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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Kafkas Amerika Fragment „Der Verschollene“ im Theater Willy Praml

Ein szenischer, pulsierender Parcours durch das Naxos Gelände

von Renate Feyerbacher

Fotos: Seweryn Zelazny / Theater Willy Praml

Theaterplakat, fotografiert von Renate Feyerbacher

Im März 2018 war Premiere des dritten Teils der Trilogie „Nachdenken über Amerika: Franz Kafkas Amerikafragment „Der Verschollene“. Bereits 2014 hatte Willy Praml Edward Albees (1928-2016) Erstlingswerk „Die Zoogeschichte“ inszeniert, die 1959 im Berliner Schillertheater uraufgeführt wurde. „Amerika erklären. Walt Whitman“ hatte im Herbst 2017 Premiere. In der Zoogeschichte streiten sich zwei Männer, Peter kultiviert, aus bürgerlichen Verhältnissen, vielleicht Buchverleger, Jerry, ein Absteiger, vielleicht intellektueller Hartz IV-Empfänger auf einer Parkbank im Central Park. Eine zufällige Begegnung. Makaber, wie Jerry Peter für immer von der Parkbank vertreibt. Der amerikanische Dichter Walt Whitmann (1819-1892) thematisiert in seiner Lyrik die Schönheit der Natur, die Demokratie seines Landes, Gleichberechtigung der Geschlechter und bisexuelle Neigungen. „Leaves of grass“ („Grashalme“) ist sein lyrisches Hauptwerk. Lyrik auf der Bühne? Die Kritiken sind voll des Lobes über Willy Pramls Regieeinfälle, über den unterhaltsamen Bilderreigen, über Michael Webers Bühne und Paula Kerns Kostüme.

Kafkas „Der Verschollene“ vollendet die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Aktualität des ‚Amerikanischen Traums‘.

Die Naxoshalle ist eine außergewöhnliche Spielstätte, die Regisseur Willy Praml, Gründer des nach ihm benannten Theaters, immer wieder geschickt und neu auszunutzen weiß. Diesmal hat er nicht nur die Naxoshalle, sondern auch die Umgebung zur Spielstätte gemacht. Das heißt, es werden das denkmalgeschützte ehemalige Verwaltungsgebäude der Naxos-Union, zum modernen Bürohaus umgestaltet, sowie die Dachterrassen einbezogen, sowie auch die die Naxoshalle umgebenden Genossenschaftshäuser. Sie wurden unter dem Motto ‚Kafka und gemeinschaftliches Wohnen‘ von den drei Baugemeinschaften bzw. Baugenossenschaften für einige Abende zur Verfügung gestellt. Von dort oben blicken die Zuschauer auf das Spielgeschehen, das sich auf den gegenüberliegenden Terrassen und in den darunter liegenden Treppenhausfenstern abspielt und sie haben vor allem einen wunderbaren Blick auf Mainhattan, die Skyline Frankfurts. Eine eindrucksvolle  Kulisse für Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“, das drei Jahre nach dem Tod von Franz Kafka (1883-1924) von Max Brod herausgegeben wurde. Kafka hatte den Titel „Der Verschollene“ geplant. Er, der nie in Amerika war, wollte einen Anti-Amerika-Roman schreiben und ihn in Beziehung zu den Erzählungen „Das Urteil“ und „Die  Verwandlung“ setzen.

Elisabeth Marie Leistikow, Claudio Vilardo, Birgit Heuser, Foto: Seweryn Zelazny / Theater Willy Praml

Um was geht es? Der 16jährige Karl Roßmann wird von seinen armen Eltern nach Amerika verbannt, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und von ihm ein Kind bekommen hatte. Verstoß gegen den Moralkodex. Die Angst vor der Zahlung von Alimenten und der niedrige Stand der Mutter seines Kindes werden die Eltern dazu bewogen haben. Sie fürchteten einen Skandal. In Amerika erwartet ihn ein Onkel, der zu Erfolg gelangt ist. Als Karl in New York ankommt und bereits vom Schiff gehen will, merkt er, dass er seinen Regenschirm vergessen hat. Der naive junge Mann vertraut seinen Koffer mit seiner kompletten Habe einem Unbekannten an, um eiligst den Schirm zu holen. Aber er verirrt sich und landet in der Kajüte des Heizers. Sie freunden sich an und Karl, der Gerechtigkeit sucht, ist bereit, den Heizer zum Kapitän zu begleiten, um sich über die Ungerechtigkeiten des Obermaschinisten zu beschweren. Dort begegnet Karl erstmals seinem Onkel, dem Herrn Senator, der unmissverständlich die Rolle des Vaters übernimmt und Karl in die unmündige Rolle des Sohns zwingt. Dabei wollte und sollte er doch sein Leben auf eigene Faust in Ordnung bringen. Beim Onkel lebt er unmündig wie in einem goldenen Käfig.  Und als Karl selbst einmal eine Entscheidung trifft und er gegen den Willen des Onkels einen Abend bei einem Geschäftsfreund verbringt, wird er vom Onkel rausgeschmissen. Mit der Verstoßung beginnt sein sozialer Abstieg. Karl sucht Arbeit, begegnet zwei Vagabunden, einem Franzosen und dem Iren Robinson. Als letzterer betrunken im Hotel auftaucht, in dem Karl als Liftboy arbeitet, verlässt Karl kurz seinen Posten, um Robinson im Schlafraum der Liftboys unterzubringen. Sein Fehlen am Lift wird von allen Oberen verurteilt, ohne dass er sich rechtfertigen kann. Eine Schlüsselszene des Romans und auch in der Inszenierung.

Claudio Vilardo, Virginia V. Hartmann, Foto: Seweryn Zelazny / Theater Willy Praml

Keiner der Oberen will seine Gründe hören. Er verliert seine Stelle: „Es war allerdings schneller gegangen als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er konnte und gewiss besser als manch anderer Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil – weder in Europa noch in Amerika – Rücksicht genommen, sondern es wird so entschieden, wie es einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt.“ Nach einer Anstellung als Diener bei der dicken Brunelda, einer ehemaligen Opernsängerin, landet er beim Naturtheater in Oklahoma, „das jeden brauchen kann“. Da er keine Papiere besitzt, wird er nur als technischer Arbeiter angestellt. Weder in der Heimat noch in Amerika kann sich Karl frei verwirklichen. Statt der Fackel hat die Freiheitsstatue ein Schwert in der Hand.

„Eine Stunde über Aus-dem-Fenster-Springen nachgedacht“, notierte Kafka in sein Tagebuch. „Der Verschollene“ blieb Fragment. Hatte Kafka sich ein solches Ende für Karl ausgedacht?

Elisabeth Marie Leistikow, Anja Signitzer, Foto: Seweryn Zelazny / Theater Willy Praml

Im Naxos-Gelände gibt es mehrere Spielorte. Rote und blaue Bändchen werden verteilt, um die Besucher in zwei Gruppen aufzuteilen. Damit alle zum Beispiel im Theaterfoyer oder in der Höhe der großen Halle alles mitbekommen, gibt es Live-Videoaufzeichnungen. Drei junge Darstellerinnen verkörpern Karl wie überhaupt jede/r mehrere Rollen hat. Der vielschichtige Bilderbogen, der das vierstündige Geschehen geschickt und lebendig realisiert, beruht auf der Idee und dem Konzept von Willy Praml und Michael Weber, der auch den Text verfasste, die Dramaturgie übernahm, die Räume gestaltete und sogar selbst spielte. Birgit Heuser brilliert als dicke Brunelda, die Szene in der Höhe zieht sich allerdings hin. Ein großer, klappriger Straßenkreuzer fährt in die Halle. Von einer Schaukel aus, montiert im Hallendach, blickt Karl auf die Straßen New Yorks, die auch von Bunnies belebt werden. Der Aufzug im Naxos-Union-Haus dient als Hotellift und auf den Dachterrassen der Genossenschaftshäuser ist das Landhaus. Jede Menge ‚verrückte‘ Regieeinfälle hat sich Regisseur Willy Praml ausgedacht, ohne die Gedanken Kafkas dabei zu vernachlässigen. Die Filme, die eingespielt werden, machte Rebekka Waitz, die vorzüglich die Livekamera führt. Das Ensemble meistert den anstrengenden Abend erstaunlich locker und wird vom Publikum gefeiert.

Muawia Harb, Darsteller, Rebekka Waitz, Filme und Livekamera, Willy Praml, Ibrahim Mahmoud, Darsteller, Foto: Renate Feyerbacher

Am 26. Mai wird im „Haus am Dom“ der Walter Dirks-Tag begangen und der Theatermacher Willy Praml wird mit dem Walter-und Marianne-Dirks-Preis geehrt, der alle zwei Jahre vergeben wird. Walter Dirks, der linkskatholische Publizist, Schriftsteller und Journalist wurde 1943 mit Schreibverbot belegt, gründete nach dem Krieg die Frankfurter CDU, gab mit Eugen Kogon und Clemens Münster die Frankfurter Hefte heraus, mit Theordor W. Adorno die Frankfurter Beiträge zur Soziologie und war über ein Jahrzehnt Leiter des Kulturresorts beim WDR.

 

Weitere Vorstellungen von „Kafka Amerika – Der Verschollene“ sind am  24., 25. Mai und am 14., 15. und 22. Juni 2018.

Letzte Aufführungen von Walt Whitman „Amerika erklären“ sind am 12. und 13. Mai.

Edward Albees „ Die Zoogeschichte“ gibt es am 16. und 21. Juni.

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