und drei triptychonähnlichen Bildschirm-Videoinstallation des Iren Richard Mosse (*1980), der zur Dokumentation seiner Arbeit fast drei Jahre von West nach Ost und von Ost nach West über das Mittelmeer reiste, um das Flüchtlingselend zu dokumentieren, dann mit Fotografien und einem von amerikanischen Zombie-Filmen inspirierten „Horror-Film“ der Chinesin Cao Fei (*1978), welche die Veränderung ihres Heimatlandes Chinas hin zu einer leidenden Dienstleistungsgesellschaft mit seelenlosen Wohnsilos kritisch wahrnimmt, und schließlich mit den Videoarbeiten und Sammelobjekten des Brasilianers Paulo Nazareth(*1977), der zu Fuß ganze Länder und Kontinente durchstreifte, um seinen eigenen indigenen, europäischen und afrikanischen Wurzeln auf die Spur zu kommen.
Mit den Werken dieser drei Foto-Künstler nimmt bis zum 9. September 2018 die Ausstellung EXTREME. NOMADS zeitgenössische nomadische Existenzen in den Blick, die durch politische und ökonomische Entwicklungen unserer Zeit bedingt sind. Extrem sind aber nicht nur die je individuellen und gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung, welche die aus drei Kontinenten stammenden Künstlerinnen und Künstler untersuchen. Es sind ihre eindrücklichen Grenzgänge und ihre ganz unterschiedlichen künstlerischen Strategien, welche die Betrachter wachrütteln und ihnen vor Augen führen, dass es in der Moderne so etwas wie kuschelige Heimat nicht mehr gibt.
Richard Mosse im MMK vor seinem Foto Moria Greece, 2016 aus der Serie ‚Heat Maps‘, Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier|gebauer, Berlin, Foto: Petra Kammann
Der wechselweise in New York und Berlin lebende Richard Mosse hat mit dem Einsatz militärischer Bildverfahren zur Dokumentation von Krisen und Kriegsgebieten inzwischen schon weltweit Bekanntheit erlangt. So wurde etwa sein Werk bereits 2013 auf der Biennale in Venedig präsentiert, im Jahr darauf wurde er mit dem „Deutsche Börse Photography Prize“ ausgezeichnet und 2017 gewann er den „Prix Pictet“. Dabei hatte er gerade mal 2008 seinen Master of Fine Arts in Fotografie an der Yale Universität absolviert. Mit seinem Bildverfahren, bei dem er an der Schnittstelle von künstlerischer Produktion und journalistischer Reportage arbeitet und die Betrachter mit militärischen Bildtechnologien konfrontiert, und sie entgegen ihrer ursprünglichen Funktion zugunsten einer neuen dokumentarischen Form verwendet, schafft er es auch, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Richard Mosse, Incoming, 2014-17, Installationsansicht/installation view, Still frame from „Incoming“, 2015–2016. Three screen video installation by Richard Mosse in collaboration with Trevor Tweeten and Ben Frost. Co-commissioned by National Gallery of Victoria, Melbourne, and Barbican Art Gallery, London. Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier|gebauer, Berlin, Foto/photo: Axel Schneider
Mit dieser Methode gelingt es ihm, Bewegungen über eine Distanz von Bewegungen 30,3 Kilometer festzuhalten, wobei die Farbe und individuelle Gesichtszüge ausgeschaltet sind. So kann er aus einer gewissen Distanz die Wanderung von Migranten durch Europa, Mittel- und Nordafrika und deren Leid ganz unmittelbar zeigen, indem er die Wege von Geflüchteten dokumentiert und so detaillierte Einblicke in ihre Lebensumstände gibt. Seine jüngsten Werke „Incoming“ und „The Castle“ reagieren unmittelbar auf die Fluchtbewegungen in Europa, dem Mittleren Osten und Nordafrika — der größten Migration seit dem Zweiten Weltkrieg. Während die Filminstallation „Incoming“, die nicht nur durch die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Ben Frost und dem Kameramann Trevor Tweeten entstanden ist, im abgedunkelten Raum eine noch stärkere Wucht entfaltet, weil die Leidensszenen bis zur emotionalen und akustischen Unerträglichkeit dramatisiert erscheinen, macht die fotografische Bildergruppe „The Castle“ die prekären Lebensbedingungen in den Unterkünften in zahlreichen Details unmissverständlich sichtbar. Für beide Serien hat Mosse die militärische Wärmekamera eingesetzt, auch um die Individualität der Geflüchteten zu schützen.
Die chinesische Künstlerin Sao Fei, Foto: Petra Kammann
Durch ihre intensive Auseinandersetzung mit digitalen Medien und dem rapiden gesellschaftlichen Wandel in ihrem Heimatland China gehört die in Peking lebende und arbeitende Cao Fei inzwischen zu den einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart. Sie stellte ihre Arbeiten unter anderem auf den Biennalen von Shanghai, Moskau, Taipeh, Sydney und Istanbul und Venedig aus sowie in der Serpentine Gallery, in der Tate Modern London, dem Palais de Tokyo oder dem Centre Pompidou in Paris. Gemeinsam mit dem Technologiephilosophen und Autor von On the Existence of Digital Objects Yuk Hui, der derzeit als Wissenschaftler und Dozent an der Leuphana Universität Lüneburg und Gastprofessor an der Chinesischen Hochschule der Künste in Hangzhou doziert, sprach sie außerdem im Rahmen des RAY Festivals über ihre Film- und Fotoarbeit „Haze and Fog“ und über die zentralen Aspekte ihrer künstlerischen Praxis. In ihren Filmen und Installationen mischen sich auf geradezu surrealistische Weise Sozialkritik, gegenwärtige Ästhetik und Dokumentarismus. In ihren multimedialen Arbeiten – sowohl in ihren Fotos als auch in ihren Filmen – reflektiert die chinesische Künstlerinnen rasanten und chaotischen Wandel, den die chinesische Gesellschaft derzeit durchlebt und verarbeitet somit die tiefgreifenden Veränderungen, die ihr Heimatland China im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums durchläuft.
„Haze and Fog“ zeigt in einer fotografisch angelegten Serie und einem 46-minütigen Spielfilm das fiktive Porträt einer unter Identitätsverlust leidenden Dienstleistungsgesellschaft, indem Sao Fei eine der neu erbauten Wohnsiedlungen Beijings in einen „Hort der rastlosen Untoten“ verwandelt. Sie stellt damit das rigide Klassensystem, in dem nur wenige wohlhabende Konsumenten auf ein uniformiertes Heer aus Putzkräften, Lieferanten, Maklern, Hausangestellten und Prostituierten zurückgreifen können, an den Pranger. Der Titel „Haze and Fog“, der sich vordergründig auf die enorme Luftverschmutzung Beijings zu beziehen scheint, deutet ebenfalls auf die zunehmende Vernebelung des Geisteszustands der Menschen in vergleichbarer Lage hin.
↑↓ Foto-Stills aus Cao Feis, „Haze and Fog“ 2013, Courtesy of the artist and Vitamin Creative Space
Für Paulo Nazareth bedeutet das moderne Nomadentum nochmal etwas anderes. Er hat das Laufen zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Praxis erklärt. Um seine Herkunft als Brasilianer mit indigenen europäischen und brasilianischen Wurzeln auf die Spur zu kommen, durchquert er, völlig allein, zu Fuß ganze Länder und Kontinente. Die auf seinem Weg entstehenden fotografischen und filmischen Serien, Schriftstücke sowie die von ihm gefundene Objekte erzählen von den Begegnungen und Randgeschichten seiner Reisen, von der Verständigung und und den Widerständen, kolonialer Geschichte und globaler Gegenwart. Jenseits von Landesgrenzen spannt Nazareth ein Netz zwischen Individuen und Gemeinschaften und stellt dem Konzept der Nationalstaatlichkeit Spuren transkultureller positiver Verbindungen und Aneignungen gegenüber.
Auf 33 Monitoren, die in der hohen Eingangshalle des MMK 1 auf schlichten Paletten stehen, sind unterschiedliche teils zerfledderte nationale Flaggen zu sehen, die nicht etwa stolz im Wind wehen. Das Symbol der Nation wirkt ein wenig ruiniert, ausgedient und wenig werbewirksam für ihre Länder. Wichtiger erscheinen die in Polyester eingeschlossenen Konsumprodukte, welche „die Welt“ in Wirklichkeit „regieren“.
Paulo Nazareth hat diese so unscheinbaren, aber symbolisch starken Filme auf seinen Wanderungen um die ganze Welt gedreht. Will er uns damit sagen, dass das Nationale eigentlich gar keine Bedeutung mehr hat? Und besonders jetzt, wo wir in den verschiedensten Ländern eine neue Blütezeit des Nationalismus erleben? Der Fluch der digitalen Welt mit ihrer totalen Entgrenzung, die alten Grenzen sich wieder schließen lässt, scheint die Sehnsucht nach unmittelbar heftigen Erfahrungen aufkeimen zu lassen…
Bedarf es einer weiteren Aktualität, um sich eine Ausstellung zu rechtfertigen? Es liegt am Betrachter dies für sich zu entscheiden.
↑ Paulo Nazareth, Produtos do Genocidio, 2018, Installationsansicht/Installation view, Courtesy the artist, Mendes Wood DM and Meyer Riegger, Foto/Photo: Axel Schneider
↓ Peter Gorschlüter erläutert die Werke des Brasilianers Paulo Nazareth, Foto: Petra Kammann