„Ausgezeichnet: Kartografie des Weiblichen“ Die LitProm-Literaturtage und 30 Jahre LiBeraturpreis
Nachdenken über den großen „kleinen Unterschied“.
Wie wirkt er sich auf die Romankunst aus?
Ein Interview mit Lucien Leitess, Verleger des Unionsverlags
Von Petra Kammann
← Der Verleger Lucien Leitess
Am vergangenen Wochenende (26,/27.1.2018) wurde im Rahmen der diesjährigen Litprom-Literaturtage im Frankfurter Literaturhaus der 30. LiBeraturpreis gefeiert, der ausschließlich Autorinnen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und der arabischen Welt auszeichnet. Der Preis wurde 1986 zunächst von einer kirchlich-entwicklungspolitisch engagierten Gruppe gestartet und an Autorinnen aus Afrika, Lateinamerika, Asien und dem arabischen Raum vergeben. Inzwischen hat die Auszeichnung längst internationale Strahlkraft erlangt. Unter dem Motto „Ausgezeichnet: Kartografie des Weiblichen“ kamen Autorinnen aus aller Welt ins Literaturhaus und sprachen über Themen, die sie um- und antreiben und was für sie über alle Grenzen hinweg weibliches Schreiben bedeutet. Die Autorinnen diskutierten in Werkstattgesprächen mit dem Publikum. Präsent bei der Veranstaltung waren neben vielen „Bücherfrauen“, LiBeraturpreisträgerinnen, Autorinnen, Moderator*innen und Leser*innen u.a. der Verleger des Unionsverlags Zürich, Lucien Leitess, der über vier Jahrzehnte die spannende außereuropäische Literatur veröffentlicht hat, deren Autoren bei uns zunächst völlig unbekannt waren. Nicht immer eine leichte Angelegenheit. „Gerettet“ haben ihn Autoren wie die Nobel- und Friedenspreisträger Nagib Machfus, Yasar Kemal, Assia Djebar oder Mo Yan… Grund für FeuilletonFrankfurt, ihm ein paar Fragen zu stellen.
Petra Kammann: Herr Leitess, damals gab es eine kleine Fan-Gemeinde und etliche politische Gruppen, die Solidarität mit der so genannten Dritten Welt bekunden wollten. Viele Bücher der Autor*innen aus diesen Ländern wurden zum Beispiel in Dritte-Welt-Läden und -Einrichtungen verkauft. Heute sind sie auch in großen Buchhandlungen präsent. Erste Preisträgerin war damals Maryse Condé aus Guadeloupe, eine Autorin Ihres Verlagshauses. Was hat sich in den 30 Jahren für Autorinnen aus diesen Kontinenten und Regionen verändert?
Lucien Leitess: Die ganze Welt hat sich verändert! Damals reiste ich zu einer Tagung nach Kairo zum Thema „Arabische Literatur“. Beim Aussteigen aus dem Flieger fragte mich auf der Gangway eine namhafte deutsche Kritikerin: „Gibt es das überhaupt, eine arabische Literatur?“ Inzwischen sind alle Kulturräume rund um die Welt auf unserer literarischen Weltkarte präsent geworden. Vielleicht nicht alle mit dem angemessenen Gewicht, aber die Welt der Literatur ist definitiv keine Scheibe mehr.
Gibt es heute für die Autor*innen noch einen Markt? Oder ist es vielmehr für die Autor*innen leichter geworden, einen Verlag zu finden, weil die Welt globaler und damit kleiner geworden ist?
Der Markt, das ist ja die Leserschaft. Sie ist gewachsen. Früher war das Lesen von Literatur aus dem Süden eine oft politische Entscheidung. Neu sind Leser* innen hinzugekommen, die ganz einfach starke, welthaltige Geschichten suchen. Sie schätzen kraftvolle Texte, die von Konflikten und echten Lebensproblemen erzählen und zudem in starken Farben und Tönen geschrieben sind.
Sie selbst sind bis heute ein unabhängiger Verleger, der seit mehr als vier Jahrzehnten außereuropäische Literatur in der Schweiz verlegt. Wie kamen Sie dazu? War die Neutralität der Schweiz ein besonders guter Nährboden?
Neutralität … Naja. Die Schweiz ist ja durchaus ein imperialistischer Giftzwerg gewesen. Ohne eigene Kolonien, aber gerne zu Diensten, wenn es um schmutzige Gelder, Rohstoff-Ausbeutung und Steuervorteile ging. Dass wir von Zürich aus in die Welt schauen, halte ich eher für einen biografischen Zufall. Aber tatsächlich: Bis zum Mauerfall waren viele literarische Energien in Westdeutschland durch die Erkundung der DDR gebunden, damals war die Neugier für außereuropäische Autor*innen in der Schweiz proportional etwas größer.
War es damals nicht ein absolutes Minderheitenprogramm und hat es Sie nie an den Rand des Ruins geführt? Da Sie anfangs sicher keine Bestseller-Auflagen hatten, frage ich, wer Sie unterstützt hat, wenn das Programm einmal nicht lief?
Im Gegenteil … Die vielen großen Autoren, die wir entdecken durften, haben uns über die Jahre zu Wachstum und Stabilität verholfen. Nagib Machfus, Yasar Kemal, Assia Djebar, Mo Yan, um nur die Nobel- und Friedenspreise zu nennen, wurden mit den Jahren zu Säulen unseres Überlebens. Wenn zwischendurch wieder mal ein schwieriges Jahr zu bewältigen war, tröstete uns die Gewissheit, dass diese Autoren in ihren Ländern jedes Kind kennt. Minderheitenprogramm waren sie bei der Lancierung nur hierzulande. Europa war in jenen Jahren diesbezüglich schrecklich provinziell. Ich erzähle gerne die Anekdote: Von Nagib Machfus haben wir in drei Jahren 300 Exemplare verkauft, und nach dem Nobelpreis in drei Minuten dreißigtausend Exemplare.
Bedurfte es im Jahr 2018 noch des Themas „Ausgezeichnet: Die Kartographie des Weiblichen?“, das als Motto über den mit dem Preis verbundenen Literaturtagen stand?
Bei der Leserschaft haben heutzutage weibliche Schriftsteller keinen Startnachteil mehr, denke ich. Im Buchhandel haben sie es beim Start oft sogar leichter als die männlichen Kollegen. Da aber in allen Ländern der Welt, beileibe nicht nur im Süden, die Lebenserfahrung immer noch von Benachteiligung geprägt ist, tut es sicher gut, über die belletristischen Folgen dieses großen „kleinen Unterschieds“ nachzudenken: Wie wirkt er sich auf die Romankunst aus? Auf Themen und Formen? Bis hin zur Frage: Ist es überhaupt legitim, von einer Autorin einen „weiblichen Blick“ und „Frauenthemen“ zu erwarten? Wo werden solche Erwartungen zur neokolonialen Bevormundung im wohlmeinenden Gewande?
Die senegalesische Autorin Ken Bugul
Schreiben Frauen heute anders? Schreiben sie vor allem über Frauenthemen? Was bedeutet das für sie in den verschiedenen Ländern?
Die schönen Überraschungsmomente der LiBeratur-Tagung waren für mich jene, wo Autorinnen sich klug und witzig gegen pauschale Erwartungen und Urteile verwahrt haben. Als zum Beispiel Ken Bugul (bekannt vor allem durch: „Die Nacht des Baobab“) heiter von den senegalesischen Frauen sprach, die schon längst die Strippen ziehen und sich auch großherzig um das Wohlergehen der „garçons“, der Männer, kümmern. Die einzige legitime Erwartung an jede einzelne Autorin ist doch, dass sie als Literatin ihre ganz eigene Stimme hat. Wer entscheidet denn, was „ein Frauenthema“ ist? Sie selbst und niemand anders. Zum Glück nicht der europäische Verlagslektor, nicht die Marketing-Abteilung des Großverlags, nicht der Rezensions-Koordinator des Feuilletons, nicht der Bestenlisten-Juror, nicht die Zentraleinkäuferin der Buchhandelskette. So hoffen wir doch! Das ethnografisch/ soziokulturelle Überstülpen von Kriterien und Kategorien beim Blick auf die nichteuropäische Außenwelt sitzt seit Jahrhunderten tief in unserer Geistestradition, schon fast in unseren Genen. Vielleicht wäre es nützlich, jedem Forschungskongress, jeder Forschungstagung, und sei sie literarisch, einen Selbsterforschungsteil voranzustellen. Dann könnte man als erstes die falschen, paternalistischen und pauschalisierenden Erwartungen eliminieren.
Wie viele Autorinnen haben Sie heute im Programm?
Ich gestehe, dass ich das neu nachzählen musste, weil wir ja keine Quotenregelung bei der Programmarbeit praktizieren und nie aufgrund des Geschlechts entscheiden. In den 42 Jahren Verlagsgeschichte sind es 137 Autorinnen und 367 Autoren (bei 967 Werken in 36 Sprachen aus 126 Ländern). Ist dieser Frauenanteil ungenügend? Widerspiegelt er vielleicht die Verteilung in der internationalen Literatur der letzten hundert Jahre? Stoff zum Nachdenken.
Welche Rolle spielt für Ihre Verlagsarbeit die Übersetzungsförderung?
Übersetzungsförderung ist äußerst wirksam und hilfreich. Die Übersetzungskosten sind für jeden Verlag eine Hürde, weil sie die Schwelle bis zur Kostendeckung verdoppeln. Wenn sie wegfallen, entsteht Chancengleichheit für die Autoren aller Sprachen, weltweit gelesen zu werden. Übersetzungskosten sind immaterielle Transportkosten. Sie sind das zentrale Handelshemmnis der Weltliteratur. Es gehört abgebaut, elimiert! Leider sind alle Programme der Übersetzungsförderung zurzeit noch lückenhaft, unberechenbar bei den Entscheiden, beengt durch mickrige Budgets. Übersetzungsförderung muss für die Verlage verlässlich, planbar, budgetierbar werden. Und ausreichend dotiert, damit endlich auch angemessene Übersetzerhonorare möglich werden.
Diskutierten auf dem Podium: Moderator und Bestenlisten-Juror und Literatur-Redakteur beim HR Ruthard Stäblein (links) und Ken Bugul (rechts), Foto: Petra Kammann
Welche Bedeutung messen Sie der LitProm-Weltempfänger-Bestenliste bei?
Im Konzert von Bestellerlisten, Bestenliste, Krimi-Bestenliste ist sie eine unverzichtbare Stimme. Wir drücken die Daumen, dass sie bei Literaturkritik und Buchhandel laut erschallt!
Wir drücken die Daumen!
Litprom-Bestenliste: Winter 2017/2018 als PDF zum Download .
Im April erscheint im Unionsverlag eine Anthologie
zu 30 Jahren LiBeraturpreis unter dem Titel:
„Vollmond hinter fahlgelben Wolken.
Autorinnen aus vier Kontinenten“,
hrsg. von Anita Djafari und Juergen Boos,
320 S., ISBN 978-3-293-20800-1, 12,95 Euro,
Liste aller Preisträgerinnen des LiBeraturpreises
2017: Fariba Vafi IRAN. »Tarlan«.Roman. Aus dem Persischen übersetzt von Jutta Himmelreich. Sujet Verlag, 2015.
2016: Laksmi Pamuntjak INDONESIEN. »Alle Farben Rot«. Roman. Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke. Ullstein 2016.
2015: Madeleine Thien KANADA. »Flüchtige Seelen«. Roman. Originaltitel: Dogs at the Perimeter. Aus dem Englischen von Almuth Carstens. Luchterhand 2014 (vergriffen).
2014: Raja Alem SAUDI-ARABIEN. »Das Halsband der Tauben«. Roman. Originaltitel: Tawq al-Hamam. Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Hartmut Fähndrich. Unionsverlag 2014.
2013: Patrícia Melo BRASILIEN. »Leichendieb«. Thriller. Originaltitel: Ladrão de Cadáveres Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Klett-Cotta 2014.
2012: Sabina Berman MEXIKO. »Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte«. Roman. Originaltitel: La Mujer que buceó dentro del Corazón del Mundo. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer Verlag 2011.
2011: Nathalie Abi-Ezzi LIBANON. »Rubas Geheimnis«. Roman. Originaltitel: A girl made of dust. Aus dem Englischen von Annette Meyer-Prien. Rowohlt Verlag 2010; rororo 2011 (Taschenbuch).
2010: Claudia Piñeiro ARGENTINIEN. »Elena weiß Bescheid«. Roman. Originaltitel: Elena sabe. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2009 (Taschenbuch).
2009: Elizabeth Subercaseaux CHILE. »Eine Woche im Oktober«. Roman. Originaltitel: Una semana de octubre. Aus dem Spanischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Pendo Verlag 2008 (vergriffen); Piper 2009 (Taschenbuch, vergriffen); Piper 2014 (eBook).
2008: Aminatta Forna SIERRA LEONE/GROSSBRITANNIEN. »Abies Steine«. Roman. Originaltitel: Ancestor Stones. Aus dem Englischen von Sabine Schwenk. Berlin-Verlag 2007 (vergriffen).
2007: Michelle de Kretser AUSTRALIEN/SRI LANKA. »Der Fall Hamilton«. Roman. Originaltitel: The Hamilton Case. Aus dem Englischen von Anke Caroline. Klett-Cotta 2006 (vergriffen); Unionsverlag 2008 (Taschenbuch).
2006: Andrea Blanqué URUGUAY. »Die Passantin«. Roman. Originaltitel: La Pasajera. Aus dem Spanischen von Sybille Martin. Rotpunktverlag 2005.
2005: Fatou Diome SENEGAL. »Der Bauch des Ozeans«. Roman. Originaltitel: Le Ventre de l’Atlantique. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes Verlag 2004; Neuauflage 2006.
2004: Leïla Marouane ALGERIEN. »Entführer«. Roman. Originaltitel: Ravisseur. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Haymon Verlag 2003.
2003: Oh Jung-Hee KOREA. »Vögel«. Roman. Originaltitel: Sae. Aus dem Koreanischen von Edeltrud Kim und Kim Sun-Hi. Pendragon 2002 (vergriffen); Unionsverlag 2005. (Taschenbuch).
2002: Yvonne Vera ZIMBABWE. »Schmetterling in Flammen«. Roman. Originaltitel: Butterfly Burning. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. Frederking und Thaler 2001 (vergriffen).
2001: Paula Jacques ÄGYPTEN. »Die Frauen mit ihrer Liebe«. Roman. Originaltitel: Les femmes avec leur amour. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Edition Ebersbach 2000 (vergriffen); Fischer TB 2002 (vergriffen).
2000: Edwidge Danticat HAITI/USA. »Die süße Saat der Tränen«. Roman. Originaltitel: The Farming of Bones. Aus dem Englischen von Beate Thill. Claassen 1999 (vergriffen); List-Taschenbuch-Verlag 2000 (vergriffen).
1999: Astrid Roemer SURINAM. »Könnte Liebe sein«. Roman. Originaltitel: Lijken op liefde. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Goldmann 2000 (vergriffen).
1998: Mayra Montero KUBA. »Der Berg der verschwundenen Kinder«. Roman. Originaltitel: Tú, la oscuridad. Aus dem Spanischen von Sybille Martin. Zsolnay 1997 (vergriffen); Goldmann 1999 (vergriffen).
1997: Zoe Valdés KUBA. »Das tägliche Nichts«. Roman. Originaltitel: La nada cotidiana. Aus dem kubanischen Spanischen von Klaus Laabs. Büchergilde Gutenberg 1996 (vergriffen); Ammann 1996 (vergriffen); Goldmann 1998 (vergriffen).
1996: Carmen Boullosa MEXIKO. »Die Wundertäterin«. Roman. Originaltitel: La milagrosa. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp 1995 (vergriffen).
1995: Venus Khoury-Ghata LIBANON. »Die Geliebte des Notablen«. Roman. Originaltitel: La maîtresse du notable. Aus dem Französischen von Sigrid Köppen. Horlemann 1994 (vergriffen).
1994: Patricia Grace NEUSEELAND. »Potiki«. Roman. Originaltitel: Potiki. Aus dem Englischen von Helmi Martini-Honus und Jürgen Martini. Unionsverlag 1993 (vergriffen); 1994 (vergriffen); 2005 (vergriffen), 2012.
1993: Pham Thi Hoai VIETNAM. »Die Kristallbotin«. Roman. Originaltitel: La messagère de cristal. Aus dem Französischen von Angela Praesent. Rowohlt 1992 (vergriffen).
1992: Rosario Ferré (✝) PUERTO RICO. »Kristallzucker«. Roman. Originaltitel: Fracción mágica. Aus dem Spanischen von Wolfgang Binder. Rotpunktverlag 1991 (vergriffen).
1991: Bapsi Sidhwa PAKISTAN. »Ice Candy Man«. Aus dem Englischen von Ditte König und Giovanni Bandini. List Verlag 1990 (vergriffen); Rowohlt 1992 (vergriffen); Deutscher Taschenbuchverlag 2000 (vergriffen).
1990: Kamala Markandaya (✝) INDIEN. »Nektar in einem Sieb«. Roman. Originaltitel: Nectar in a Sieve. Aus dem Englischen von Trude Geissler und Gertrud Grote. Biederstein 1956, Rütten & Loening 1956, Biederstein 1959, Büchergilde Gutenberg 1960; Unionsverlag 1986, 1989, 1991, 2006 (vergriffen), 2009.
1989: Assia Djebar (✝) ALGERIEN. »Die Schattenkönigin«. Roman. Originaltitel: Ombre sultane. Aus dem Französischen von Inge M. Artl. Unionsverlag 1988 (vergriffen), 1991 (vergriffen).
1988: Maryse Condé GUADELOUPE »Segu«. Die Mauern aus Lehm. Roman. Originaltitel: Ségou: Les murailles de terre. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer u. Witsch 1988 (vergriffen); Goldmann 1990 (vergriffen); Fischer Taschenbuch 2004 (vergriffen); Unionsverlag 2012.