„L’Africaine – Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer an der Oper Frankfurt
Vom Seefahrer zum Raumfahrer
Und die Geschichte von Selika, der realistischen, aufopfernden Fremden
Text: Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt
Kräftige Bravo- und kräftige Buhrufe beendeten den außergewöhnlichen Premierenabend am 25. Februar. Regisseur Tobias Kratzer, 1980 in Landshut geboren, Studium an der Bayerischen Theaterakademie August Everding, hat mit seinem langjährigen Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier ein Science-Fiction-Spektakel kreiert, das die Buhrufer provozierte. Einhellig wurden dagegen das Sängerensemble und die Musiker gefeiert.
Das Ensemble der Oper Frankfurt, Foto Monika Ritters / Oper Frankfurt
Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (1469-1524) entdeckte Indien, wurde dort Vizekönig und leitete die sogenannte Blütezeit des portugiesischen Kolonialismus ein. Seine „Helden“-Taten wurden von Luis de Camoes in dem Epos „Die Lusiaden“ (erster Druck 1572) verherrlicht. Meyerbeer, der von Schriftsteller und Librettist Eugène Scribe gedrängt wurde, sich mit dem Thema „L’Africaine“ zu beschäftigen, stieß schließlich auf dieses portugiesische Nationalepos und er veränderte seine bisherige Absicht, eine spanisch-afrikanische Geschichte zu vertonen.
Aus dem erfundenen Entdecker wurde die historische Figur Vasco da Gama. Scribe schrieb in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten das Libretto, in dem die Liebesgeschichte zwischen Ines, Vasco und Selika im Mittelpunkt steht. Ines, Vascos Freundin, wird von ihrem Vater zur Heirat mit dem politisch einflussreichen Don Pedro gedrängt. Sie verweigert die Heirat. Sklavin Selika, die Vasco zusammen mit Nelusko aus Afrika mitbrachte, hat sich in Vasco verliebt. Nicht Vasco wird mit der neuen Indien-Expedition beauftragt, sondern Don Pedro. Da der Großinquisitor von Lissabon eine unbedachte Äußerung Vascos vor der Ratsversammlung als Gotteslästerung einstuft, muss dieser in den Kerker, aus dem ihn nur Ines befreien kann, indem sie gezwungenermaßen Don Pedro heiratet. Mit ihm bricht sie nach Indien auf. Er nimmt Nelusko, der dem Schiff des Don Pedro als Kompass dienen soll, und Selika mit. Vasco da Gama ist Don Pedros Schiff mit seinem eigenen Schiff gefolgt. Nelusko führt jedoch auf den falschen Kurs, um die Besatzung und mit ihm die Welt des alten Europa untergehen zu lassen. Schließlich entern Nelusko und Selika Don Pedros Schiff und verüben ein Massaker an der Besatzung. Nur Ines und einige Frauen sowie Vasco überleben. Selika, die sich als Königin ihres indischen Volkes entpuppt, gibt Vasco, den sie innig liebt, als ihren Gatten aus. Denn, wenn ein Fremder die heilige Erde ihres Landes entweiht, muss er sterben. Ines und die Frauen sollen dagegen unter dem totbringenden Manzanillo-Baum sterben. Aber Ines überlebt und Selika erkennt die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu Vasco, der Ines nicht vergessen kann, und verzichtet. Nachdem sie die beiden hat ziehen lassen, wählt sie den Freitod unter dem giftigen Baum.
v.l.n.r. Claudia Mahnke (Selika), Kirsten MacKinnon (Ines) und Michael Spyres (Vasco da Gama)
Aus dem Seefahrer Vasco da Gama wurde ein Raumfahrer, aus den Fremden Avatare, Fantasiewesen. Tobias Kratzer spricht von Meyerbeers Geschichtspessimismus, den er in die Zukunft weiterzudenken versucht. „indem ich die Afrikanerin als eine Art Science-Fiction-Epos erzähle“. 1865, im Jahr der Uraufführung von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „L‘ Africaine“ in Paris, erschien Jules Vernes „Reise zum Mond“ und wenig später die Fortsetzung „Reise um den Mond“ – also Science-Fiction-Romane in der Hochphase des Kolonialismus. „Ausgehend von diesem Punkt haben wir beschlossen, das kolportagehafte Element bewusst zu übersteigern und aus der Afrikanerin, die ja ohnehin keine Afrikanerin ist, gleich ein Wesen von einem anderen Stern zu machen […] wir wollen kein fiktionales, blackgefacetes, exotisierendes Bild von Afrika, Indien oder sonst einem Land wählen.“ (Zitat Programmheft S.23)
Die Geschichte ins All und in die Forschungslabors zu verlegen, hatte mich anfangs verdutzt und ich hatte einige Zeit Schwierigkeiten mit der Umdeutung, die aber konsequent logisch aufgebaut und inszeniert ist. Meisterhaft die Umgestaltung. Gestört hat mich allerdings die Akrobatik im All, sie war zwar gekonnt von den Flugartistinnen Susanne Beschorner und Simone Kieltyka vom Kölner Flugtheater ANGELS Aerials ausgeführt, lenkte jedoch zu viel ab, wurde von anderen wiederum aber als Theater-Gag beklatscht. Rainer Sellmaier schuf fünf überzeugend-passende Bühnenbilder, belebt durch Videos von Manuel Braun und dem Lichtdesign von Jan Hartmann. Die portugiesischen Seefahrer steckte er in Raumanzüge, die indischen Sklaven, Selika und Nelusko und die Vertreter ihres Volkes verfremdete er grundlegend. Bläulich sind ihre Gesichter und Hände, enganliegend ihre bläulich gemusterten Jumpsuits mit Überwurf oder am Ende bei Selika mit Goldschmuck über der Brust.
Zum dritten Mal setzt sich Kratzer mit einer Meyerbeer-Oper auseinander. Zuvor hat er sich Richard Wagner gewidmet. Dieser (1813-1883) trug wesentlich dazu bei, dass die Werke von Giacomo Meyerbeer (1791-1864), der hundert Jahre lang die beherrschende Figur des europäischen Musiktheaters war, von der Opernbühne verschwanden. Meyerbeer, ursprünglich Jakob Liebmann Meyer Beer, Sohn einer reichen, jüdischen Berliner Familie, konnte in Darmstadt, Wien, an verschiedenen Orten Italiens, in Berlin und schließlich in Paris das Komponieren erlernen und ausüben.
Wagner, der bei seinem ersten Paris-Aufenthalt (1838-1842) Meyerbeers Hilfe erbat und erfuhr, polemisierte acht Jahre später in seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ gegen ihn. Er hatte es zunächst anonym, später unter seinem Namen veröffentlicht. Ab 1933 verbot dann der Wagner-Fan Hitler jegliche Aufführungen von Meyerbeers Werken auf deutschen Bühnen. Und nach dem Krieg dauerte es über vier Jahrzehnte, bis der Komponist wieder entdeckt wurde. In den letzten Jahren kam die Meyerbeer-Renaissance in Fahrt: 2013 wagte sich das Theater Chemnitz als erste Bühne an die rekonstruierte Originalfassung. Die Deutsche Oper Berlin folgte 2015. Die Berliner Inszenierung von Vera Nemirova war jedoch konventionell mit portugiesisch-indischem Bezug.
v.l.n.r. Brian Mulligan (Nelusko), Claudia Mahnke (Selika), Michael Spyres (Vasco da Gama), Kirsten MacKinnon (Ines) und Andreas Bauer (Don Pedro) sowie im Hintergrund die Statisterie der Oper Frankfurt
Die einen mögen die Musik des deutschen Komponisten, die andern lästern wie Kollege Wagner. Lange hat Meyerbeer an der Partitur der Afrikanerin gearbeitet, zeitweilig blieb sie jahrelang unbearbeitet liegen. Er verstarb wenige Wochen nach Probenbeginn, da war die endgültige Werkgestalt noch nicht fertig. Seine letzte Grand Opéra, deren Form er entwickelte, kommt teils bombastisch daher, hat aber auch sehr lyrische Momemte, vor allem, wenn Selika Abschied von Vasco nimmt. Es gibt viele musikalische stilistische Kontraste, die der Oper viel Spannung geben, gewaltige Chöre (Einstudierung Tilman Michael). Vor allem ist der Komponist dem Belcanto verpflichtet – so zu hören in den Arien von Vasco, Selika, Nelusko, Ines und Don Pedro.
Der US-amerikanische Tenor Michael Spyres, international gefragt, der erstmals an der Oper Frankfurt singt, ist einer der herausragenden Sänger seines Faches. Unangestrengt meistert er die komplizierte Helden-Partie – ein ruhmsüchtiger Macho. Brian Mulligan als Nelusko singt mit sonorem Timbre immer wieder wuchtig ausbrechend. Am Samstag, den 3. März, gibt es die Wiederaufnahme der Oper „Die Passagierin“, in der er die Partie des Tadeusz wieder übernimmt.
Bass Andreas Bauer, international aktiv und seit Jahren Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, als Don Pedro, Thomas Faulkner als Don Diego, Magnús Baldvinsson als Großinquisitor und Oberpriester des Brahma sowie Michael McCown als Don Alvar, sie alle gefallen als Vertreter der herrschenden weißen Klasse.
Claudia Mahnke als Selika sowie Chor und Extrachor der Oper Frankfurt
Eine Entdeckung des Abends ist die junge Kanadierin Kirsten MacKinnon als Ines. Für die Preisträgerin der Metropolitan Opera National Council Auditions 2017 ist es das Deutschland-Debüt. Bereits im nächsten Jahr wird sie zum Frankfurter Ensemble gehören. Eine klare Sopranstimme, die ohne Anstrengung die Höhen meistert.
Der sängerische Lorbeerkranz des Abends gehört Claudia Mahnke als Selika. Ihrer Judith in Herzog Blaubarts Burg, ihrer Marie in Wozzeck, um nur zwei Beispiele ihrer großartigen Opernabende zu nennen, fügt sie als Selika einen weiteren Höhepunkt hinzu. Ihr Mezzosopran verzaubert. Auch ihr Spiel fasziniert. Wie sie über den Boden kriecht, gleitet und ihre Hände ähnlich Tempeltänzerinnen einsetzt, das ist einfach grandios.
Antonella Manacorda, Künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam, musiziert mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester so spannend wie einfühlsam.
Weitere Aufführungen in französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln am 2., 11., 16., (danach Oper lieben), 23., 31. März und zum letzten Mal an Ostermontag, den 2. April. Der Besucher sollte viel Zeit einplanen: die Oper dauert 4 Stunden und 30 Minuten mit zwei Pausen. Ein außergewöhnliches Opern-Kino-Spektakel !