Die Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt von Karola Gramann und Heide Schlüpmann
Die Filmhistorikerinnen, Entdeckerinnen und Bewahrerinnen Karola Gramann und Heide Schlüpmann waren Preisträgerinnen des diesjährigen Binding-Kulturpreises und sind auch die Initiatorinnen des Festivals TRANSITO. Elvira Notari – Kino der Passage
Text und Fotos: Renate Feyerbacher
Das Kunstwort Kinothek setzt sich aus den Worten Kino und Bibliothek zusammen. Geschaffen hat es der italienische Filmkomponist, Dirigent, Schauspieler und Krimiautor Giuseppe Becce (1877- 1973. Sein Pseudonym lautet: Peter Becker). Der in Berlin seit 1900 lebende und dort, nach Kriegsende zurück gekehrte, verstorbene Künstler arbeitete unter anderem mit großen Filmregisseuren wie Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch und komponierte Filmmusiken für deren Stummfilme. Unter dem Namen Kinothek sammelte er verschiedene Musikstücke, die sich für typische Filmszenen eigneten. Ein Schatz früher Filmgeschichte für die Musik, nicht aber für die alten Zelloloidfilme.
Hier geht’s in den 5. Stock der Frankfurt Kinothek Asta Nielsen
Mit diesem Wissen gehe ich in die Stiftstrasse 2, einer Straße mitten in der Frankfurter Innenstadt, die nicht gerade den besten Ruf hat, das Haus selbst verzeichnet renommierte Namen. Der Aufzug bringt mich in den 5. Stock. Dann führt eine schmale, knarrige Treppe zunächst in den engen Vorraum mit Filmplakaten, schließlich in einen großen, nicht sehr hellen Raum mit schrägem Dach und wenigen Oberlichtern – nichts ist zu sehen außer zwei Schreibtischen, einem größeren Tisch, einer Pflanze, einem Filmprojektor und einer kleinen hochgezogenen Leinwand. Ich bin irritiert. Keine Filmrollen-Dosen. Zum Gespräch erwartet und begrüßt werde ich lebhaft von Karola Graumann und Heide Schlüpmann. Mehr als zwei Stunden sitze ich dort dem geballtem Filmwissen gegenüber. Die Filmhistorikerinnen sind die Mitbegründerinnen der Kinothek Asta Nielsen; sie gleichzeitig ihr Herzstück. Die 1999 gegründete Kinothek möchte Filmgeschichte schreiben und knüpft dabei „an die losen Enden der Filmarbeit der neueren Frauenbewegung in Theorie und Praxis an.“
Es war keine leichte Entscheidung, einen Namen zu finden. Verschiedene Aspekte gab es dann, den Verein nach dem großen Star der Stummfilmzeit Asta Nielsen (1881- 1972) zu benennen, wie Karola Gramann betont: „Sie verkörpert für uns die Möglichkeit, die Frauen vor allem in der Frühzeit des Kinos hatten, sich eben nicht nur vor der Kamera zu realisieren, sondern Einfluss zu nehmen auf die gesamte Filmproduktion bis in die Regie, bis in die Technik, in die Kostümgestaltung. [..] Wir wollten eine Frau von ihrer Stärke, von ihrem Glanz nehmen. Wir haben sie unseren Fixstern genannt.“
Wer war Asta Nielsen?
Asta Nielsen, am 11.September 1881 in Kopenhagen geboren, kommt aus armen Verhältnissen. Nach der Schule ermöglichen ihr die Mutter und eine ältere Schwester eine Schauspielausbildung. Sie ist knapp 20 Jahre alt, als ihre Tochter geboren wird. Den Vater ihres Kindes heiratet sie nicht. Ein Jahr später erhält sie ihr erstes Theater-Engagement. Zunächst lehnt sie eine Rolle im Film ab, produziert dann aber mit Urban Gad 1910 ihren ersten Film „Abgründe“ („Afgrunden“), der ein Welterfolg wird. Sie gehen nach Deutschland. Nielsen und Gad, den sie heiratet, realisieren um die 30 Filme zusammen, den letzten 1914. Der Erste Weltkrieg beendet die Filmarbeit in Deutschland, die Ehe scheitert. Asta Nielsen reist mit einem schwedischen Frachtdampfer nach Südamerika. Später wird sie den Kapitän heiraten.
Wieder Berlin und Dreharbeiten, dann Kopenhagen, bald wieder Berlin, wo sie 1919 mit Ernst Lubitsch den Film „Rausch“ nach August Strindberg dreht. Es folgen „Erdgeist“ (1922) nach Frank Wedekind unter der Regie von Leopold Jessner mit Heinrich George, 1925 „Die freudlose Gasse“ unter der Regie von G.W.Pabst zusammen mit Greta Garbo, die über ihre Kollegin sagte: „In [..] der Ausdrucks- und Wandlungsfähigkeit bin ich im Vergleich zu ihr ein Nichts“, und Pabst urteilte: „Lange hat man Greta Garbo ‚Die Göttliche‘ genannt, für mich war und bleibt Asta Nielsen ‚Die Menschliche‘. 1932 dreht sie ihren ersten Tonfilm: „Unmögliche Liebe“. Publikum und Kritik sind begeistert. Dennoch bleibt es ihr letzter Film, denn die Machtergreifung der Nationalsozialisten steht bevor, und sie lehnt Heinrich Goebbels Angebot, ihr eine eigne Filmgesellschaft zu finanzieren, ab. 1937 verlässt sie Deutschland und geht nach Kopenhagen. Ihre Freundschaft mit Heinrich George, der zu den bedeutendsten deutschen Theater- und Filmschauspielern gehört und sich in den Dienst der Nazis stellte (Film „Jud Süß“), erklärt sie für beendet. Nach Dänemark zurückgekehrt, dreht sie keine Filme mehr, erhält keine, wie sonst in Dänemark für große Filmemacher, Kinolizenz. Sie wird Schriftstellerin und Bildende Künstlerin. Ihre Stoffcollagen erregen Aufsehen.
Preisverleihung im Römer am 2.9.2017, Karola Gramann und Heide Schlüpmann (Kinothek Asta Nielsen e.V), Peter Feldmann (Oberbürgermeister) (v. l). Foto: Preisverleihung Binding Kulturpreis 2017
Für ihre unermüdliche Arbeit erhielten die beiden Filmhistorikerinnen Karola Gramann und Heide Schlüpmann am 2. September im Frankfurter Römer den diesjährigen Binding-Kulturpreis, der mit 50.000 Euro dotiert ist. Das sei kein kleiner Schub. Vor zwei Jahren hätte er den Jahresetat der Kinothek von 36.000 Euro überstiegen. „Aber die 50.000 haben wir in der Fantasie schon für die Ausstattung des Büros mit Computern ausgegeben, um dort ungestört arbeiten zu können. Und um Publikationen und Filmprogramme zu finanzieren“, ergänzt augenzwinkernd Heide Schlüpmann. Die Jury lobte den „unschätzbaren Beitrag zur Errettung des Filmerbes“, den der Verein, geleitet von den beiden Preisträgerinnen, leiste. Hervorgehoben wurden explizit auch die Publikationen zur Filmgeschichte, insbesondere das zweibändige Standardwerk über Asta Nielsen (Bd.1 „Unmögliche Liebe – Asta Nielsen und ihr Kino“, Bd 2 „Nachtfalter – Asta Nielsen, ihre Filme“, Verlag Filmarchiv austria 2009). In mehr als 70 Filmen hat Asta Nielsen mitgewirkt, aber nur wenige – und die oft nur in mangelhaftem Zustand, sind erhalten. Vor zehn Jahren hat die Kinothek zusammen mit dem Deutschen Filminstitut / Deutschen Filmmuseum eine Ausstellung über Asta Nielsen gezeigt. Diese wanderte in mehrere Städte. Was für eine Recherchen-Arbeit diesen beiden Bänden zugrundeliegt: Eine Fülle von Begleitmaterialien zu den allermeisten Filmen, die überliefert sind, Fotografien, Programmhefte, Plakate und Fotoalben. Das alles musste durchforstet werden und zwar in Berlin, in Kopenhagen, in Wien, in Amsterdam, in Bologna und in München.„Jahre haben wir damit zugebracht. Wir haben die Arbeit unbezahlt gemacht, aber für uns war das auch unbezahlbar, was wir dafür bekommen haben.“
Asta Nielsen“ – Zeichnung (Tinte und Filzstift) von Tabea Blumenschein 2014 – Ein Geschenk von Regisseurin Ulrike Ottinger
Wie sind die beiden Frauen, Karola Gramann und Heide Schlüpmann, zum Kino gekommen?
In ihrer ärmeren Familie habe es fürs Theater, aber nicht fürs Kino Geld gegeben. „Wie Kleinbürger so sind, sie streben nach der Hochkultur“, erzählt Karola Gramann, die aus der nordbayerischen Provinz nach Frankfurt kam. Hier entdeckte sie das Kommunale Kino: „Das spielte von zwei Uhr bis abends. Ich war tagelang im Kino.“ Sie war Buchhändlerin, Buchherstellerin, machte das Abitur nach und begann zu studieren – unter anderem Filmwissenschaft in Frankfurt und London. Das war Ende der 70er Jahre, in einer Zeit der neuen Frauenbewegung auch in der Filmarbeit. Sie schrieb über Filme, machte Programme und wurde Mitte der 80er Jahre Leiterin des Internationalen Kurzfilm-Festivals Oberhausen, kehrte nach Frankfurt zurück und lehrte an der Universität. 2015 wurde sie mit dem Tony-Sender Preis geehrt, den die Stadt Frankfurt alle zwei Jahre in Erinnerung an die engagierte Politikerin Tony Sender (1888-1964) an Frauen verleiht, die sich für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und gegen Diskriminierung einsetzen.
Karola Gramann und Heide Schlüpmann
Kennengelernt haben sich Gramann und Schlüpmann 1978, seit dieser Zeit arbeiten sie ununterbrochen zusammen. Sie sind befreundet. Ihren Weg zum Kino beschreibt Heide Schlüpmann, die bei Theodor W. Adorno studierte, folgendermaßen: „Es war ein Bruch mit der Philosophie. Ich hatte damals das Gefühl, als Frau ist das chancenlos, man verbiegt sich furchtbar, und das wollte ich nicht. Da habe ich das Kino entdeckt.“ Auch sie verbrachte viel Zeit in den Kinos, bekam Kontakt mit Filmspezialisten und -kritikern, ließ Nietzsche jedoch nicht aus den Augen und promovierte. Lehrauftrag und Professur folgten.
Verschiedene Abspielstätten der Kinemathek Asta Nielsen
Die Kinothek Asta Nielsen hat selbst kein Kino und geht mit den Filmen an andere Orte. Das gehe ohne Probleme mit dem 15mm Projektor, „den kann man ins Auto tun, aufstellen, an die Steckdose schließen und schon kann man Filme vorführen.“In der Stiftsstrasse ist das Papierarchiv, die Filme lagern in einem gekühlten Archivraum des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Frankfurter Universität, den Professorin Schlüpmann damals anlegte. Vorführungen gibt es ständig an den verschiedensten Orten zum Beispiel im „Mal‘ Sehn Kino“, in „Orfeos Erben, in der „Pupille“ an der Universität, im Filmmuseum oder wie im September im Historischen Museum. Dort wurde anlässlich der Konferenz „100 Jahre Frauenrecht“ der Stummfilm „Die Suffragette“ (Fragment von 1913) mit Asta Nielsen gezeigt, am Klavier begleitet von Elvira Plenar. Für mich persönlich ein lang erwünschtes Wiedersehen mit dem großen Stummfilmstar. Meine kino- und theaterbegeisterte Mutter, Mitglied in einem Kölner Filmclub, hatte mich schon früh in Asta Nielsens Filme geschleppt. In diesem fragmentarischen Streifen kann Asta Nielsens Wandlungsfähigkeit in Mimik und Gestik, ihr lebendig-ausdrucksstarkes Spiel von Armen und Händen, bewundert werden. Diese selbtbestimmte Künstlerin bringt den weiblichen Körper in Bewegung. Sie spielte Damen der Upper Class genauso so überzeugend wie Straßenmädchen.
Karola Gramann und Heide Schlüpmann hoffen, auch künftig weitere Kinoräume zu erschließen, um alte Filme zeigen zu können. Sie wissen, wie schwierig das ist, bedingt durch die vielen digitalen Produktionen, die auf den Markt drängen. Bedauert wird von den Filmhistorikerinnen die Trennung von Film als Kunst und Film als Kommerz. Die künstlerischen Filme, die früher in den Kinos liefen, sind heute für eine Kinoaufführung viel zu teuer und werden in Galerien und anderen Institutionen gezeigt. „Das find ich inakzeptabel,“ so Heide Schlüpmann. Alle Genres gehörten in die Kinos.
Asta Nielsen Stern in Berlin auf dem „Boulevard der Stars“ in der Potsdamer Strasse
Die Filmvorführungen der Kinothek Asta Nielsen werden nach Möglichkeit im Original in einem dunklen Raum mit Zuschauern gezeigt – das gemeinsame Sehen macht erst das Kino aus. Karola Gramann und Heide Schlüpmann, die Hüterinnen und Wächterinnen des Filmerbes, widmen sich auch besonders dem Homemovie, den Super 8-Filmen. Immer wieder wird ein Home Movie Day veranstaltet. Da sind alle eingeladen, ihre 8 mm und Super 8 Filme, die sie schon lange nicht mehr gesehen haben, einzupacken und von Fachleuten technisch und filmisch kenntnisreich anzuschauen und projizieren zu lassen. Sie erzählen von einer 90jährigen Dame, die völlig fasziniert die alten Famileinfilme anschaute. „Was uns interessiert, sind: Familiengeschichte, Geschlechterverhältnisse, Taufen, Hochzeiten, Einschulungen. Da sind diese Filme so aufschlussreich, einfach toll.“
Das Tempo, das diese beiden Frauen im Planen und Ausführen von Projekten vorlegen, ist geradezu rasant. Im September war die Werkschau der vergessenen Filmemacherin Maria Lang (1945-2014) zu sehen, die Filme über ihre demenzkranke Mutter und deren Tod drehte. Sie hat sich das Leben genommen. Am kommenden 14. Dezember, beginnt ein neues außerordentliches Festival mit Filmen, Cinekonzerten, Vorträgen, Diskussionen, und internationalen Gästen. Die Rede ist von „TRANSITO – Elvira Notari – Kino der Passage“ – kuratiert von Karola Gramann und Heide Schlüpmann.
Elvira Notari (1875 – 1946) war die erste italienische Filmemacherin. Sie drehte über 80 Spiel- und 100 Dokumentarfilme, von denen allerdings etliche verschollen sind. Ihre Stummfilme spielen im Neapel der 1910er und 1920er Jahre und schildern realistisch das Leben des Subproletariats, vor allem das der Frauen – in einem Milieu der Leidenschaft, Eifersucht und männlicher Gewalt. Es wird einzigartige Kinoerlebnisse geben mit seltenen Kopien, Projektionen der Originalfassungen, Live-Musik bei den Uraufführungen. Es kommen die Sängerin Lucilla Galeazzi mit einer von ZDF/ARTE in Auftrag gegebenen Komposition von Michael Riessler, außerdem Dolores Melodia sowie die Stummfilmmusikerin Maud Nelissen.
An vier Abenden wird es Fragmente von Elvira Notari Notari und weitere Filme aus ihrer Zeit geben. „Ein Aspekt des Gesamtprogramms ist die Migration. Neapel war ein großer Migrationshafen und Notari selber hat ihre Filme immer nach Übersee geschickt, sogar mit Musikern. Die italienischen Communities waren natürlich scharf auf Bilder aus der Heimat und haben sie beauftragt, Filme in der Heimat zu drehen.“ Die Zensur blieb nicht aus, als Benito Mussolini 1922 an die Macht kam. Dennoch gelang es ihr, diese auszutricksen.
Das Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurter wird vom 17. bis 19.Dezember in einem Symposium Elvira Notaris Kino und die neapolitanische Kultur durchleuchten. Es wird spannende Tage im Pupille –Kino in der Uni und in der Universität geben.
Ab 2018 wird Gaby Babic, die bis vor kurzem für das Deutsche Filminstitut sieben Jahre lang das goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden leitete, in Zusammenarbeit mit Karola Gramann die Ko-Leitung der Frankfurter Kinothek Asta Nielsen e.V. übernehmen.