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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Zeitgenössische Kunst in Antwerpen – Wiedereröffnung des Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen M HKA

Offen für die Kultur einer imaginären Welt:

Das Kunstland Flandern

Von Petra Kammann

↑ Das frisch renovierte Gebäude des M HKA in Antwerpen in einem umgebauten Getreidesilo

↓ Blick in einen der lichten Räume der ständigen Sammlung des M HKA, Fotos: M HKA

Über das Meer und die Schelde kam die Welt schon immer nach Antwerpen. In der zweitgrößten Hafenstadt auf dem europäischen Festland brummt es auch heute noch. Hier stellt man sich auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft ein. Das hippe Viertel „T’Eilandje“ („Inselchen“), das älteste Hafengebiet von Antwerpen, das einst die Lagerhäuser der Stadt beherbergte, war nach der Verlagerung des Hafengeschehens nach außen zunächst einmal heruntergekommen. Nach und nach entstand hier aber wieder eine neue spannende Architektur wie etwa das MAS (das Museum aan den Strom) oder das Auswanderer-Museum, das Red Star Line Museum.

Antwerpen war nicht zuletzt der Lage wegen auch immer wieder ein Zentrum der Ein- und Auswanderer. Heute leben in der belgischen Hafenmetropole 174 Nationen. Das inspiriert nicht nur die Avantgarde der Architektur, sondern auch die Künste. Hier leben profilierte international bekannte Künstler wie Jan Fabre, Luc Tuymans, David Claerbout oder Panamarenko. Künstlerisch gibt es u.a. eine lange Beziehung der Wide White Space Gallery von Betty und Gerd Lohaus zur rheinischen Kunstszene der 60er und 70er Jahre, u.a. durch Joseph Beuys, aber auch durch die Szene der ZERO-Künstler, die damals schon im Hessenhuis in Antwerpen ausstellten.

Koen van den Broeks abstrahierte „Madonna“ von 2010 aus der Sammlung des M HKA 

Jean Fouquets „Madonna“ aus dem Jahre 1452. Die thronende Madonna mit dem Christuskind  aus dem Königlichen Museum der Schönen Künste in Antwerpen war Vorbild

Eigenwillig, eigenartig, eigenständig sind sie, die flämischen Künstler, waren sie es doch auch schon in der Geschichte. Sie sind außerdem experimentierfreudig, repräsentieren die weiten Himmel Flanderns wie die imaginären Räume. Auf der Suche nach Utopien werfen sie visionäre Blicke auf phantastische Landschaften und schaffen immer wieder neue Verbindungen des Grotesken, des Skurrilen und der Tiefe, die aus der scheinbaren Leere entsteht. Dabei schwingen sowohl die Erinnerungen an Brueghel, Rubens, James Ensor, oder René Magritte oder eben den Maler der Frührenaissance Jan van Eyck nach.

„Belgien zeichnet sich vielleicht mehr noch als jedes andere Land dadurch aus, dass es ein perfekter Ort für die Phantasie ist, wie sie für jeden Künstler lebenswichtig ist,“ sagte anlässlich der Ausstellung „Der eigene Weg. Perspektiven belgischer Kunst“ vor fast zehn Jahren in der Duisburger Küppersmühle der gut vernetzte italienische Kunsthistoriker und heutige Kurator des St. Gallener Kunstmuseums Lorenzo Benedetti. Er hatte die Schau mit dem legendären belgischen Kurator und ehemaligem Documenta-Chef Jan Hoet ausgeheckt. Und von dem wiederum behauptete der frühere Akademiepräsident Klaus Staeck, der sei das Quecksilber unter den Ausstellungsmachern gewesen.

An diesen Ruf und die damit verbundene Dynamik knüpft Antwerpen an, wenn es darum geht, die Bedeutung der zeitgenössischen flämischen Künstler in die Welt hinauszutragen. Ende April wurde nach einer gründlichen Renovierung dort das M HKA (Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen), das zeitgenössische Kunstmuseum wiedereröffnet. Es war 1985 gegründet und 1987 in einem umgebauten Getreidesilo und dem angrenzenden Lagerhaus eröffnet worden. Basis der Sammlung des Museums bildete die aus etwa 150 Werken von Künstlern aus Belgien und anderen Ländern bestehende Sammlung der Stiftung Gordon Matta-Clark. Erster Direktor des Museums war Flor Bex, der vorher das 1970 gegründete International Cultural Centre  Antwerpens (I.C.C.) im Paleis op de Meir, einem Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert, geleitet hatte. Die erste Ausstellung zeigte Arbeiten des US-amerikanischen Architekten und Konzeptkünstlers Gordon Matta-Clark. Das Museum mit einer 4.000 m² großen Ausstellungsfläche wird heute von der Flämischen Gemeinschaft betrieben.

 

Bart de Beare, der Direktor des MHKA;  Designer Axel Verwoordt, Fotos: Petra Kammann

Seit 2002, seitdem das Museum mit den inzwischen stark erweiterten Beständen von Bart De Baere geleitet wird, finden dort im Erdgeschoss große Wechselausstellungen statt, während in den oberen lichtdurchfluteten Geschossen wechselnde Werke aus der ständigen Sammlung gezeigt werden. Dort gibt es aber auch Raum für kleinere „Interventionen“ aktueller Künstler. Der Fokus der Wechselausstellungen  – so das Konzept  – liegt auf internationalen Entwicklungen, in welche die belgische Kunst im Sinne der Bestandsaufnahme eingebettet ist. Parallel dazu ist in einer Art Kunst-Labor der Blick auf die kreative Zukunft gerichtet, weswegen auch der Titel der ersten Wechselausstellung zur Neueröffnung „A Temporary Futures Institute“ („Ein zeitweiliges Zukunftsinstitut“) heißt. Die ehrgeizige Gruppenausstellung, die einen Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst und Zukunftsforschung herstellen möchte, ist bis dort zum 17. September zu sehen.

Zentraler Punkt wie in einer Palladio-Villa mit vier Säulen: der neugestaltete Lesesaal des MHKA

Da De Baere den Weg weg vom Kunsthallenbetrieb hin zu einem lebendigen Museumsprogramm nehmen möchte, soll fortan die Dauersammlung kostenlos zugänglich sein. Insgesamt wurde die Empfangsinfrastruktur von Grund auf neu gestaltet: mehrsprachig, sowohl digital als auch erfahrungsorientiert und ausgerichtet auf ein breites sowie vielseitiges Publikum. Im Eingangsbereich wird man zunächst mit Dokumenten der Fluxus-Bewegung an den Wänden empfangen, und bei der Toilette – ursprünglich aus Mönchengladbach – stößt man auf eine von Robert Filliou gestaltete Eingangstür, über die man schmunzeln muss. Auf ihr steht statt „Männer“ oder „Frauen“ „Artistes“, also „Künstler“ geschrieben.

Sodann wird man in einer 35 000 Bände umfassenden Bibliothek und einem Lesesaal mit an die tausend verfügbaren Periodika empfangen. Hier kann man an einem Tisch aus altem Eichenholz Platz nehmen und sich informieren. Die Bibliothek wurde übrigens ehrenamtlich gemeinsam vom japanischen Architekten Tasuro Miki und dem bekannten belgischen Designer und Kunstsammler Axel Verwoordt gestaltet, der in Antwerpen u.a. den Vluykensgang, ein Häuserareal aus dem 16. Jahrhundert, vor dem Abriss gerettet hat. In den Regalen stehen oder hängen hier auch kleinere Objekte der Künstler wie Multiples u.ä., die auf weitere Werke im Museum neugierig machen. Im Rahmen des Umbaus wurden außerdem Voraussetzungen für eine Infrastruktur für das Centrum Kunstarchieven Vlaanderen (Zentrum für Kunstarchive Flandern) geschaffen: ein Wissenszentrum, das Archivbetreibern und Nachlassverwaltern Dienstleistungen anbieten wird.

James Lee Byars, The Giant, 1975, Collectie M HKA, Foto: M HKA

In den unteren Räumen flaniert der Besucher organisch mäandernd und konzentriert zwischen großen lichten und engen dunklen Räumen, wo zum Beispiel James Lee Bars goldener „Giant“ von 1975  auf dunklem Fond ebenso geheimnisvoll aufscheint wie Jan Fabres Selbstportrait als Träumer „Ik, an het droomen“ von 1979. Nach der Wiedereröffnung präsentiert das M HKA eine dauerhafte Basissammlung nationaler und internationaler Referenzkünstler aus der Sammlung des Museums, zeitgenössische und historische Persönlichkeiten wie Jan Fabre, Luc Tuymans, David Claerbout, Marcel Brothers, James Lee Bars oder Panamarenko. Sie stehen dabei stellvertretend für die moderne Generation flämischer Künstler, die nun im „Museum van Hedendaagse Kunst“ erstmals ein gemeinsames Forum auf Dauer gefunden hat.

 

Typisch für Luc Tuymans: die fahlen Farben und die ausgeschnittartig flächigen Motive wie hier beim typisch flämischen Dorf „Vlaams dorp“ von 1995; Sammlung und Foto: M HKA

Im Anschluss an die experimentelle Zukunftsschau wird es vom 6. Oktober bis zum 21. Januar 2018 eine Sonderausstellung des Rheinischen Aktionskünstler Joseph Beuys geben, bei der seine Performance „Eurasienstab“ im Zentrum stehen wird und die er 1967 in Zusammenarbeit mit dem dänischen Künstler und Fluxus-Komponisten Henning Christiansen entwickelt und zunächst in Wien in der Galerie Nächst St. Stephan uraufgeführt hat. 1968 wiederholte er die Fluxus-Aktion in der Galerie Wide White Space in Antwerpen im Beisein von Panamarenko und Marcel Broodthaers. Während der Performance in Antwerpen wurde Beuys auf Anraten von Brodthaers von dem Kameramann Paul de Fru auf 16 mm Schwarzweißfilm aufgenommen. Die Vorgehensweise der Aufnahmen erfolgten nach Anweisungen von Henning Christiansen. Diesen Film heute zu sehen, wird auf jeden Fall einen zusätzlicher Anreiz für eine Kunstreise nach Antwerpen bieten, und sei es in diesem Fall auch eine Reise in die Vergangenheit.

 

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