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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Corpsing“ – Ed Atkins im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

Reales oder fiktives Ich?
Ed Atkins treibt seinen Schabernack mit der Realität, mit der realen und der virtuellen …

Der gerade mal 35-jährige britische Digitalkünstler hat seine teils verstörenden, teils amüsanten Arbeiten bereits in der Tate Britain und im MoMA gezeigt. Nun ist Atkins hochaktuelle Videokunst bis zum 14. Mai im Frankfurter MMK1 zu sehen. Unter dem Titel „Corpsing“ befasst sich Atkins mit dem Einfluss von Digitalisierung und Automatisierung auf individuelle Lebensweisen und Identitätskonzepte heute. Damit passte er auch bestens in das Konzept des alle zwei Jahre stattfindenden Festivals „Frankfurter Positionen“ – eine Initiative der BHF-BANK-Stiftung mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, das in diesem Jahr die Frage nach der Verfassung des Subjekts in digitalen Zeiten unter das Thema „ICH RELOADED“ stellte.

Von Petra Kammann

Ed Atkins beim Presserundgang am 2. Februar 2017, Foto: Petra Kammann

Jeder, der einmal geflogen ist, weiß, dass er bei der Abfertigung hinter der Sperre am Flughafen in einem Sicherheitscheck einen Teil seiner selbst zur Verfügung stellen oder gar abgeben muss wie Mantel, Jacke, Gürtel, Schuhe, Schmuck und Handtaschen. Diese Gegenstände kommen auf das Laufband, bevor der Körper durchleuchtet wird.

Diese Erfahrung, die wir inzwischen auch an anderen öffentlichen Orten machen – wir werden immer transparenter -, war zweifellos auch der Auslöser für Atkins‘ Arbeit im Obergeschoss des MMK1, „Safe Conduct“, was man mit „freies Geleit“ oder „sicheren Transfer durch ,feindliches’ Gebiet“ übersetzen kann. Im Gegensatz zum Flughafen ist hier jedoch die Situation komplett ins Groteske oder Surreale geraten.

Denn hier wird der Passagier, nachdem er seine Habseligkeiten wie Laptop, Pistole, Ananas und Brathähnchen in die Plastikwanne gelegt hat, in seine Einzelteile zerlegt, die dann auf das Förderband geschoben werden. Er nimmt nicht nur seine Augen heraus und seine Nase selbst ab, auch seinen Kopf samt Gehirn. So landen seine einzelnen Körperteile nach und nach in der Plastikschale ebenso wie auch die menschlichen Innereien, die schließlich in einem Vorraum bei den Koffern landen, wo auch leerstehende Stühle herumfliegen.

Ed Atkins, Safe Conduct, 2016, Ausstellungsansicht MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Filmstill, Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London and Gavin Brown’s Enterprise, New York, Foto: Axel Schneider

Begleitet wird der neunminütige Video-Loop auf den drei zueinander montierten wuchtigen LCD-Screens von Ravels bekanntem rhythmisierten „Bolero“, der durch seine motorischen Elemente mit dem immer gleichen unerbittlich kreisenden Grundrhythmus und dem Kontrapunkt der Melodie, die zaghaft dagegen zu sprechen scheint, besonders eindringlich wirkt. Man hofft auf Erlösung durch eine Art Urknall. Doch dazu kommt es in der Atkinschen Computeranimation nie. Das Repetitive der Musik verharrt so lange in der Endlosschleife, bis man den Mann alleine im Flugzeug sitzen sieht, der dann vom Sicherheitsgurt aus kleinen Menschenhänden gehalten wird.

Eine andere Arbeit oder besser Computeranimation mit Avatar, die Atkins eigens den Räumen des MMK angepasst hat, befindet sich dort im Erdgeschoss: „Hisser“ (2015/2017). Sie ist synchron auf fünf riesengroßen Projektionswänden in verschiedenen Räumen zu sehen. Die darauf gezeigte Szenerie, ein Zimmer mit Bett, in dem ein einsam trauriger Mann lebt, der mal angezogen, mal nackt auf dem Bett oder auf dem Fußboden liegt, ist omnipräsent.

Als das Zimmer von Erdstößen erschüttert wird und der Boden durchbricht, fällt der Mann samt Bett in ein dunkles Nichts. Dann wandelt er nackt durch eine nicht näher definierte weiße Umgebung.

Irritiert bleibt der Betrachter ob der absurden Situation zurück. Die Geschichte gibt Rätsel auf. Dabei halt: etwas Ähnliches gab es tatsächlich, als 2013 in Florida ein junger Mann durch eine plötzlich sich öffnende Grube in seinem Schlafzimmer vom Erdboden verschluckt wurde. Die Begebenheit hat Atkins wohl zu diesem Film inspiriert. Bei dem Protagonisten, dem anonymen Leidenden, handelt es sich aber um eine vollständig am Computer generierte Animation des britischen Künstlers. Doch wird das Avatar zu seinem Alter Ego? Auch hier schleicht sich eine traurig-süßliche Melodie ins Ohr des Museumbesuchers, diesmal gesungen vom Künstler selbst. Dem 20minütigen Alptraum kann man nirgends entgehen, weder optisch noch akustisch.

Ed Atkins, Hisser, 2015/2017, Ausstellungsansicht MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main 2017, Filmstill, Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s Enterprise, New York and dépendance, Brüssel, Foto: Axel Schneider

Der Titel der Ausstellung „Corpsing“, ein Begriff aus der Theaterwelt, bezeichnet einen Moment, in dem der Schauspieler aus seiner Rolle fällt, weil er einen Lachanfall hat und die Realität in der Fiktion einen Moment lang sichtbar wird. Er gibt aber auch Hinweise auf den schwarzen Humor des Künstlers angesichts einer absurden Welt.

Stellt sich die Frage: Leben wir noch oder werden wir schon gelebt? Der Frage, was real sei, ist die Philosophie schon immer nachgegangen. Ist die Welt so, wie wir sie wahrnehmen? Gibt es ein unmittelbares Abbildungsverhältnis zwischen der Welt und den Vorstellungen in unserem Bewusstsein? Und was hat es dann mit den Sinnestäuschungen auf sich? Werden die wahrgenommenen Sinnesdaten erst durch kognitive Prozesse im Gehirn umgewandelt?

Die „naiven Realisten“ sehen ein unmittelbares Abbildungsverhältnis zwischen der Welt und den Vorstellungen im Bewusstsein. Insgesamt scheint der Mensch daher die Welt so wahrzunehmen, wie sie im Wesentlichen ist. Diese Auffassung, welche dem Alltagsverständnis entspricht, spielt nicht mit dem Begriff des Fake, der inzwischen auch die große Politik erheblich beschäftigt. „Atkins gilt als radikalster Vertreter einer Künstlergeneration, die man als Post-Internet-Artists bezeichnet“, sagt MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer über den Künstler. Auch wenn Atkins sich selbst nicht als solcher versteht, so gibt die Bezeichnung doch einen Hinweis auf eine neue Lage, dass es nämlich eine Welt ohne Internet nicht mehr geben kann, selbst wenn das künstlerische Medium nicht zwangsläufig deswegen eine Computeranimation sein muss.

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung: Professor Philippe Pirotte, Rektor der Städelschule, Ed Atkins, Professorin Susanne Gaensheimer, Direktorin des MMK, und Stefan Mumme, Geschäftsführer der BHF-BANK-Stiftung; Fotos: Petra Kammann

Im Rahmen der „Frankfurter Positionen“ ist Ed Atkins im Wintersemester 2016/2017 ein halbes Jahr lang Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule. Gemeinsam mit den Studierenden erarbeitet er dort ein eigenständiges Format zum Thema der Ausstellung. Man darf gespannt sein, welche neuen künstlerischen Positionen daraus erwachsen.

Ed Atkins, „Corpsing“ im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main (MMK1), bis 14. Mai 2017

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