Alia Alis „Borderland“ in der neu eröffneten Galerie-Peter-Sillem in Frankfurt-Sachsenhausen
Irritierend schön – Großflächige Fotos von Grenzerfahrungen und menschlichen Pattern
Von Petra Kammann
„Borderland“ heißt die ungewöhnliche Auftaktausstellung in der neuen Galerie-Peter-Sillem: Das ästhetische Forschungs- und Fotoprojekt der jemenitisch-bosnisch-amerikanischen Multimedia-Künstlerin Alia Ali umfasst eine Serie von Porträts, welche die Barrieren hinterfragen, die uns sowohl trennen als auch einen.
Galerist Peter Sillem und Alia Ali bei der Vorbereitung eines Hintergrundgesprächs
Vernissage in der neu eröffneten Galerie-Peter-Sillem in Sachsenhausen: Es ist es so voll, dass sich etliche Leute den Weg nach draußen gebahnt haben, um sich dort ebenso angeregt wie in der Galerie selbst zu unterhalten. Ein Blick auf die ausgestellten Bilder ist fast unmöglich. Als ich mich früher dort einmal umgeschaut hatte, war der leere Raum noch ein nüchterner White Cube in einem 50er Jahre-Haus. Nun stehen aparte Blumenarrangements vor dem Panoramafenster, das eingerahmt wurde von besonderen Borten mit textilen Mustern – eher untypisch für eine Galerie.
Das quirlige Publikum verbreitet beste Stimmung. Hier trifft man nicht nur den ein oder anderen Bekannten aus der Frankfurter Verlagsszene, sondern auch Autoren, die zur Eröffnung der Ausstellung von Alia Alis bemerkenswerten Fotos eigens angereist sind wie zum Beispiel der chinesische Friedenspreisträger Liao Yiwu („Die Wiedergeburt der Ameisen“) oder die durch ihre Kolumnen sowie durch ihre beeindruckenden Berichte aus den Kriegsgebieten dieser Welt bekannte Carolin Emcke. Die Friedenspreisträgerin diskutiert engagiert mit jederman oder jederfrau. Beide sind Autoren des S. Fischer Verlags, in dem Peter Sillem zuvor für das Programm verantwortlich war, bevor er pünktlich zu seinem 50. Geburtstag seine steile Verlagskarriere aufgegeben hat, um sich mit einer Galerie in Sachsenhausen selbständig zu machen und um sich künftig nur noch seiner zweiten Leidenschaft, der Fotografie, zu widmen, indem er sie nicht nur sammelt, sondern auch ausstellt und verkauft.
Foto: ©Alia Ali, „Borderland“, 2017, 250 x 167 cm, Direktdruck auf Alu-Dibond
Ein zweifellos mutiger Schritt von Sillem, in diesen Zeiten und auf dem höchsten Punkt der Karriere aufzuhören, aber auch ein wohlüberlegter. Denn er hat auch etwas einzubringen. Viele im Laufe der Jahre gewachsene internationale Kontakte in der verzweigten Verlagsszene eben. Und – so hat er es bisher immer gehalten – er geht seine Sache gezielt an. Sillem hat sich im Vorfeld schon in der Szene umgeschaut. Der Zuspruch am Eröffnungsabend, wo auch gerade in vielen Galerien der Stadt parallel Veranstaltungen stattfinden, spricht Bände. Eine Sympathiekundgebung für den freundlichen Peter Sillem und beliebten Ex-Kollegen? Auch Sammler befinden sich im Publikum. Auf Anhieb kann ich bereits 21 rote Punkte für die schon verkauften Werke ausmachen. Das Geschäftsmodell scheint also auch zu stimmen.
Andere Künstlerfotografen wie die Leipzigerin Grit Schwertfeger oder Frank Mädler, die demnächst in Sillems Galerie ausstellen werden, hat er schon in sein Konzept eingebunden. Sie waren ebenfalls zur Vernissage gekommen. Im Mittelpunkt steht an diesem Abend jedoch die 32-jährige jemenitisch-bosnisch-amerikanische Multimedia-Künstlerin Alia Ali, deren so ästhetische wie irritierende Fotos unter dem Titel „Borderland“ hier ausgestellt sind.
Alia Ali im Gedränge der Vernissage
Sie sind nicht nur Ausdruck einer ungewöhnlichen Geschichte, die vielleicht für so manche heutige Biographien stellvertretend sein könnte. Alia-Ali stammt, wie sie zurecht sagt, aus zwei Ländern, die eigentlich gar nicht mehr existieren, väterlicherseits aus dem Südjemen, mütterlicherseits aus Ex-Jugoslawien, nämlich aus Bosnien. Ihre Geschichte ist eine besondere. Aufgewachsen ist sie fünfsprachig. Auch hatte sie – da beide Eltern als Linguisten besonders auf die Sprache fixiert waren – begriffen, dass man mit Worten in manchen Situationen nur wenig bewirken kann, weil sie oftmals eher zu Missverständnissen und zu Spaltung führen.
Mit sieben Jahren, als der Bosnienkrieg mit seinen blutigen Konflikten ausbrach, musste Ali „ihr“ Land verlassen. Damals machte sie bereits die ersten einschneidenden Erfahrungen an der Grenze, dass Menschen nach ihrem Aussehen, nach ihrer Haut- und Haarfarbe, nach ihrem verzweifelten Gesichtsausdruck, nach ihrer Sprache, die für oder gegen sie spricht, beurteilt oder abgewiesen werden. So machte sie sich im Laufe ihrer Ausbildung auf die Suche nach anderen Kriterien und reiste für „ihre Sache“ um die Welt, vor allem in den Vorderen Orient, nach Asien und nach Europa. Gelebt hat sie inzwischen in sieben Ländern. Zur Zeit wohnt sie bei New Orleans, in Amerika hat sie auch ihren Master gemacht. Eigentlich wäre sie eine hervorragende Geschichtenerzählerin, da es ihr leicht fällt, zwischen den verschiedenen Sprach- und Kulturräumen und hin- und her zu switchen.
Auch Liao Yiwu (li) kam zur Eröffnung, hier mit Tienchi Martin Liao, ehemalige Vorsitzende des unabhängigen chinesischen PEN
Also begab sie sich auf die Suche nach einer neuen „verständlicheren“ Sprache, nach einer Bildsprache, in der oder in deren Muster Menschen sich wiederfinden können. Muster, die sie zum Beispiel am Körper tragen und die Ausdruck einer bestimmten Kultur sind. Also begann sie, Kulturen und deren textile Traditionen zu studieren, die sie gerne festhalten wollte, nicht zuletzt, um sie langfristig bewahren zu können. Ihre Projekte brachten sie an entsprechende Orte wie nach Oaxaca in Mexiko, nach Buchara in Usbekistan, nach Djakarta in Indonesien, nach Sapa in Vietnam, nach Kyoto in Japan, nach Djapur in Indien und nach Lagos in Nigeria. Was wäre da geeigneter als sich des Mediums Fotografie zu bedienen, das diese Muster „einbrennt“.
Neun Monate verbrachte Ali damit, sich in Museen und Manufakturen umzusehen, die teils von der Schließung bedroht sind, um sich in herkömmliche Web-, Muster- und Falttechniken einzuarbeiten. Nach und nach wurden die Textilien für sie zu Requisiten, mit deren Hilfe sie Kulturen, Nationalitäten, Geschlechtszugehörigkeiten und andere Eigenheiten der menschlichen Spezies erkunden konnte. Dann kleidete sie verschiedene Menschen in verschiedene Textilien, Stoff- und Webarten so ein, dass ihre Umrisse erkennbar blieben, das Gesicht aber verhüllt war, stellte das Ganze vor einen neutralen Hintergrund und fotografierte sie so in natürlichem Tageslicht, so dass nur die Haltung des dahinterstehenden Menschen sichtbar blieb.
Um Menschen davon zu überzeugen, dass das ein Weg ist, sich vorurteilsfrei und mit Respekt der „fremden Kultur“ anzunähern, fotografierte Alia Ali ihre Reihe „Borderland“ zunächst mit Porträts von sich selbst, bis sie das Vertrauen anderer gewann.
Mit den entstandenen Fotos, die eine gewisse Würde ausstrahlen, möchte sie dem vorbeugen, dass die Betrachter ihren Vorurteilen gegenüber anderen Ethnien freien Lauf lassen und ihre Solidarität von Gesichtsschnitt, Haut-, Augen- oder Haarfarbe abhängig machen. Denn allzu oft ist es das Gesicht, das uns davon abhält, dem Anderen, dem Fremden vorurteilsfrei zu begegnen. Hinter den von Ali bewusst drapierten Textilien ihrer Fotoserie, die Peter Sillem in Deutschland exklusiv vertritt, verbergen sich also Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Nationalitäten und die Bereitschaft etwas zu genießen. Da zählt nicht mehr das „Ich“, auch nicht, ob jemand höherrangig oder untergeordnet ist. Von den Umrissen, Formen und aus der Geometrie der Muster können wir nur auf das Dahinterliegende schließen.
Wandvorsprünge und Fensterwangen waren mit textilen Bordüren gestaltet
Für „Borderland“ besuchte die Künstlerin bis heute insgesamt 11 Manufakturen in verschiedenen Regionen. Die farbig kunstvoll gewirkten und drapierten Textilien, hinter denen sich ganz unterschiedliche Menschen verbergen, welche Haltung ausstrahlen, werden auf Alis brillanten Fotos ebenfalls zu eigenständigen „Persönlichkeiten“.
Mit den Namen- und Gesichtslosen, die alle auf einen neutralen Hintergrund „drapiert“ sind, gehen wir hier von Umrissen, Formen und geometrischen Mustern aus, mit denen Menschen sich identifizieren, um zu eigenen Antworten zu kommen. Die „eingekleideten“ Menschen werden auf den so magischen wie subtilen Fotos von Alia Ali zu Vertretern einer jeweils individuellen Kultur, die uns anregen, genau hinzuschauen und zuzuhören, was sie uns zu erzählen haben und was es als „Kulturerbe“ zu bewahren gilt. Ein interessanter Aspekt, Textilien als Grenzen eines Erkundungsgebietes zu erleben, in dem das Geheimnisvolle sichtbar wird, die Illusion Wirklichkeit wird, das Verhüllte Aspekte von Freiheit verheißt und in der Einheit Individualität aufblüht.
Hinter den farbigen Kompositionen der Fotos, die auf den ersten Blick als dekorativ erscheinen, steht eben eine ganz zeitnahe Geschichte. Damit ist dem neuen Galeristen ein interessanter sinnlicher Blick auf die globalisierte Welt von heute gelungen.
Fotos: Petra Kammann
Alia Ali hat das United World College des Atlantiks (UWCAC) absolviert und ist Absolventin von Studio Art und Middle Eastern Studies am Wellesley College. Derzeit arbeitet sie zwischen New Orleans und Marrakesch. Ihre jüngsten Arbeiten wurden im Odgen Museum of Southen Art im Rahmen von PhotoNOLA, auf der Marrakesch Biennale im Rahmen der schweizerisch-marokkanischen Gruppe KE’CH und auf der PhotoLondon 2016 im Rahmen der Ausstellung der Lens Culture Awards ausgestellt. Sie erhielt kürzlich den Alice C. Cole ’42 Award vom Wellesley College, die Lens Culture für aufstrebende Künstler 2016, den Jury Prize beim Kuala Lumpur Photo Awards Festival und den Gold Award in der Kategorie Fine Art bei den Tokyo International Photo Awards.
Weitere Infos unter:
Galerie-Peter-Sillem, Dreieichstraße 2, 60594 Frankfurt am Main, Telefon +49 69 61 99 55 50