home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

goEast-Festival 2017 im Zeichen der Frauen vor und hinter der Kamera

17. Festival des Mittel- und Osteuropäischen Films – Treffpunkt namhafter Filmemacherinnen

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

In sieben Tagen wurden sage und schreibe 111 Filme aus 29 Ländern gezeigt. Davon waren im Hauptwettbewerb 10 Spiel- und vier Dokumentarfilme. Vergeben wurden die Goldene Lilie für den Besten Film, der Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die Beste Regie, der Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt. Es gab lobende Erwähnungen der Hauptjury, Preise der Internationalen Filmkritik, den Open Frame Award und den goEast Development Award für Experimental- und Dokumentarfilm sowie Videokunst junger Künstler. Produktionsgelder wurden für Filme zum Thema Menschenrechte vergeben. Diese Projekte und die der jungen Filmemacher für Frieden kommen in diesen Zeiten mehr und mehr in den Fokus. 50.000 Euro wurden insgesamt verteilt.

Souverän eröffnete Festivalleiterin Gaby Babic, gefolgt von Schirmherr Staatsminister a.D. Professor Bernd Neumann, ministralen und städtischen Rednern die grosse Schau des mittel- und osteuropäischen Films.

Eröffnung mit Gaby Babic

Frauen sind die Gewinner des Festivals.

Die Protagonistinnen der Tragikkomödie „Requiem für Frau J.“, Gewinner der Goldenen Lilie, des 1977 in Belgrad geborenen Regisseurs Bojan Vuletic, und des Filmdramas „Meine glückliche Familie“, Gewinner des Regiepreises, vom georgisch-deutschen Team Nana & Simon, befinden sich in ähnlicher, psychischer Situation. Frau J., der Buchstabe könnte auch für Jugoslawien stehen, plant, sich am Todestag ihres Mannes zu erschiessen. Sie hat keinen Lebensmut mehr. Sie lebt nicht allein, sondern mit zwei Töchtern, eine erwachsen, eine vorpubertär und der Schwiegermutter. Sie teilen sich die Wohnung, leben nebeneinander. Jelena, so ihr Name, hat sich abgekapselt. Die Pistole liegt bereit, aber einige Dinge muss die korrekte Jelena noch erledigen: die Krankenversicherung muss gekündigt, der Mitgliedsausweis der Krankenversicherung erneuert werden. Dafür braucht sie allerdings den Nachweis, dass sie 20 Jahre festangestellt war. Das dauert. Die Verwaltungen sind überfordert. Was für ein Glück.

Die Jury lobte: „Vielen Dank, Frau J., für die Hoffnung, die Sie bringen.“ Es geht nicht nur um Frau J., sondern um die gedrückte Stimmung im Land, die Niedergeschlagenheit der Menschen, der Gesellschaft allgemein, die wie in einem Wartezustand verharrt. Es sind vor allem die Frauen, die in Zeiten des Umbruchs und der Not die Hauptlast tragen.„Ein kafkaeskes Märchen voller schwarzem Humor und filmische Bestätigung der These, dass das Leben kompliziert ist – der Tod aber noch viel komplizierter“, heisst es in der Kurzbeschreibung des Films, der auf der BERLINALE in der Sektion Panorama gezeigt wurde. Frau J. wird von der namhaften serbischen Schauspielerin Mirjana Karanovic verkörpert. „So leben wir schon seit Jahrzehnten“, hat sie in einem Tagespiegel-Gespräch im Februar gesagt. Zusammen mit Regisseur Bojan Vuletic ist sie bei der Preisverleihung in Wiesbaden dabei – herzhaft lachend. Dass sie sich schwer getan habe, diese depressiv-passive Frau zu spielen, ist der 60jährigen, die in Belgrad an der Schauspiel-Akademie unterrichtet, zu glauben.

Bojan Vuletic

Die Filmemacher Nana & Simon sind in Wiesbaden keine Unbekannten. 2013 gewann das georgisch-deutsche Team den Preis für den Besten Film „Die langen hellen Tage“. Von 180 Festivals eingeladen, errang der Streifen 30 Preise und war die georgische Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film. Und nun sind Nana & Simon, die 2012 ihre Produktionsfirma gründeten, wieder erfolgreich. Für den Wettbewerbsbeitrag „Meine glückliche Familie“, der im BERLINALE-Forum lief, wurden Nana Ekvtimishvili, die auch das Drehbuch schrieb, und Simon Gross mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Nana hat Dramaturgie und Drehbuch an der Filmuniversität Babelsberg in Potsdam studiert, er Filmregie in München.

Endlich mal alleine sein, dieser Wunsch erklärt den plötzlichen Auszug von Manana am Abend ihres 52. Geburtstags. Die drei Zimmer-Wohnung in Tiflis ist überfüllt: drei Generationen, vermutlich demnächst vier, leben hier: Manana und Ehemann, mit dem sie seit 30 Jahren verheiratet ist, der nicht trinkt, sie nicht schlägt, keine Drogen nimmt, ihre Eltern, zwei Töchter, eine mit Ehemann, und alle charakterlich sehr unterschiedlich. „Ich werde nicht zurückkommen“, betont sie immer wieder. Keiner will ihr das zunächst glauben, dann Ratlosigkeit. Warum tut sie das? „Du respektierst deine Eltern, deine Kinder nicht. Du bringst uns allen Schande vor den Nachbarn“, zetert ihre Mutter. Eine alltägliche, aber skandalöse Geschichte, da eine Frau die Familie verlässt. Dass das Männer gelegentlich tun, ist gesellschaftlich akzeptiert. Ein Akt der Befreiung für die Literaturlehrerin, die versucht, ihr Leben neu zu ordnen und das endlich tut, wozu sie nie kam: lesen, Gitarre spielen, den Vögeln lauschen. Aber die Idylle wird getrübt durch Informationen, die ihr beim Klassentreffen über ihren Mann erzählt werden.

Weder Nana, noch Simon, noch die Hauptdarstellerin Ia Shugliashvili, die Manana überzeugend spielt, konnten den Preis entgegen nehmen. Sie hatten die junge Schauspielerin Tsisia Kumsishvili, eine der Töchter im Film, zur Preisverleihung geschickt. Auch den Preis der Internationalen Filmkritik für den Besten Spielfilm konnte sie mit in die Heimat nehmen. Die Jury lobte: „Ein großes Kinowerk, das ein georgisches Familienleben auf universale und harmonische Art darstellt.“

Tsisia Kumsishvili

Auch in dem Beitrag „Der Bürger“ (Az állampolgár), über die Schwierigkeit, ein Ungar zu werden, der keinen Preis erhielt, spielt eine Frau eine entscheidende Rolle. Ein nachdenklicher Beitrag des ungarischen Regisseurs Roland Vranik, zusammen mit Iván Szabó auch Autor des Drehbuchs, der von den Zuschauer im Kino des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt einhellig sehr positiv aufgenommen wurde. Das Thema ist hoch aktuell. Ungarn weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen und für diejenigen, die im Land schon länger sind, ist die Situation schwer. Erzählt wird die Geschichte eines Afrikaners, der nichts sehnlicher wünscht, als integriert zu werden. Die 56jährige gebildete Ungarin namens Maria, die ihm Nachhilfe gibt, damit er den Einbürgerungstest besteht, hilft ihm dabei. Er besteht und wird Ungar. Es kommt zu einer Liebesbeziehung. Maria verlässt wegen Migrant Wilson Ugabe ihren Mann und zieht in dessen kleine Wohnung. Die Zweisamkeit wird durch die junge, schwangere Iranerin Shirin nicht nur hart auf die Probe gestellt, sondern auch zerstört. Shirin bittet um Aufnahme in Wilsons Wohnung, nachdem sie aus dem Flüchtlingscamp floh. Sie und ihr Kind, das in der Wohnung geboren wird, müssen versteckt bleiben, denn ihr Aufenthalt ist illegal. Nur die Heirat mit Wilson, der eingebürgert wurde, kann die Abschiebung Shirins und ihres Kindes verhindern. Die Grenzen von Toleranz und Hilfsbereitschaft sind für Maria erreicht. Kein Happy End…

Der ungarische Regisseur setzt sich sehr differenziert, klug mit dem Thema Integration auseinander. Er versteht die Ängste der Menschen in Ungarn und anderswo, die durch diese Massen-Flüchtlingsbewegung, durch namenlose, unbekannte Flüchtlinge, ‚erschreckt‘ wurden und wie er es nennt, sich zur ‚Massenpsychose‘ steigerte. Dennoch ist er überzeugt, dass Europas Bürger verstehen, dass diese Menschen Hilfe brauchen. Dafür gibt es wunderschöne Beispiele in seinem Werk „Der Bürger“. Zum Beispiel wie die Mitarbeiter des Einkaufsmarkts, den Wilson bewacht, ihn unterstützen, ihn belohnen. Vranik war lange im Ausland, nennt sich Sprach-Flüchtling, und seitdem mehr und mehr Schwarze in den Strassen Budapest zu sehen waren, fragte er sich, was die hier tun. Als er und Szabó ein Stipendium in Deutschland erhielten, nahm das Drehbuch konkrete Formen an. Da war das Thema Migranten noch nicht so aktuell. Authentisch sind die Hauptdarsteller: Wilson, den er auf der Strasse ansprach, und Shirin, deren Telefonnummer er von einem Flüchtling erhielt. Also Laiendarsteller. Marcelo Cake-Baly, der Wilson verkörpert, kam 1976 aus Guinea-Bissau zum Studium nach Budapest und wurde Mitte der 90er Jahre Ungar. Bis heute, so beklagt er sich in einem Imterview, habe er mit Ablehnung zu kämpfen. Er habe eine ungarische Familie, arbeite und zahle Steuern, dennoch sähen die Leute in ihm immer den Migranten. Er verdiente sein Geld als Strassenbahnfahrer.

Márta Mészáros

Ein Höhepunkt des 17. goEast-Festivals war die Hommage für die ungarische Regisseurin Márta Mészáros, die seit sieben Jahrzehnten Weltkino liefert. Über 60 Dokumentar- und Spiellfilme realisierte sie zwischen 1954 bis heute. Ihre Themen drehen sich um Arbeiterinnen und Arbeiter, um Waisenkinder, die der Staat in seine Obhut nahm, um biografische Ereignisse: um die Ermordung ihrer Eltern 1930 durch stalinistischen Terror, um Ungarns politische Erinnerung: Volksaufstand 1956 – in der Trilogie „Tagebuch für meine Kinder“ (1982 – ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Jury in Cannes) „Tagebuch für meine Lieben“ (1987) und „Tagebuch für meinen Vater und meine Mutter“ (1990) „Der Mann ohne Grab“ (2004), eine Rekonstruktion der letzten Lebensjahre des kommunistischen Premiers Imre Nagy, der nach dem vom sowjetischen Militär niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand die Demokratie einführen wollte und hingerichtet wurde. Derzeit arbeitet die 85jährige an einem Spielfilm, der sich mit den von sowjetischen Soldaten gezeugten Kindern beschäftigt..

Márta Mészáros wurde mit den höchsten ungarischen Ehrunngen ausgezeichnet, erhielt auf der BERLINALE den Goldenen und Silbernen Bären und die Berlinale Kamera und und und… Nach der Preisverleihung am 2. Mai im wunderschönen Caligari-Kino in Wiesbaden, die beherrscht war von den jungen Filmemachern, habe ich sie lange in der Menge suchen müssen, fand ich die bescheidene, grosse Filmkünstlerin aber schliesslich. Eine kurze, aber unvergessene Begegnung.

Agnieszka Holland

Ein weiterer Höhepunkt war die Sonntagsmatinee mit der polnischen Regisseurin, Drehbuchautorin, Schauspielerin Agnieszka Holland. Ihr Film „Fährte“ (Pokot), der bereits im Wettbewerb der diesjährigen BERLINALE Furore erregte, wurde gezeigt. Mittelpunkt dieses anarchistisch-öko-feministischen Thrillers ist wieder eine Frau. Die pensionierte Brückenbauerin und Exzentrikerin mit Namen Janina Duszejko, Hobbyastrologin, Vegetarierin, Menschen- und Tierkennerin lebt in den Sudeten und muss sich ständig mit der hinterwäldlerischen Männerwelt, Jägern, Priestern, Polizisten, auseinandersetzen.

Es beginnt wie ein Naturfilm – wunderschöne Einstellungen von Natur und Tieren, die immer wiederkehren, dann ein Mord und immer mehr Morde. Waren es die Tiere des Waldes, die sich an den Jägern rächen wollten oder die real existierenden Politiker? Der Zuschauer erlebt lebendige, ausgestopfte und Stofftiere. Durchsetzt ist das ernste Thema des Tier-und Umweltschutzes mit schwarzem Humor. Vier Jahre hat Agnieszka Holland an diesem Film gearbeitet. In der Zeit hat sich die politische Landschaft Polens gravierend verändert. Wildschweine und Hirsche sind schliesslich als ‚Mörder‘ angeklagt. Doppeldeutig ist diese Anklage. Wer ist wirklich angeklagt: die Jäger, die Staatsdiener, die Polizisten oder die real existierenden Politiker? Ein spannend-wahnwitziger, ernster Film.

In Warschau geboren, emigrierte Agnieszka Holland nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 nach Paris, wo sie auch heute noch lebt. Sie war Regieassistentin bei den grossen polnischen Filmemachern und Theaterregisseuren Krzysztof Zanussi (*1939) und Andrzej Wajda (1926-2016). Mit Wajda, der Regie führte, schrieb sie das Drehbuch zu Rolf Hochhuths Roman „Eine Liebe in Deutschland“ mit Hanna Schygulla, Armin Mueller-Stahl, Bernhard Wicki, Otto Sander, dem jungen Ben Becker. Gedreht wurde in West-Berlin und an verschiedenen Orten in Baden-Württemberg. Die Kritik seufzte. Erscheinungsjahr war 1983. Es war die erste Produktion mit Artur Brauner. Zwei Jahre später führte sie in „Bittere Ernte“ selbst Regie. Ein voller Erfolg für Agnieszka Holland. Der Film wurde für den Oscar als Bester fremdsprachiger Film nominiert. Für ihren mit Artur Brauner produzierten Film „Hitlerjunge Salomon“ (1990) erhielt sie den Golden Globe und fürs Drehbuch eine Oscar-Nominierung. Die Deutsch-polnisch-französische Produktion erzählt das Leben von Sally Perel, der als jüdischer Junge Mitglied der Hitlerjugend wurde und so die Zeit des Nationalsozialismus überlebte. Eine unfassbare Geschichte, die an Valentin Senger erinnert, der als Jude in der Frankfurter Kaiserhofstrasse 12 –so auch der Titel seiner Autobiografie – überlebte.

Artur Brauner und Familie danach Uraufführung der Dokumentation „Marina, Mabuse und Morituri- 70 Jahre deutscher Nachkriegsfilm im Spiegel der CCC“ (Central Cinema Comany) waren der anschliessende Höhepunkt. Als die Brauners das Caligari-Filmkunsttheater betraten, brach Hektik aus, alle rannten ins Foyer, um das herzliche Wiedersehen von Agnieszka Holland und Familie Brauner mitzuerleben. Küsse hier und da.

Artur Brauner am 30. 4. 2017 im Caligari Kino Wiesbaden

CCC, gegründet 1946, ist die älteste deutsche Filmschmiede, weiterhin im Familienbesitz und wird geleitet von der Tochter Dr. Alice Brauner. In der Dokumentation wird die Lebensgeschichte von Artur ‚Atze‘ Brauner, geboren 1918 im polnischen Łódź, erzählt, der als Jude den Holocaust überlebte. 49 Familienmitglieder wurden ermordet. Ursprünglich wollte Brauner nach dem Krieg in die USA auswandern, blieb aber in West-Berlin hängen. Kein Hass. Trude Simonsohn, die Frankfurter Ehrenbürgerin, Auschwitz-Überlebende, kommt in den Sinn. Ihre Eltern wurden in KZ’s ermordet. Auch sie ist bis heute frei von Hass. Welch Größe!

Um die 500 Filme fürs Kino und für die Fernsehanstalten haben Artur Brauner und Tochter Alice Brauner produziert. CCC errang zwei Golden Globes, einen Oscar für eine Coproduktion und die Berlinale Kamera. Yad Vashem, Gedenkstätte in Israel, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert, ehrt Artur Brauner durch eine eigene Mediathek für seine Filme.

Die Dokumentation, Regie Kathrin Anderson, bereichert durch viele Filmausschnitte, durch Statements namhafter Schauspieler und Weggefährten, durch persönliche Aussagen von Artur und Alice Brauner, ist fern jeder Lobhudelei, immer kritisch, informativ, interessant. Für mich, die ich seit Anfang der 50er Jahre von meiner Mutter, Mitglied im Kölner Filmclub, mit ins Kino genommen wurde, ist das eine wichtige Rückschau des deutschen Nachkriegskinos. Viele CCC-Filme sah ich allerdings nicht, sie waren mir zu flach, zu oberflächlich dem Nachkriegs-deutschen Geschmack angepasst. Mario Adorf gab auch zu, dass er Einwände hatte.

Erstaunlich, welche Energie der fast 100jährige ausstrahlt, der mit Ehefrau, mit Tochter, Schwiegersohn und erwachsenen Enkelkindern gekommen war.

goEast Festival 2017 – das obligatorische Gruppenbild

→ go East – Festival des mittel- und osteuropäischen Films
2016
2015
2014
2013
2012
2011

Comments are closed.