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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

11. LICHTER Filmfest in Frankfurt mit dem Thema „CHAOS“

Wieder ein Ereignis ganz ohne Chaos

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

Chaos – Das Plakat

Auch in diesem Jahr hat das Team um Festivaldirektor Gregor Maria Schubert und die stellvertretende Direktorin Johanna Süß ein ausgefallenes Programm auf die Beine gestellt. Unterstützt wurden sie wie immer von etwa 40 hauptsächlich ehrenamtlich engagierten Filmemachern, Medienexperten und Filmliebhabern.

v.l.n.r.: Johanna Süß, Saul Judd, Kurator verantwortlich für die Videokunst, Gunter Deller, Filmemacher, Programmgestalter Mal Seh’n Kino, Lehrbeauftragter, Gregor Maria Schubert

Es gab neue Aktionen wie den „Light Rider“, das erste Autoscooterkino der Welt in der Naxoshalle, das themengerecht chaotisch begann oder den „Kongress Zukunft deutscher Film“, zu dem 50 große und kleine Filmschaffende kamen, sowie ein neues Festivalzentrum, das Gesellschaftshaus des Zoos. Treu geblieben ist LICHTER dem Mal Seh’n-Kino und dem Deutschen Filmmuseum. Neu hin zukamen das Arthaus-Kino Harmonie in Sachsenhausen und der filmklub in Offenbach.  Die Besucherzahl konnte auch noch einmal beachtlich gesteigert werden. Ganze 13 000 Besucher kamen in sechs Tagen zu den Filmen, die dem Thema „Chaos“ gewidmet waren. Eine Idee, die schon länger existierte, die aber gerade jetzt vehement das weltpolitisch-gesellschaftliche Geschehen kennzeichnet.

Die Preisverleihung

Aus neun Beiträgen im regionalen Langfilm-Wettbewerb der Dr. Marschner Stiftung wurde „Männerfreundschaften“ von Rosa von Praunheim ausgezeichnet. Der Filmemacher, Journalist, Schriftsteller und Maler, 1942 in Riga geboren, in früheren Zeiten in Frankfurt-Praunheim ansässig, ist einer der Vorkämpfer der Schwulenbewegung. In seinem Spiel-Dokumentarfilm geht er der Frage nach: „Wie schwul war Goethe? Und wie sieht es mit seinen Zeitgenossen aus?“ Briefwechsel, Lyrik, dramatische Texte werden von Literaturwissenschaftlern und Historikern kommentiert. Die Jury war begeistert,wie von Praunheim:„amüsiert, schärflich und schwül durch die Parklandschaften der Literaturwissenschaft lustwandelt“ und die Liebhaber Goethes, Schillers und Gleims befragt. Von Praunheim bedankte sich per Video mit Perücke und historischem Outfit.

Rosa von Praunheim am 28.3.2014 anlässlich seiner Ausstellung in der Galerie Hanna Bekker vom Rath

Der LICHTER Feature Award für den besten Langfilm aus dem Internationalen Programm konnte Lisa Brühlmann für ihr Regie-Debüt „Blue My Mind“ entgegennehmen. Die 37-jährige Schweizer Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin erhielt bereits für ihr Werk den Schweizer Filmpreis 2018. In ihrem Regie-Debüt geht es um die 15-jährige Mia. die einen überwältigenden Umbruch, der ihre ganze Existenz in Frage stellt, erlebt. Ihr Körper verändert sich radikal. Auch wenn sie verzweifelt versucht, die Verwandlung aufzuhalten, muss sie bald akzeptieren, dass die Natur stärker ist. „Es geht darum, zur eigenen Natur zu finden. Die Hauptfigur entdeckt im Film ihre weibliche Urkraft [..] Die Botschaft darin ist, sich selbst zu lieben“, sagt die Preisträgerin in einem Gespräch.

Peter Meister 1987 in Bonn geboren, in Bensheim aufgewachsen, in Mainz studiert, in Hessen seine Filmfirma gegründet und gerne dort geblieben, gewann den  Preis für den besten Regionalen Kurzspielfilm „Horizont“, der von drei Schiffbrüchigen auf hoher See handelt. Einer soll verspeist werden, die Frage ist, wer? In ihrer Begründung schreibt die Jury: „Peter Meister zeigt ein Machtspiel, in dem jeder taktiert oder taktieren muss, um seine Haut zu retten. Das Kammerspiel beschreibt ein klassisches Dilemma. Wie viel bleibt von unserer Moral, wie viel bleibt von unseren demokratischen Übereinkünften, wenn es ums nackte Überleben geht?“

Mit dem Binding Kulturpreis, dotiert mit 2.000 Euro und einem Kasten Bier, wurde Margarita Cadenas aus Venezuela ausgezeichnet. Ihr Dokumentarfilm „Women of the Venezuelan Chaos“ erzählt von fünf Frauen und deren Lebenssituation in den letzten Jahren. Die Filmemacherin bedankte sich überglücklich per Video aus Venezuela. Das Bier muss wohl in Frankfurt getrunken werden.

Zum zweiten Mal präsentierte LICHTER das Festival speziell für VR Brillen entwickelte 360-Grad-Filme. Siebzig Einreichungen erreichten den international ausgeschriebenen Wettbewerb Virtual Reality Storytelling. Der Gewinner des LICHTER VR Award war der Franzose Pierre Zandrowicz für seinen vierzehnminütigen Science Fiction Beitrag „I, Philip“.

„Die erste VR-Fiction – 23 Jahre nach dem Tod von Philip K. Dick im Jahr 2005 – präsentiert der Robotik-Designer David Hanson seinen ersten menschlichen Androiden, „Phil“. I, Philip erzählt aus der subjektiven Perspektive von Phil, wie dieser Menschen begegnet, mit ihnen spricht und sich an eine Liebesgeschichte erinnert. Handelt es sich hierbei um eine Erinnerung aus dem Leben des echten Philip K. Dick?“ (Zitat arte360 VR)

Den LICHTER Art Award, der zeitgenössische Videokunst belohnt, nahm Jacob Engel für„Waiting for Record“ mit nach Hause. Über neunzig Werke wurden eingereicht, die vor allem der langjährige, leitende Kurator Saul Judd zu begutachten hatte.

Jakob Engel, geboren 1988 in Hamburg, wo er als freier Künstler, Filmemacher, Theatermacher und Musiker lebt, hat hinter die Kulissen eines Theaters geblickt und  das Leben von Jamil Jalla bobachtet. Der afghanische Filmemacher und Schauspieler wartet in Berlin auf seine Bewilligung des Asylantrages und arbeitet währenddessen als Putzkraft  im Theater.

Edgar Reitz im Zoogesellschaftshaus

Zukunft deutscher Film

Edgar Reitz, Schöpfer der Filme „Die Heimat“ und „Die neue Heimat,“ war Schirmherr des 9. LICHTER Filmfestes. In einer engagierten Rede setzte er sich damals für den deutschen Film ein, zeichnete Missstände auf, lobte und forderte mehr Engagement. Auch in diesem Jahr war Edgar Reitz wieder dabei. Er war der Impulsgeber für den Kongress „Zukunft Deutscher Film“. Beklagt wurde, dass sich das System von Filmherstellung und -verbreitung in Deutschland in einer Sackgasse befinde. „Es ist auf der Produktionsseite von verknöcherten Strukturen, langen Entscheidungswegen und faulen künstlerischen Kompromissen gekennzeichnet und auf der Distributionsseite von einem grundlegenden Wandel der Medienwelt betroffen“, heißt es im Vorspann des zehnseitigen Ergebnispapiers, das von den Filmschaffenden erarbeitet und autorisiert wurde. Ein wichtiger Punkt verlangt ein „klares Bekenntnis zum Kinofilm der Kunstfreiheit, kein Etikettenschwindel. Wir halten es für dringend geboten, gegen die drohende Monokultur des deutschen Gremienfilms wieder einen Kinofilm der Kunstfreiheit zu ermöglichen und entschieden zu stärken – ein Kinofilm, der sich auch in inhaltliche und ästhetische Extreme wagt.“

Edgar Reitz war auch mit einem eigenen Produkt beim 11. LICHTER vertreten: mit „Geschichten vom Kübelkind“, 16 Millimeter-Kurzfilme, die er 1969-1971 mit der Regisseurin Ula Stöckl drehte. Beteiligt waren damals nur Freundinnen und Freunde an den erotisch-anstößigen Spektakeln. Die FSK urteilte seinerzeit:  „Die Geschichten vom Kübelkind, einem Außenseiter der Gesellschaft, sind für Jugendliche unter 18 Jahren verwirrend und unvollständig. Der Film ist randvoll mit unsittlichen Redensarten. Die Verunglimpfung religiöser Werte, hier wohl als Parodie, ist für Jugendliche im höchsten Grade abträglich. Dazu kommt die Darstellung des Sexuellen in einer Form, die Jugendliche verwirren und abstoßen muss (Masturbation des Kübelkindes im Gerstenfeld usw.). Auch die Sequenzen, in denen das Kübelkind erwürgt und erhängt wird, sowie das Ersäufen weiterer Kübelkinder sind dazu angetan, Jugendliche in ihrer Entwicklung schwer zu beeinträchtigen.“

Der junge, gigolo-anmutende Werner Herzog spielt darin einen Huren-Mörder.

Bereits auf der diesjährigen BERLINALE wurden die restaurierten Experimental-Filmchen zusammen mit Robert Fischers Dokumentation „Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien“ gezeigt.

Im Frankfurter Mal Seh’n-Kino war die Vorführung bestes angesiedelt, denn ursprünglich wurden diese Kurzfilme in einer Kneipe gezeigt und die Besucher konnten per ‚Kübelkind-Speisekarte‘ Filme auswählen – so auch im Frankfurter Kino.

Vorführung von Minifilmen – Revival einer Tradition: hier die Kübelkind-Leinwand

Vorher hatte Edgar Reitz von der Entstehung erzählt. Davon, dass die Minifilme  ab 1969 in der Münchner Kneipe vorgeführt wurden, die vis à vis von Ula Stöckls Wohnung lag. Zwei Jahre lang habe er Abend für Abend den Projektor bedient. Irgendwie waren die Filme dann auf einmal verschollen und als ein Wohnungswechsel bevorstand und er den Keller zusammen mit seinem Sohn ausräumte, fand er sie.

Eröffnet wurde das Festival mit „Home“, einem Film der flämischen Regisseurin Fien Troch, der bereits internationale Preise gewann. Die 1978 geborene Regisseurin drehte erstmals mit Jugendlichen, mit Teenagern, die sie spielen ließ. Ihr Mann, der Schriftsteller Nico Leunen, war Co-Autor und Cutter. „Home“ ist jedoch keineswegs ein Teenie-Film, sondern ein Autorenfilm, der sich mit Generationskonflikten, Missbrauch und Gewalt auseinandersetzt. Kevin, aus der Jugendhaft entlassen, hat seine Fäuste noch immer nicht im Griff. Lina ist unehrlich und kann in der Beziehung nicht treu sein und John ist dem Missbrauchs-Wahnsinn seiner gestörten Mutter ausgesetzt, den er schließlich nicht mehr aushält.Keine gute Figur machen dabei die überforderten Lehrer und Eltern. Ein tiefgründig-emotionaler Film, den es auszuhalten gilt, mit starken Bildern, der dem Thema „Chaos“ entspricht.  

Neue deutsche Filme

Die Schlange vor dem Frankfurter Art-Kino „Harmonie“ reichte bis auf die Straße. Hier wurde die Hessenpremiere von „Transit“, dem neuen Film von Christian Petzold, der das Buch schrieb und Regie führte, gezeigt. Für viele Filmkritiker war er einer der Favoriten für einen Bären beim BERLINALE-Wettbewerb. Kein einziger Preis war ihm beschieden. Für „Barbara“ mit Nina Hoss erhielt Petzold 2012 den Silbernen Bären für die Beste Regie. „Transit“ beruht auf dem gleichnamigen, im Exil geschriebenen Buch von Anna Seghers.

Es beschreibt die Flucht von Georg, der im letzten Moment den deutschen Truppen entkommt, die vor Paris stehen. Von Marseille aus plant Georg mit der Hinterlassenschaft und Identität des Schriftstellers Weidel im Gepäck, welcher sich das Leben nahm, nach Mexiko zu flüchten. Aber die Begegnung mit Marie, die nichts vom Tod ihres Mannes weiß, der immer wieder Leute sagen, sie hätten Weidel gesehen, verändert seinen Entschluss. Petzold verzahnt die Geschichten von verschiedenen Flüchtlingen mit der von Georg. Sie alle sind Wartende, möchten abreisen und können es nicht. Er verschränkt Historie mit Gegenwart, alte mit neuen Flüchtlingsgeschichten. Paula Beer als Marie und Franz Rogowski als Georg sind Zeitgenossen. Viel Sorgfalt hat der Regisseur auf die Personenführung verwandt. „Flucht ist der Normalzustand“, hat Petzold in einem Interview gesagt. „Transit“ ist ein Drama der Ungewissheiten.

Der Film „In den Gängen“, der auf der BERLINALE auch leer ausging, war der Abschlussfilm des Festivals – ein schönes, trauriges Melodrama des 1981 in Leipzig geborenen Regisseurs Thomas Stuber. Zusammen mit Autor Clemens Meyer, auf dessen Kurzgeschichte der Film basiert, entwickelte er das Drehbuch. Franz Rogowski spielt neben Sandra Hüller („Toni Erdmann“) den schweigsamen Neuling in einem ostdeutschen Großmarkt.

Christian lernt es, den Gabelstapler durch die langen Gänge des Warenlagers im wahrsten Sinne des Wortes zu jonglieren. Das ist faszinierend.

Die Story, die dem realistischen Alltag eines im Osten angesiedelten Betriebs sehr nahe kommt, ihn vielleicht sogar dokumentiert, überzeugt – „eine Choreografie von Menschen und Dingen, Realität, Sehnsucht und Traum.“ Peter Kurth als Bruno nimmt Christian unter seine freundschaftlichen Fittiche. Eine Rolle, die er eindrucksvoll verkörpert. Die drei  Personen Christian, Marion und Bruno und deren Biografien gliedern den Film. Die zarte Liebesgeschichte zwischen Christian und Marion wirkt fein und berührend.

Aufsehen erregt auch das Filmdebüt „Wildes Herz“ von Charly Hübner, der nicht nur ein außergewöhnlicher Film-, sondern auch Theaterschauspieler ist. Er ist Träger des Gertrud-Eysoldt-Rings. Seinen Dokumentarfilm, den er mit Sebastian Schulz realisierte, begleitet die Punkrockband Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern, die unter dem Motto „noch nicht komplett im Arsch“ gegen Rechtsradikalismus ansingt. Im Mittelpunkt steht der wuchtige charismatische Sänger Jan „Monchi“ Gorkow. Hübner hatte bereits in der ARD-Serie „16 x Deutschland“ einen Beitrag über sein Heimatland gemacht und dabei Monchi kennengelernt, der in einem Interview sagt: „Wir waren alle in der Christenlehre. Für meine Eltern in der DDR war Christsein Anderssein. Unser erster Probenraum war der Gemeinderaum, da, wo die Faschos nicht waren. Die christlichen Grundpfeiler stehen. Die zehn Gebote hab ich auf den Schlag parat.“ (Zitat aus dem Gespräch mit Michael Pilz aus DIE WELT digital vom 15.4.2018).

Das 11. LICHTER Filmfest war rundherum ein Erfolg. Gute Filme, aber auch Kommunikation waren gefragt. Das Engagement in Sachen deutscher Film hat bundesweit ein Zeichen gesetzt und kann Anschub für Neuerungen sein. Die Frankfurter Positionen zur Zukunft des Deutschen Films, die von etwa fünfzig Filmschaffenden erstellt wurden, enthalten konkrete Forderungen und Vorschläge. „Was wir vom Kino noch wollen“ beschäftigte sich mit der „hartnäckigen Immunität der Deutschen gegenüber Kinokultur“. Ging 2017 statistisch gesehen jeder Deutsche 1,5 Mal ins Kino, so taten das die Franzosen 3,1 Mal, die Briten 2,6 Mal und die Spanier 2,1 Mal. Da stellt sich die Frage: was muss gegen die Kinomüdigkeit der Deutschen getan werden?

 

 

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