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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„SomeTime“ in Middelheim mit Richard Deacon

Einatmen und Ausatmen in freier Natur und sich inspirieren lassen. Das Middelheim Museum in Antwerpen ist ein Ort der Kultur und der Erholung. Hier kann man neben zahlreichen anderen Skulpturen der letzten 100 Jahre bis zum 24. September auch 31 bedeutende Arbeiten von Richard Deacon entdecken. Der britische Bildhauer nimmt schon seit den 80er Jahren einen Platz an der Spitze der europäischen Bildhauerei ein.

Von Petra Kammann

↑ Einer der 9 Zugänge zum Park. Ab dem 16. Jahrhundert hatten viele wohlhabende Antwerpener Familien ihre Sommerresidenz in Middelheim
↓ Das 2012 zuletzt restaurierte Schloss regt die Phantasie an und macht den Park komplett. Es wurde im 18. Jahrhundert im Stil Ludwigs XVI. gebaut

Das Middelheim Museum ist ein einzigartiges Refugium in der Natur in Nähe des quirligen Zentrums der Hafenstadt Antwerpen und ein Freiluftmuseum, das gegründet wurde, um dem Publikum das Zusammenspiel von Kunst und Natur nahezubringen. Bedeutende Beispiele klassisch-moderner und zeitgenössischer Kunst werden dort in einer herrlichen Parklandschaft präsentiert. Auf dem riesigen Gelände mit allein drei Haupteingängen verliert sich der Besucher nicht, weil sich dort Schaukästen mit einem übersichtlichen Grundriss des gesamten Museums befinden.

Im Wasserschlösschen erhält man einen kleinen Museumsplan, auf dem die wichtigsten Kunstwerke verzeichnet sind, so dass man sich orientieren und seine eigene Route entlang der Lieblingswerke selbst zusammenstellen kann. Der einladende Charme des 2012 vollständig renovierten und neu eingerichteten Middelheimschlosses ist mit einem gemütlichen Museumscafé und einem Museumsshop das pulsierende Zentrum des Skulpturenparks.

Alljährlich veranstaltet das Museum eine Sommerausstellung, die mit einer intensiven Zusammenarbeit mit einzelnen Künstlern verbunden ist. Dabei setzt sich das Museum auch für die Schaffung neuer Werke für Ausstellungen ein, betreut und unterstützt diesen Arbeitsprozess, verbindet das Ausstellungsprogramm eng mit seiner Ankaufspolitik und eröffnet auf diese Weise sowohl renommierten, als auch aufstrebenden Künstlern neue Möglichkeiten für ihre Arbeit. Das Publikum profitiert, weil es hier auf diese Weise neue Kunstwerke zum ersten Mal sieht.

Insgesamt umfasst die Sammlung des Middelheimmuseums rund 400 Kunstwerke aus der Zeit von 1900 bis heute, denn sie ist das Ergebnis einer über 50-jährigen Sammlertätigkeit und Aufbauarbeit. Die Werke vermitteln so eine schöne Übersicht der modernen und der zeitgenössischen Kunst. Die Sammlung wird aber auch jährlich erweitert. Rund 215 Skulpturen sind allein im Park aufgestellt. Unter zum Teil alten mächtigen Bäumen, entlang breiter Wege und auf einladenden Rasenflächen begegnet man den Werken so renommierter Künstler wie Auguste Rodin, Rik Wouters, Henry Moore, Juan Muñoz, Carl Andre, Panamarenko, Franz West, Erwin Wurm und vieler anderer.

Das Middelheim Museum besitzt auch eine Renoir-Statue: Venus Victrix von Auguste Renoir, 1914; Foto: Petra Kammann

Da sich in den letzten Jahren der „White Cube“ als typischer Ausstellungsraum für die Bildende Kunst durchgesetzt hat, regt der viel freiere und offene Naturraum die Künstler ganz besonders an, gezielt neue Werke für diese einzigartige Umgebung zu entwickeln und zu schaffen. Das Middelheim Museum, das renommierte und vielversprechende Künstlerinnen und Künstler ein lädt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich und ihre Arbeit in den Kontext des Parks und der Sammlung des Museums einzubringen, erscheint dabei besonders attraktiv. So entstanden in den vergangenen Jahren u.a. produktive Kooperationen mit Berlinde De Bruyckere, Wim Delvoye,Yoshitomo Nara, Paul McCarthy, Chris Burden, John Körmeling und Erwin Wurm.

Richard Deacon, (from left to right) Covert Custom, 2016. Lower Custom, 2016, Hidden Custom, 2016, Copyright and courtesy of the artist, Foto: Werner J. Hannappel

In diesem Frühjahr / Sommer stellt hier der britische Bildhauer Richard Deacon aus. Ausgangspunkt war Never Mind, ein Schlüsselwerk das die Sammlung des Middelheim Museums bereits 1993 erworben hatte, als man begann, sich vorzugsweise der zeitgenössischen Kunst zu widmen, und das der Künstler nun in Edelstahl umgearbeitet hat. Fast ein Vierteljahrhundert später hat Deacon also nun das Werk „neu fabriziert“, wie er es nennt, um es einem anderen Publikum vorzustellen. Die ursprünglichen Holzleisten von Never Mind wurden abgenommen, Rahmen und Sockel aus Metall wurden restauriert und mit Edelstahlbändern ummantelt.

Richard Deacons „refabriziertes“ monumentales Schlüsselwerk aus der Museumskollektion, „Nevermind“, Copyright and courtesy of the artist, Foto: Petra Kammann

„Richard Deacon gehört einer Generation von Künstlern an, die der Skulptur weiterhin höchste Relevanz und Bedeutung beimessen, in einem Kontext, in dem die Beziehung zwischen dem Konzept und der Materialität eines Kunstwerks immer komplexer wird“, sagt die Direktorin des Middelheim Museums, Sara Weyns. So zieht sich die Idee und die damit verbundene Gestaltung der refabrication, der erneuten, variierten Fabrikation wie ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung SOME TIME. Wegen dieser künstlerischen Strategie bezeichnet Deacon sich selbst als „Fabrikator” (fabricator), der sowohl die Widerstandsfähigkeit von Materialien als auch die von Sprache auf die Probe stellt. Der so beiläufig klingende Titel SOME TIME verweist auf die Flüchtigkeit der Zeit und den sprichwörtlich kurzen Zeitabschnitt wie auch auf die damit verbundene begrenzt haltbare Bedeutung von Objekten im Raum. Dieses Thema wird hier auch durch sechs Werke der 33-teiligen Infinity-Gruppe sowie durch die Serie Some More for the Road (2007) und Alphabet U, Y and Z (2015) in verschiedensten Variationen veranschaulicht.

Den Begriff der Variation bezieht Deacon im Übrigen auch auf Mathematik, Musik und Biologie. Und der Künstler verknüpft seine Beobachtungen von Phänomenen der Veränderung, Verformung und Verlagerung außerdem noch mit einer Faszination für Klassifikationssysteme und Kartografien. Der lakonisch klingende Titel Never Mind verweist dabei auf Variation durch Wiederholung. Dabei greift er auf ältere Formen zurück, verbunden mit der Absicht, diese zu erneuern. Das schafft neue erweiterte Perspektiven.

Richard Deacon, Tomorrow And Tomorrow And Tomorrow ‘B’, 1999 (left); I Remember (3), 2013 (right); Copyright and courtesy of the artist, Foto: Werner J. Hannappel

Deacons Begeisterung für die Variation und die Möglichkeiten unterschiedlichster Materialien ist groß. Unablässig testet und erweitert er die Grenzen des vermeintlich Unvereinbaren, um komplexe, fließende Formen herzustellen, die sich mal auftürmen mal zurückweichen, mal aufsteigen, mal absinken. So bestehen seine abstrakten Skulpturen aus so unterschiedlichen Materialien wie Schichtholz, Edelstahl, Wellblech, Polykarbonat, Marmor und Tonerde bis hin zu Vinyl, Polyurethanschaum und Leder. Manche seiner Werke sind daher eher für den Innenbereich wie im Braem-Pavillon oder in der neuen Skulpturenhalle „Het Huis“ (s. Abb.) geschaffen, während andere Installationen aufgrund ihrer Größe und Materialbeschaffenheit wiederum nur für den Außenbereich geeignet sind und Sichtachsen markieren. Deacon möchte den Betrachter aber auch immer wieder an den Herstellungsprozess erinnern, indem er Holz und Stahl dreht und krümmt und bisweilen die Schrauben und Nieten seiner Werke sichtbar lässt wie etwa bei den in sich verdrehten und miteinander verschlungenen Holzstreben in I Remember 1 (2012) und I Remember 3 (2013). Diese Durchschaubarkeit unterstreicht Deacons Arbeitsweise, die Teil eines Dialogs zwischen dem Künstler und seinem Material ist. Sein Interesse gilt nicht nur der künstlerischen Erfahrung im engeren Sinn, sondern ganz grundsätzlich dem, was Menschen produzieren, um eine Verbindung zur Welt und der Arbeitswelt herzustellen.

Richard Deacon, Keramikskulptur, Copyright and courtesy of the artist, Foto: Petra Kammann

Wie auch immer, seine Herangehensweise bleibt stets dem Experiment verpflichtet, wobei er der Sprache und der Präsenz des Materials in seinen Werken den gleichen Stellenwert einräumt. Die wortspielerischen und witzigen Titel seiner Arbeiten unterstreichen dieses experimentelle Spiel mit Formen und Materialien. Die Ausstellung spiegelt eine Reihe zentraler Fragen, die Richard Deacon während seiner mehr als 40-jährigen Schaffensphase in seinem Œuvre immer wieder behandelt hat. Viele Exponate der Ausstellung, darunter When the Land Masses first Appeared (1986) und Bronze Skin (2002), beruhen ganz oder teilweise auf dieser Strategie der erneuten „Fabrikation“. Indem der Künstler eine Reihe logischer und in sich stimmiger Regeln auf einer bestimmten Basis oder auf eine Ausgangssituation anwendet oder umschreibt, erweitert er immer wieder Grenzen und schafft die Voraussetzung für neue mögliche Bedeutungen und materiell- sinnliche Erfahrungen.

Dass dem Middelheim Museum die Vermittlung moderner Kunst in freier Natur gelingt, dafür spricht der Publikumsandrang. Bei freiem Eintritt suchen jährlich 500.000 Besucher diesen besonderen Ort auf, der auch ein großes Educationsprogramm für Kinder bereithält.

Über Richard Deacon
Richard Deacon (geb. 1949 in Wales) lebt in London; im Rahmen seiner internationalen Laufbahn hatte er Einzelausstellungen im Museum Folkwang, Essen, Deutschland (2016); Kunstmuseum Winterthur, Schweiz (2015); Tate Britain, London, Großbritannien (2014); Sprengel Museum, Hannover, Deutschland (2011); Musée de la Ville de Strasbourg, Frankreich (2010); Portland Art Museum, Oregon, USA (2008); PS1 Contemporary Art Center, New York, USA (2001); MACCSI, Caracas, Venezuela (1996); Whitechapel Art Gallery, London, Großbritannien (1989) und Museum of Contemporary Art, Los Angeles, USA (1988). Er vertrat Wales bei der Kunstbiennale Venedig 2007, nahm 2012 an der Architekturbiennale Venedig (Italien) sowie an der Glasgow International 2006 teil und war 1992 Teilnehmer der DOCUMENTA IX in Kassel.

Richard Deacon wurde 1987 mit dem renommierten Turner Prize und 1995 mit dem Robert-Jacobsen-Preis ausgezeichnet. 1996 ernannte ihn das französische Kulturministerium zum Chevalier de l’Ordre des Arts et Lettres; 1999 erhielt er den britischen Verdienstorden CBE (Commander of the Most Excellent Order of the British Empire).

Das Museum Middelheim liegt 6 km südlich vom Stadtzentrum Antwerpen entfernt. Es ist mit dem Zug, Bus oder der Straßenbahn leicht zu erreichen. Für Autos stehen vor Ort kostenlose Parkplätze zur Verfügung. Das Museum ist täglich außer montags und feiertags geöffnet.

 

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