Erinnerung, gesellschaftliche Gegenwart und Zukunft im Fokus von goEast
Ein Großes Aufgebot von Regisseurinnen
Eindrücke vom 18. Festival des mittel- und osteuropäischen Films.
von Renate Feyerbacher
Die Filme aus den Ländern Mittel- und Osteuropas gehören zu den besten der Welt …
Preisverleihung, Foto: Renate Feyerbacher
Sie sind vertreten auf der BERLINALE, beim Filmfestival in Cannes und bei den Filmfestspielen in Venedig. Der Film der polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska „Mug“ / Fratze“, für den sie den Silbernen Bären – Großer Preis de Jury auf der BERLINALE erhielt, war der Eröffnungsfilm von goEast am 18. April in Wiesbaden. Sein Hauptdarsteller, der mehrfach ausgezeichnete Mateusz Kosciukiewicz, saß in der Wettbewerbs-Jury von goEast, die 16 Spiel- und Dokumentarfilme, an denen sich 20 Länder beteiligt hatten, beurteilten. Hochkarätig besetzt war die Jury, deren Vorsitzende die bedeutende, in Budapest geborene Ildikó Enyedi war. Sie hatte 2017 den Goldenen Bären der BERLINALE für ihren Film „Body and Soul“ gewonnen, der auch für den Oscar nominiert war. Mitentscheider war der Regisseur und Produzent Peter Kerekes aus der Slowakei, dessen Produktion, bestehend aus fünf Kurzfilmen, „Okkupation 1968“, ein von vier Regisseurinnen und einem Regisseur aus den Ländern des Warschauer Paktes gedrehter Dokumentarfilm, gezeigt wurde. Sie schildern die Ereignisse des Pragers Frühlings aus Sicht der Besatzer. Persönliche Äußerungen werden unterbrochen von Archivmaterial und Originalbildern aus der Zeit der Besatzung.
Außerdem gehörten der Jury Gennady Kofman an, Produzent, einer der Gründer des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Menschenrechte in Kiew, sowie die Regisseurin, Drehbuchautorin, Cutterin und VJane (Moderatorin) Elena Tikhonova aus Rußland an. Sie vergaben am 24. April die Goldene Lilie, den Preis für den Besten Film, an „November“ des estnischen Regisseurs Rainer Sarnet. Das düstere Folklore-Märchen aus dem 19. Jahrhundert, produziert von Estland, Niederlanden und Polen, wurde mit 10.000 Euro belohnt. Es wimmelt von seltsamen Gestalten, Werwölfen, Geistern und Kreaturen, die ihr Unwesen treiben. Heidnische Brauchtümer mischen sich mit christlichen Ritualen und die bäuerliche Bevölkerung versucht zu überleben. Den Menschen ist jedes Mittel recht, das heißt es wird gestohlen. „Was sich auf estnischem Boden befindet, gehört den Esten“, ist das Motto der Bediensteten im Schloss des Barons. Es wird betrogen und Seelen werden verkauft. Auch Liebe spielt eine Rolle. Gedreht wurde in Schwarz-Weiß nach dem Erfolgsroman Rehepapp des estnischen Schriftstellers, Kinderbuch- und Drehbuchautors Andrus Kivirähk. Der Film hatte bisher über 80 Prozent der Zuschauer seit 2017 gefallen.
Der Dokumentarfilm „A woman captured / Eine gefangene Frau“ der ungarischen Regisseurin und Cutterin Bernadett Tuza-Ritter, eine ungarisch- deutsche Produktion, wurde mit dem Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie ausgezeichnet und mit dem Preis der FIPRESCI (Fédération Internationale de la Presse Cinématographique).
Marish ist eine von geschätzten 1,2 Millionen Menschen in Europa, die als Sklavinnen / Sklaven in Privathaushalten schuften. Sie arbeitet ohne Bezahlung und muß auch noch das Geld, das sie in der Fabrik verdient, abgeben. Angeblich können Polizei und Behörden nichts gegen diese Ausbeutung tun. Wieso ist so etwas in Europa überhaupt möglich? Die Regisseurin, die Marish 18 Monate begleitete, hilft ihr, sich gegen Ausbeutung zu wehren, um wieder frei zu sein.
„Marish“ aus dem Film „Eine gefangener Frau“; Foto: go east
Den Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt wurde der 1979 in Belgrad geborenen Mila Turajlic zuerkannt. Sie ist Gründerin und Präsidentin von DocSerbia, Verband der serbischen Dokumentarfilmerinnen und –filmer. „The other side of everything / Die andere Seite von allem“ und ihr Film wurde von der Jury des International Documentary Filmfestival Amsterdam (IDFA) zum besten Dokumentarfilm gekürt. Es ist eine politische Chronik einer Familie in Jugoslawien, heute Serbien, erzählt auf der Grundlage der Wohnung in Belgrad, wo die Mutter der Regisseurin, Srbijanka Turajlic, lebt. Sie war eine Gallionsfigur von OTPOR (Widerstand), die am 5. Oktober 2000 entscheidend an den Protesten Hunderttausender in Belgrad beteiligt war und zum Sturz von Slobodan Milosevic führte.
Die Mathematikprofessorin lebt in einem Haus, das ihr Großvater erbauen ließ, und in einer Wohnung, deren eine Hälfte seit 70 Jahren durch eine fest verschlossene Tür unzugänglich ist. Hier wartet eine Familiengeschichte, die ein Bild des Landes und der politischen Tumulte über die Jahre zeichnet. Im Gespräch mit ihrer Mutter, die sich damals als Aktivistin einsetzte, werden Fragen von Verantwortung einer jeden Generation in Bezug auf die Zukunft aufgeworfen. Die Geschehnisse in Serbien werden von Mila hinterfragt. Die Mutter rät zu mehr Mut und Initiative, Mila jedoch zweifelt, ob es sich überhaupt noch lohnt, in Serbien zu bleiben. Ein persönliches Polit-Drama, kombiniert mit Dokumentar- Aufnahmen Jugoslawiens / Serbiens, das von der Geschichte des Landes aus ungewöhnlicher Perspektive erzählt.
„Die Eisschwimmerin“; Copyright GoEast
Humor, Einfühlungsvermögen und Melancholie paaren sich im Film„Ice Mother / Die Eisschwimmerin“. Der tschechische Regisseur Bohdan Sláma ist bei goEast kein Unbekannter. 2012 war er mit seinem Beitrag „Four Suns / Vier Sonnen“ im Wettbewerb vertreten. Auch hier verliert er, obwohl es viel Ärger gibt und eine Katastrophe unausweichlich ist, nicht den Humor. In Deutschland wurde er 2009 durch„The country teacher / Der Dorflehrer“ bekannt, für den er mehrere Preise erhielt.
„Die Eisschwimmerin“ offenbart die Monotonie im Leben der Witwe Hana und die familiären Spannungen, wenn die zwei Söhne mit Familien zum Wochenende kommen. Längst haben sich die Söhne entfremdet. Sonst gibt es keine Ereignisse mehr für Hana in der alten Villa, in der sie lebt. Enkel Ivanek ist genervt und gelangweilt und büchst beim Einkaufen aus. Hana findet ihn bei den Eisschwimmern am Fluß. Sie lernt Brona kennen, der mit seinen zwölf Hühnern in einem ausrangierten Omnibus lebt. Köstliche Szenen. Hana und Brona beginnen eine Romanze, und sie steigt in den eiskalten Fluß, in dem sie letztendlich alleine schwimmt. Ein einfühlsames Portrait über die Liebe im Alter trotz mißlungenem Sex, aber gelungenem Versuch, aus der Lethargie auszubrechen und dem Leben einen neuen Sinn zu geben.
„Once upon a time in November / Es war einmal im November“ des gebürtigen Warschauers Andrzej Jakimowski, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, ist ein erschreckendes Porträt über eine aggressive Gesellschaft, die den sozialen Absturz aus der Mittelschicht beschleunigt. Jakimowskis 2007 gedrehter Spielfilm „Kleine Tricks“, mehrfach ausgezeichnet, als Beitrag Polens für den Oscar eingereicht, erzählt von einen kleinen Jungen, der seinen Vater sucht, der die Familie verlassen hatte.
Der neue Film „Es war einmal im November“ von 2017 ist politisch hochbrisant. Er beobachtet die Aufmärsche von Patrioten und Rechtsextremen, die in jedem Jahr am polnischen Unabhängigkeitstag mitten in Warschau stattfinden. Im Herbst 2016 waren 60.000 daran beteiligt und es kam zu heftigtsen Auseinandersetzungen am 11. November. „Großes Polen!“ Katholisches Polen!“ brüllen die zerstörenden, plündernden Rechtsextremen. In die Originalaufnahmen hat Jakimowski die Geschichte vom Jurastudenten Mareczek und seiner Mutter, einer Lehrerin, die nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung obdachlos werden und bürokratischer Willkür ausgesetzt sind, hinein konstruiert. Die Suche nach einer Bleibe in Notunterkünften vor allen Dingen für die Mutter, die den Hund nicht aufgeben will, ist schier aussichtslos. Trotz aller Schwierigkeiten versucht der Student, sein Leben weiter zu organisieren und nicht abzugleiten. Andrzej Jakimowski stand im Filmmuseum in Frankfurt dem Publikum Rede und Antwort.
Andrzej Jakimowski und die Koproduzentin Katarzyna Kucia, Foto : Renate Feyerbacher
„Falling / Kopfüber / Fallen“ ist das Spielfilmdebüt der ukrainischen Filmemacherin Marina Stepanska. Sie skizziert die Geschichte zweier verwirrter junger Menschen aus der post-revolutionären, ukrainischen Generation. Der junge Komponist ist drogenabhängig und findet Rettung im klinischen Entzug. Nach Kiew zurück gekehrt, lebt er unter den wachsamen Augen seines Großvaters. Ein Generationenkonflikt ist unausweichlich. Er begegnet Katya, einst bei den Maidan-Demonstrationen aktiv, heute aber total desillusioniert und bereit, mit einem Freund nach Berlin auszuwandern. Das gibt sie auf, weil sie fühlt, der wahren Liebe begegnet zu sein. Es ist eine Liebesgeschichte ohne euphorische Glücksgefühle, sondern pragmatisch-nüchtern. Die jungen Menschen sind auf der Suche nach ihrem Platz in der ukrainischen Gesellschaft. Authentisches Spiel der Darsteller, eine filigrane Zeichnung ihrer Gesichter.
„Falling“ Filmplakat, Foto: Renate Feyerbacher
Im letzten Jahr widmete goEast der ungarischen Filmemacherin Márta Mészáros (*1931) die Hommage. Im Oktober 2017 wurde sie mit dem Kurt-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet. Ihr diesjähriger Film „Aurora Borealis“, nach acht Jahren Schweigen, wurde von 3Sat angekauft.
Die Wiener Anwältin Olga hat ungarische Wurzeln. Ihren Partner Antonio, Vater ihres Sohnes, der in Barcelona arbeitet, sieht sie selten. Beide sind total eingespannt in ihrem Beruf. Unerwartet kommt die Meldung aus Budapest, dass ihre Mutter Maria ins Koma fiel. Obwohl die beiden Frauen nie viel miteinander sprachen, fährt Olga zu ihr und kümmert sich um sie. Nun muß Olga erfahren, dass ihre Mutter viele Geheimnisse hatte und sie beginnt nachzuforschen, nach Namen zu suchen, Gesichter zu entschlüsseln. Es wird eine Zeitreise in die sowjetische Besatzung Österreichs und Ungarns. Was sie erfährt, überschreitet ihre Vorstellungskraft und stellt ihre doch im Grunde genommen gesicherte Persönlichkeit infrage. Leugnung der Vergangenheit, Suche nach den familiären Wurzeln und den Folgen des stalinistischen Regimes der Nachkriegszeit sind lebenslang Themen der Filmemacherin. „Ich will fortfahren zu leben und um nach der Wahrheit zu suchen“, sagte die deutsche Jüdin Edith Stein (1891-1942), die Nonne wurde und in Auschwitz ermordet wurde. Über sie machte Regisseurin Márta Mészáros 1995 eine Filmbiografie. Steins Motto hat sie übernommen. Wieder ist der großen alten Dame des ungarischen Films ein nachdenkliches Porträt starker Frauenfiguren gelungen. Die Hauptdarstellerinen Ildikó Tóth als Olga, vor allem Mari Töröcsik als Maria und Franciska Töröcsik als junge Maria begeistern.
Filmplakat Aurora Borealis, Foto: Renate Feyerbacher
Die diejährige Hommage galt Boris Khlebnikov, der 1972 in Moskau geboren wurde. Sein Beitrag „Arrhythmia“ (Unregelmäßigkeit) war 2017 der meistdiskutierte Film in Rußland. Oleg ist Notarzt, engagiert und begeistert von seinem Beruf, verheiratet mit einer Ärztin, in einer Einzimmerwohnung wohnend, bürokratische Richtlinien manchmal mißachtend, trinkt er zu viel. Die verzweifelte Katya teilt ihm eines Tages mit, dass sie sich scheiden lassen will. „Einfühlsam und mit skurrilem Humor inszeniert Boris Khlebnikov diese gesellschaftskritische Liebesgeschichte.“ (Programmheft)
Heleen Gerritsen, Foto: Renate Feyerbacher
Die neue Leiterin von goEast Heleen Gerritsen und ihr Team haben politische, soziale Schwerpunkte gesetzt. Sie selbst gefiel mit ihrer Moderation. Im Vorfeld hatte sie geschrieben: „Die Gefahr ist groß, in alte von Angst getriebene Muster zu verfallen. Doch es gibt auch Grund für Optimismus, denn hier wie dort sorgen kreative Kräfte für Vielfalt, allen voran die Filmkunst“. In 101 Beiträgen zeigten Filmschaffende aus Mittel- und Osteuropa eine enorme Bandbreite von Themen. Die gegenwärtige Weltpolitik und die sozialen Entwicklungen liefern vielfältigen Stoff. goEast stand auch in diesem Jahr wieder im Zeichen der Frauen wie schon 2017.
Mich persönlich faszinieren die Werke aufgrund ihrer filmischen Professionalität, aber auch wegen der Schilderungen des Alltags in ihren Ländern. Viel ist zu erfahren vom Leben der Menschen, wichtig ist die Erinnerung an historische Fakten. goEast war wieder ein unschätzbarer Juwel unter den Filmfestivals.