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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Mein BERLINALE-Tagebuch von der 68. Berlinale 2018

 

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

Ohne Akkreditierung bei der Berlinale ist es mühsam, Karten für die Filme zu ergattern. Es ist vor allen Dingen schwierig, aufgrund weniger Informationen den richtigen Film auszusuchen. Drei Tage vor Beginn des Festivals sitzen wir also Punkt 10 Uhr am Computer. Das Pokerspiel beginnt. Karten für Filme wie „Transit“ nach dem Roman von Anna Seghers des deutschen Regisseurs Christian Petzold oder „3 Tage in Quiberon“ über ein Fotoshooting von Romy Schneider der in Berlin geborenen deutsch-französisch-iranischen Regisseurin Emily Atef sind gar nicht zu bekommen.

24 Filme sind im Wettbewerb, davon 5 ‚Außer Konkurrenz‘. Fast vierhundert Streifen sind im Angebot in den Sektionen Wettbewerb, Berlinale Special, Berlinale Shorts, Panorama, Forum, Forum Expanded, Generation Lang- und Kurzfilme, Perspektive deutsches Kino, Retrospektive, Kulinarisches Kino, Native Filme und Berlinale Talents.

Der Berlinale Palast

Die Eröffnung im Berlinale Palast mit der in exquisiter, grüner Robe gehüllten Anke Engelke, die als Moderatorin diesmal nicht so faszinierte, sah ich also im Fernsehen. Viel internationale Prominenz war gekommen. Der Andrang von Fans, die ihre Stars auf dem Roten Teppich begrüßen wollen, ist erdrückend. Die „Me too“-Debatte beherrscht die Gespräche. Einige weibliche Stars hatten gefordert, den Roten Teppich in einen schwarzen auszutauschen und in schwarzer Robe zu kommen. Einige Schauspielerinen taten das, andere erschienen wie immer in aufreizender Garderobe. Es ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, bei dem sich auch männliche Filmgrößen gockelhaft bewegten.

Der Deutsche Beitrag „Transit“, der vielen als Favorit galt, ging komplett leer aus.

TOUCH MENOT©MANEKINO FILM, ROHFILM PRODUCTIONS, PINK, AGITPROP, LES FILMS DE L’ETRANGER

Dennoch hatte ich bei der Auswahl der Filme ein gutes Gespür. Drei wurden mit Preisen ausgezeichnet. Nicht gesehen habe ich den Gewinner des Goldenen Bären für den Besten Film „Touch Me not“. (Preis für die Produzenten). Die Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF) stiftete außerdem 50.000 Euro. Ich hatte diesen Film bei meiner Filmauswahl verworfen, obwohl ich früher selbst Sendungen über Behinderung und Sexualität geschrieben und Gespräche mit Betroffenen geführt hatte. Ich hatte keine Lust, die verschiedenen Facetten von Sexualität von Menschen, die mit ihrem Körper Schwierigkeiten haben, anzusehen. „Laura kann sich nicht berühren lassen. Sie schreckt zurück, wenn jemand sie anfasst oder ihre Hand ergreift. Sie sucht einen Therapeuten auf, bestellt sich einen Callboy, aber ihr Körper bleibt ein Panzer“.

Menschen jeden Alters mit und ohne Behinderung hat Regisseurin Adina Pintilie vor die Kamera geholt. Die rumänische Künstlerin, Kuratorin des Bukarest International Eperimental Film Festival, hat in einer laborartigen Atmosphäre gearbeitet. Ihre kühlen Bilder sollen dem Zuschauer helfen, „sich von vorgefassten Meinungen und Vorstellungen zu befreien.“ (Zitate Berlinale-Heft „Wettbewerb“). Das hat die internationale Jury um den deutschen Filmregisseur Tom Tykwer („Das Parfüm“, „Babylon Berlin“) bewogen, diesen Beitrag zu krönen. Freunde erzählten mir allerdings, dass Zuschauer reihenweise das Kino verlassen hätten.

Vereinzelt öffneten sich immer wieder die Türen des Kinosaals im Haus der Berliner Festspiele, wo der Beitrag „Mein Bruder heisst Robert und ist ein Idiot“, lief. Ich konnte die Leute verstehen, die gingen. Ich blieb bis zum bitteren Ende, um mir ein eigenes Urteil zu erlauben. Die deutsch-französisch-schweizer Gemeinschaftsproduktion des deutschen Regisseurs Philip Gröning, der zusammen mit Sabine Timoteo das Drehbuch schrieb, die Kamera führte, zusammen mit Hannes Bruun die Montage verantwortete und als Produzent fungierte, dauert 174 Minuten. Was für ein Kontrast zu seinem Dokumentarfilm „Die große Stille“ (2005), für den er ausgezeichnet wurde.

Elena und Robert sind Zwillinge. Es ist ein Wochenende im Hochsommer. Sie liegen in einem Kornfeld und philosophieren über „Der Sinn des Seins ist die Zeit“. Die Namen Novalis, Brentano, Heidegger fallen. Elena hat am Montag im Fach Philosophie Abiturprüfung. Zwischendurch wird Bier für Robert geholt und Eis für Elena an der naheliegenden Tankstelle, wo man sie von Kindesbeinen an gut kennt. Fotos hängen dort von ihr. Die Geschwister lieben und zanken sich.

Elena fragt Robert und will wissen, ob er mit ihrer besten Freundin schlief. Er antwortet nicht, was darauf hindeutet, dass er es tat. Sie provoziert ihn nun mit der Wette, dass sie vor dem Abitur mit irgendjemandem vögeln wird. Sollte sie verlieren, bekäme er den Golf, sollte sie gewinnen, so könnte er sich etwas von ihr wünschen – allerdings keine Gegenstände, vermutlich inzestiösen Sex.

Kann nur brutale Gewalt den Lösungsprozess der beiden Geschwister in Gang setzen? Sollte das die Realität sein? Ich habe es als Zumutung empfunden, wie Elena den Tankwart, den sie kennt, zum Sex zwingen will, ihn fesselt und schließlich erschießt. Dann die totale Zerstörung und die Schlußeinstellung: Elena im Abitur ruhig, klar über Melodie analysierend. Übergang zur Normalität wohl nicht möglich oder doch?

Monitor beim Berlinale Palast: Die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska

Die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska erhielt den Silbernen Bären für „Twarz“ („Gesicht“) Zu Recht! Bereits 2015 gewann sie diese Auszeichnung für ihren Film „Body“. Der junge Jacek ist ein Draufgänger, ein Außenseiter, passt nicht in das spießig-katholische Swiebodzin (Schwiebus), unweit der deutsch-polnischen Grenze.

Dort wurde vor einigen Jahren die größte Christusstatue der Welt (36 Meter mit Krone) errichtet, initiiert vom Pfarrer des 20 000 Seelen- Dorfes. Das Ende der Bauarbeiten, das Aufsetzen des Christus-Kopfes, es war übrigens der zweite Versuch, beim ersten kippte der Kran um, sind Kernaufnahmen des Films. Jacek ist einer der Arbeiter auf einem Plateau der Baustelle und stürzt von dort in die Tiefe.

Er überlebt, aber sein Gesicht ist entstellt. An Jacek wird die erste Gesichtstransplantation in Polen vollzogen, die 2013 tatsächlich in Gliwice (Gleiwitz) stattgefunden hat. Sie gelingt sowohl in Gliwice als auch im Film. Jacek wird als Held gefeiert, er gibt Interviews. Beim Blick in den Spiegel‚ erkennt‘ er sich jedoch nicht mehr, kommt aber im Laufe der Zeit mit der zurückgebliebenen leichten Entstellung klar. Nicht so seine Verlobte. Sie verlässt ihn. Nicht so seine Familie, die in ihm einen Fremden sieht.  Nur seine Schwester hält zu ihm.

Anfangs spendet die Gemeinde noch für ihn, dann aber ist der Klingelbeutel leer. Nur noch für das kolossale Bauwerk wird der Geldbeutel gezückt. Jaceks Mutter steigert sich sogar in dem Satz: „Ich kenne ihn nicht wieder, er sieht aus wie ein Perverser.“ Eine wahnwitzige Teufelsaustreibung soll das korrigieren.

Ein Film mit großartigen Landschafts – und Klinikaufnahmen, der das dörfliche Leben respektvoll-differenziert ins Auge faßt, aber auch von Traurigkeit ist. Es ist das Umfeld, das Menschen zu Behinderten macht. Eine tieftraurige, böse, spannend erzählte Farce über Identität, über Fremdheit, über den katholischen Glauben in Polen, wie er heute noch existiert. Tausende pilgern nun zur Christusstatue nach Swiebodzin (Schwiebus), vor der sich Supermarkt und Dönerbude postiert haben.

Ein wirklich beeindruckender Film.

LAS HEREDERAS (THE HEIRESSES). Ein Film von Marcelo Martessi ©La Babosa Cine SA, Pandora Filmproduktion, Mutante Cine, Esquina Filmes, Norsk Filmprodujson, La Fabrica Nocturna Productions, Foto: Luis Armando Arteaga

Für ihre Rolle als Chela in dem südamerikanisch-europäisch produzierten Film „Las Herederas“ (Die Erbinnen) wurde Ana Brun als beste Darstellerin mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Sie hat ihn verdient. Die 68jährige spielt im ersten Spielfilm von Marcelo Martinessi, der bisher durch Kurzfilme bekannt wurde, die verklemmte, zurückgezogen lebende Chela, die mit der extrovertierten Chiquita zusammenlebt. Ein lesbisches, zur Oberschicht gehörendes Seniorinnenpaar. Finanzielle Schwierigkeiten zwingt sie, ihr Erbe, an dem sie hängt, zu verkaufen.

Chiquita muss derweil wegen Überschuldung ins Gefängnis. Chela, auf sich allein gestellt, ist nun gezwungen, ihren Kokon zu verlassen. Mit ihrem alten Mercedes bietet sie nun älteren Damen aus der Nachbarschaft Chauffeurdienste an. Ein Tipp einer Nachbarin. Die zwanzig Jahre jüngere Tochter einer dieser Damen und Chela kommen sich näher. Behutsam verändert sich Chela und ihr Leben.

Ana Brun überzeugt durch Feinfühligkeit und Eindringlichkeit, ohne spektakuläres TamTam. Der Film wurde mit dem Silbernen Bären, dem Alfred-Bauer-Preis, mit dem Preis der Internationalen Vereinigung der Filmkritiker und -journalisten (FIPRESCI) ausgezeichnet und für den Teddy Award nominiert .

Am Abend der Aufführung im HAU 1 (Hebbel Theater) gibt es ein großes Aufgebot von Polizei, Hubschrauber kreisen über uns. Wir erfahren, dass eine AfD-aktive Kurdin zum „Marsch der Frauen“ aufgerufen hatte, um gegen die Gefährdung von Frauen in Deutschland aufmerksam zu machen. Es wird demonstriert: gegen den Verlust der Selbstbestimmung, gegen unkontrollierte Masseneinwanderung, gegen die Islamisierung der deutschen Heimat. Gegendemonstranten hatten jedoch die eigentliche Route vermasselt.

„Las Herederas“ ist ein Frauenfilm. Ana Brun ist Rechtsanwältin, ihre Leidenschaft ist jedoch das Theaterspiel in ihrer Heimatstadt Asuncion. Das gesamte Film-Team war im HAU 1 erschienen und Ana Brun, die in der Zeit des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stoessner aufwuchs, der von 1954 bis 1989 an der Macht war, erzählt von den Nöten der Frauen in ihrem Land.

„Bei uns zählen Frauen nichts. Wirklich nichts. Wir sind Beiwerk. Dieser Film gibt uns Gesichter und Stimmen.“ Sehr viel zeige sie in diesem Film von sich. Sie hoffe, dass er dazu beiträgt, die Situation von Frauen in ihrem Land bewußt zu machen und zu verändern.

 

Ana Brun in Las Heredras von Marcelo Martessi©La Babosa Cine SA, Pandora Filmproduktion, Mutante Cine, Esquina Filmes, Norsk Filmprodujson, La Fabrica Nocturna Productions, Photo© Luis Armando Arteaga

Den Preis bei den Männern gewann der junge Franzose Anthony Bajon als Drogen-abhängiger in Cédric Kahns Wettbewerbsbeitrag „La Prière“. Ohne Zweifel, er wird der Rolle gerecht. Ich hätte mir als Preisträger noch andere vorstellen können zum Beispiel Joaquin Phoenix im US-amerikanischen Film „Don’t worry, he won’get far on foot“ Das biografische Drama basiert auf den Erinnerungen des Cartoonisten John Callahan, der als betrunkener Beifahrer eines Zechkumpans am nächsten Morgen querschnittsgelähmt im Krankenhaus erwacht. Verrückt wie er diese Rolle im Rollstuhl meistert.

Bärenwürdig war weder dieser Film noch „La prière“. Der 22 jährige Thomas ist drogenabhängig und er ist bereit, in einer katholischen Gemeinschaft von jungen drogenanhängigen Männern unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft, von seiner Drogensucht loszukommen.

Das Haus liegt abgeschieden in den französischen Bergen. Körperliche Arbeit auf den Feldern, Solidarität und Beten sind die Kernforderungen, die der leitende katholische Pfarrer verlangt. Thomas flippt immer wieder aus, bricht aus. Eine junge Frau macht ihm klar, welche Chance ihm diese Gemeinschaft bietet. Er kehrt zurück, ‚lernt‘ beten, verhält sich solidarisch. Nach einem Vorfall in den Bergen, entwickelt er den Wunsch, Priester zu werden, wenn da nicht die junge Frau wäre.

Der Heilungsprozeß geht in „La prière“ so glatt über die Bühne, manchmal kommt der Gedanke auf, einen Werbefilm über eine katholische Einrichtung zu sehen. Diese Einrichtungen der katholischen Kirche gibt es wirklich. Sie heißen Fazenda da Esperanca (Hof der Hoffnung), eine Initiative brasilianischer Franziskaner. Es gibt sie weltweit auch in der Nähe von Berlin.

Heilt Glaube Drogensucht? So steht eine Frage auf der Webseite der Einrichtung. Sie hätte es verdient, vertieft zu werden. Das Thema ist brisant. Unweigerlich kommen die Filme von Robert Bresson (1901-1999) „Les Anges du péché (Das Hohelied der Liebe oder Engel der Sünde) 1943 und „Journal d’un Curé de Campagne“ (Tagebuch eines Landpfarrers) 1950 in den Sinn, der sich mit dem französischen Katholizismus auseinander-setzt, ihn hinterfragt. Dennoch lohnt sich der Besuch des Films, der faszinierende Naturaufnahmen zeigt und auch inhaltlich wertvoll ist.

„Eva“, von Regisseur Benoit Jacquot, zum vierten Mal Gast des Festivals, der zweite französische Beitrag auf der Berlinale, hat in mir keine Begeisterung ausgelöst, mich eher gleichgültig gelassen. Die Literaturverfilmung nach dem Buch des Engländers James Hadley Chase von 1946 ist eine spannende Geschichte, wird aber im Film nicht spannend erzählt. Ein Betrüger klammert sich an die Edelhure Eva, großartig gespielt von Isabelle Huppert. Bertrand, Callboy eines alten, einst weltberühmten Schriftstellers, ist dabei, als dieser in der Badewanne stirbt. Hilfestellung unterbleibt, er nimmt das Theatermanuskript des Toten an sich und gibt es als das seinige aus. Er wird berühmt, man feiert ihn, aber die Forderung des Verlegers, ein neues Manuskript zu liefern, erfüllt er nicht. Er hofft, dass Eva ihm den Stoff liefert, will sie töten. Aber sie nutzt seine Hörigkeit aus. Ein katastrophales Ende.

Der Berliner Friedrichstadt Palast

Der Moskauer Regisseur Alexey German Jr., Preisträger 2008 in Venedig und 2015 bei der Berlinale, hat dem russisch-jüdischen Schriftsteller Sergei Dovlatov (1941-1990) ein Denkmal gesetzt. In Leningrad wird im November 1971 der Jahrestag der Revolution gefeiert. Die Kreativen der Stadt kommen in privaten Räumen zusammen und klagen über die ökonomische, politische, kulturelle Situation, über die Stagnation, die in der Breschnew-Zeit herrscht. Vergebens hofft Dovlatov, dass seine brillanten, ironischen Texte gedruckt werden. So ergeht es auch seinem Freund, dem Dichter und späteren Nobelpreisträger für Literatur (1987), Joseph Brodsky (1940-1996). Brodsky wird aus der Sowjetunion ausgewiesen und wird seiner Manuskripte beraubt. Dovlatov geht 1978 mit seiner Familie ins Exil, in die USA. Inzwischen wird er in Rußland viel gelesen.

Einige Szenen, die vom Treffen der Künstler in den engen Wohnungen handeln, sind leider zu lang geraten.

Dovlatov“ ist ein interessantes, ideenreich inszeniertes, anspruchsvolles Zeitdokument, das auch über den Fund von dreißig Kinderleichen aus dem Zweiten Weltkrieg aufklärt. Elena Okopnaya erhielt den Silbernen Bären für ihre herausragende künstlerische Leistung im Bereich Kostüm und Produktion Design. Ein Film, der nicht verpasst werden sollte. 

„Toppen av ingenting“ (The Real Estate) aus Schweden ist verrückt und abgedreht. Eine reiche Immobilienerbin findet eine marode, vernachlässigte Immobilie vor, die, während sie im Ausland weilte, von ihrem Halbbruder und dessen alkoholsüchtigen Sohn verwaltet wurde. Keiner der Mieter hat einen legalen Vertrag. Das Erbe wird zum Fluch. Unglaublich das Ende, dass nicht verraten werden darf.

Außer Konkurrenz lief der Film „7 Tage in Entebbe“ (USA / Großbritannien) des Brasilianers José Padiha. Ein Faktenfilm, der an die dramatische Entführung einer Passagiermaschine der Air France 1976 durch den deutschen Terroristen Wilfried Böse erinnert, eindrucksvoll gespielt von Daniel Brühl, und Brigitte Kuhlmann (Rosamund Pike) – beide Mitglieder der Revolutionären Zellen – und palästinensische Terroristen. Beim streng geheim gehaltenen israelischen Einsatz auf dem Flughafen von Entebbe werden sie erschossen.

Der Einsatzleiter der Aktion, Yonathan Netanyahu, älterer Bruder des heutigen Ministerpräsidenten Israels, wird von Idi Amins Milizen getötet. Die 100 meist israelischen Geiseln, die eine Woche in der Gewalt der Terroristen waren, werden befreit. Gründlich recherchiert, basierend auf dem Buch des Historikers Saul David, kommen beide Seiten zu Wort. Angedeutet werden auch die konflikthaften Gefühle der deutschen Terroristen gegenüber den jüdischen Geiseln, die es tatsächlich gegeben hat. Sie wollten es anders machen als die Nazis. „7 Tage in Entebbe“ ein nachdenkliches Zeitdokument über Angst, Gewalt, Zerstörung und Selbstszerstörung hätte die Teilnahme im Wettbewerb verdient. Der Regisseur hat das Geschehen in die berühmte Performance von Ohad Naharins „Echad Mi Yodea“ von 1990 des Batsheva –Ensemble eingebunden. (Erklärung im Internet: „Echad – mi jodea“ ist ein Lied, das in Kurzform die Grundpfeiler der Welt beschreibt, in die die Kinder Israels in der Pessach-Nacht aufbrechen.“) Der Tanz ist die Metapher für den nicht enden wollenden Teufelskreis zwischen Israel und Palästina, Symbol auch für den Wunsch, diesen Konflikt zu beenden. Die Tänzer entledigen sich nach und nach ihrer orthodoxen Kleidung, schwarzer Anzug, nur einer sackt leblos zusammen. Eine wirklich starke Szene !

Auch „Usane“ (Ausgeliefert) – außer Konkurrenz , Uraufführung in Berlin – des Oscar preisgekrönten, amerikanischen Autors und Regisseurs Stephen Soderbergh ist ein spannender Film über Stalker, über die Frage Einbildung oder Realität, über unseren Überlebensinstinkt und das System, das uns eigentlich schützen sollte. Eine junge Frau verlässt ihre Heimatstadt, um dem Stalker zu entfliehen, sie sucht freiwillig Hilfe in einer psychiatrischen Einrichtung und wird gegen ihren Willen eingewiesen. Keiner glaubt ihr.

Man wird an die unfreiwillige, jahrelange Einweisung von Gustl Mollath in die Psychiatrie erinnert. Ihm haben die Ärzte auch ebenso wenig  geglaubt wie der jungen Frau im Film. Was ihr in der amerikanischen Einrichtung passiert, ist unvorstellbar. Großartig ist das Spiel von Claire Foy als junge Frau und David Strine als Stalker. Ein wahrhaft aufregender Berlinale-Beitrag.

„Black 47“ – auch nicht im Wettbewerb – spielt in Irland im Jahre 1847. Der Ire Martin Feeney, der für England in Afghanistan kämpfte, ist desertiert und kehrt in seine Heimat zurück. Er findet die schlimmste Not vor. Kartoffelfäule hat die Ernte vernichtet, eine Million Menschen bereits dahin gerafft. Feeneys Mutter verhungerte, der Bruder wurde erhängt. Mit seiner Schwägerin und ihren Kindern will er in die USA auswandern. Dazu kommt es nicht, weil sie ermordet werden. Er beginnt einen blutigen Rachefeldzug quer durch die soziale und politische Hierarchie Irlands. Ihn stoppen soll Inspector Hobson, der ihn aus Afghanistan kennt.

Lance Daly, der in Dublin geborene Regisseur, hat aus diesem historischen Ereignis einen Western gemacht. Schade, denn dieses Kapitel englischer Kolonialzeit hätte eine andere Form gebraucht. Dennoch sollte man ihn anschauen.

 

„Àga“ – auch außer Konkurrenz – eine bulgarisch-deutsch-französische Produktion von Milko Lazarov, gedreht in der Eiswüste Jakutiens im Nordosten Sibiriens. (Der junge Pianist Alexander Koryakin kommt aus Jakutien (https://www.feuilletonfrankfurt.de/2017/10/04/der-junge-russische-pianist-alexander-koryakin-im-hauskonzert-von-viviane-goergen) )

Diese feine Erzählung, ein Liebesfilm von einem alten Ehepaar, beginnt mit Sednas Spiel auf der Maultrommel. Sie hat Krebs, aber über ihre Lippen kommt keine Klage. Gerne würde sie mit ihrem Mann, dem Rentierjäger Nanook über die Tochter Àga reden, die vor Jahren weit wegzog und in einer Diamantenmine arbeitet. Sedna weiß, dass sie sterben wird. Was wird aus Nanook, der nicht über Ága reden will. Ein einfühlsames Ende. Wie schaffen es diese Menschen, die Inuit, die in Sibirien Yuit = „echte Leute“ heißen, zu überleben?

Die Naturaufnahmen, vor allem der Eissturm, sind überwältigend. Eine großartige filmische Leistung des Teams. Was für ein mühseliger Alltag. Ein Beitrag, der den Zuschauer dazu bringen kann, über westliche Sattheit, über Unzufriedenheit, über Gier, über den Umgang mit Krankheit nachzudenken.

Wie dieses alte Paar miteinander umgeht, die Naturereignisse miteinander meistert, das hat mich berührt.

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