Kultur unter Realitätsdruck
Von Gunnar Schanno
Wir hatten es von der Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation. Zu den primären Anliegen im heutigen Zivilisationsverständnis gehört die Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen und dies zunächst in rein physischer Hinsicht. Die Verminderung körperlichen Unwohlseins, ein Leben in Schmerzlosigkeit, so lauten die nächstliegenden und vitalsten Ziele. Jeder prüfe es an sich selbst! Technik und institutionelle Regelungen, wie sie auch für den Gesundheitssektor bereit stehen, führen auf diesen Weg. Forschung und Erkenntnis auf allen Gebieten der Wissenschaften sind die begründenden Wegbereiter. Menschen etwa auch nahöstlicher Kulturen machen sich auf den Weg auf der Suche nach medizinischer Behandlung auf höchstem Erkenntnis-Niveau, von dem sie von fernher hören. Funktionsformen und Anwendungen basieren auf einem Niveau, wie es von menschlichen Gesellschaften über die Jahrhunderte hin nur in freien, spezifischer gesagt, tabufreien Zivilisationsräumen erreicht wurde.
Die fernhergereisten Gesundheitssuchenden lassen ihre eigene Kultur für einige Tage oder Wochen zurück, vertrauen sich nicht religiösen Führern, sondern den Göttern in weißen Kitteln an, begeben sich unter Menschen, die sie aus eigener religiös-kultureller Sicht vielleicht als die Unreinen und Ungläubigen wahrnehmen. Doch geben die Weithergereisten auch indirekte Kunde davon, dass ihr tradiertes Lebens- und Seinsverständnis von der Realität eingeholt wird und verdeutlichen eher unbewusst oder ungewollt, nicht selten unter verhüllenden Habits, dass ihre heimatliche Kultur, besonders jene religiös-abgegrenzter Ausprägung, unter Realitätsdruck steht. Ein Merkmal nämlich jeder Kultur ist, dass sie unaufhörlich unter Realitätsdruck steht, und freilich auch die unsere. Das Paradoxe daran scheint, dass die auf Zeitlosigkeit und Absolutheit hin angelegte Kultur immerzu unter dem Korrektiv des Zeitverhaftetsten im Sinne dynamisch rational-bestimmter Zivilisation steht.
Nettomigrationsrate für 2011: Per-Saldo Zuwanderung (Blau), Per-Saldo Abwanderung (Orange), Per-Saldo keine Veränderung (Grün), keine Daten (Grau); Quelle/Bildnachweis: wikimedia commons / GNU Free Documentation License GFDL
Die zugrunde liegende Logik zivilisatorischer Dominanz bedingt sich durch die Systematik medizinischer, pädagogischer, psychologischer oder welcher Forschung auch immer, bedingt sich allgemein durch die in wissenschaftlicher Begründung angewandten Erkenntnisregeln, etwa als klinisch-therapeutische Anwendung. Die Gesellschaft richtet ihre jeweils erreichten Normen und Standards letztlich bis in Gesetzestexte und Rechtsprechung danach aus, will sie sich schließlich nicht disqualifizieren, will sie nicht zurückbleiben hinter dem selbst-errungenen Erkenntnisstand, für den sie in Forschungsinstituten und an Hochschulen Milliardengelder verausgabt.
Eine jeweilige Kultur, wie sie als Ganzes gesehen bezeichnet wird, ist ein Korpus, bestehend aus unzähligen Aspekten und Einzelmerkmalen, gewissermaßen Variablen, von denen der Kulturkorpus ununterbrochen in Bewegung und Veränderung gehalten wird. Fast durchgängig sind es die so genannt weichen Faktoren im Sinne von Variablen des Subjektiven, Emotionalen, des Ausgestaltenden, des Künstlerischen, des Religiösen. Fragen des Kompatiblen, des gegenseitig sich Vertragenden, des Ko-Existierenden unterschiedlicher Kulturen unter einem gesellschaftlichen Dach stellen sich deshalb nicht im Sinne des Gegensatzes einer Kultur gegen eine andere. Wagen wir zu sagen, dass nur wenige Prozent der Aspekte und Variablen innerhalb einer Kultur in Unverträglichkeit zu anderen Kulturen oder den oben erwähnten zivilisatorischen Standards innerhalb einer Gesellschaft stehen, so kann die Diskussion um Leitkultur oder Landeskultur, nach der sich Vertreter anderer Kulturen zu richten hätten, beiseitegelassen werden.
Entscheidend ist also nicht die Kultur als Ganzes im Sinne eines Gesamtkorpus, sondern sind unter ihren unzählig vielen Aspekten und besagten Variablen allein solche, die zivilisatorische Standards verletzen. Die Bürgergesellschaften des europäischen Raums erfahren derzeit, dass es besonders jene Variablen eines kulturellen Korpus sind, die aus dem Merkmalsbereich des Religiösen stammen. Es sind nur wenige, mit aber umso mächtigeren Ausprägungen und Auswirkungen. Für besagte menschenrechtlich fundierten Bürgergesellschaften sind es gewiss die archaisch zu bezeichnenden Kulturmerkmale, wonach das Politische nicht vom Religiösen zu trennen sei, wonach männliche Dominanz innergesellschaftlich auch über die Zweijahrtausendwende hin erhalten bleibe, wonach das eigene Glaubens- und Religionskonstrukt mit allen Folgen der Toleranzverweigerung anderen Konstrukten überlegen sei.
Nun wird gerade in all den multikulturellen Herausforderungen inmitten unserer Gesellschaft gesagt, die Bürger möchten sich doch bitte mit anderen Kulturen auseinandersetzen, deren Menschenbild, deren Sicht- und rituelle Handlungsweisen kennenlernen, um Verständnis für sie zu gewinnen. Gemeint ist aus gegebenen Anlässen besonders das Verstehen ihrer religiösen Inhalte, wie sie etwa in heiligen Schriften zu finden seien. Es sei die paradox klingende Aussage erlaubt, dass etwa auch aus bundesdeutscher Sicht wir uns überhaupt nicht mit anderen Kulturen, sprich ihren mächtigsten Merkmalsausprägungen, wie es die Religionen sind, befassen müssen, so schön oder interessant freilich ein Sich-Befassen mit jüdischen, islamischen oder buddhistischen Lehren auch sei. Es gibt unter den Bundesbürgern unzählig viele, die sich noch nie mit heimischer christlicher Religion befasst, nie eines ihrer Gotteshäuser betreten haben. Sollten sie nun auf einmal ohnehin schwer zu erfassende kulturferne Glaubensschriften studieren, die Gebetshäuser anderer Religionsgemeinschaften aufsuchen, um sich zu vergewissern, dass hinter ihren Mauern nichts Heilloses verkündet wird?
Das Bürgerrechtliche, im weitesten Sinne das Menschenrechtliche, mit ihren säkularen Rechtsnormen bis hin zu so profanen wie den Verkehrsgeboten, steht für den Einzelnen stets unter Pflicht. Bürgerliches Recht und Strafgesetzbuch haben exekutiven Status im Alltagsleben. Wie unterschiedlich doch zu Vorgänglichkeiten innerhalb der Welt der Kultur und innerhalb ihrer im Bereich des Religiösen! Es gibt keine kulturelle, also auch keine kultische, künstlerische oder religiöse Regel, die verpflichtenden Charakter hätte, die bei Nichtbefolgen gesetzlich sanktioniert würde. Niemand kann zu einer kultisch-künstlerischen oder religiösen Einstellung oder Praxis verpflichtet werden. Auch in innerreligiösen Sanktionssystemen gilt das Kompatibilitätsprinzip mit dem säkularen Recht. Wer künstlerischen Zirkeln, ideologischen, wenn nicht gar totalitär geprägten oder innerreligiösen Bestimmungen nicht oder nicht mehr folgen will, hat das Recht, sich aus deren Wirkungsbereich zu entfernen. Das ist Menschenrecht und universelles, also auch europäisch-geprägtes Rechtsverständnis zugleich.
Kulturvertreter unserer Gesellschaft tun gut daran, kulturelle Vielfalt zu würdigen. Sei es im Bereich der Kunst, wie ja auch in Frankfurter Museen Werke ferner Kulturen beheimatet werden, sei es, nehmen wir wieder Frankfurt als Beispiel, in der Vielfalt religiöser oder ethnischer Kommunitäten. Die europäischen Bürgergesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Kulturen gegenüber, bei besonderem Blick auf Religionsgemeinschaften, großer Respekt und hohe Anerkennung gilt. Es ist darin auch das Anerkennen des grundsätzlich Subjektiven, Transzendierenden, des Schöpferischen, eines kulturell geprägten Erlebens von Individualität wie Gemeinschaft.
Es geschieht aber auch, dass Kulturbeflissene das Einfordern zivilisatorischer Standards in hiesiger gesellschaftlicher Praxis, wie sie für alle, auch jener von weither geflüchteten Bürger zu gelten hat, mit dem Vorwurf des Eurozentrismus belegen. Es ist aber nicht die geographische Herkunft von Erkenntnissen, die bestimmt, was europaweit oder universell gilt. Es sind die über alle Grenzen hin in Pragmatik gebildeten Standards selbst, die den Rang des Universellen einnehmen. Es sind nicht allein europäische, sondern universell genannte Menschenrechte eines von Würde und Ganzheitlichkeit ausgehenden Menschenbildes, die in internationalen Chartern und Konventionen oder in demokratischen Verfassungen verankert sind. Von weither kommende, in Religions-, Bürgerkriegs- oder Fluchtgeschehen traumatisierte Menschen werden nicht dem Eurozentrismus oder etwa einer deutsch-kulturellen Überlegenheit ausgesetzt, wenn ihnen auf allgemeiner psychotherapeutischer Erkenntnislage Linderung bereitet wird. Vielmehr kommt ihnen eine zivilisatorisch-basierte Realität zugute jenseits aller kulturellen Unterschiedlichkeiten.
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Gunnar Schanno, Publizist, Fachjournalist und Autor zahlreicher Bücher zu gesellschafts- und wirtschaftspolitischen sowie religiösen und philosophischen Themen, setzt mit diesem Beitrag seine Reihe von Essays insbesondere zu Fragen von Kultur und Zivilisation fort. Hier seine bisher an dieser Stelle publizierten Beiträge:
→ Globalisierung – ein Megabegriff versus Kultur und Zivilisation?
→ Kultur und Kulturrelikt in globalisierter Welt
→ Kultur als Leitkultur – ein Missverständnis
→ Kultur und Heimat. Anmerkungen zur Heimat als Kulturbegriff in Zeiten der Migration
→ Das Buch – Ikone und Archetyp der Kultur
→ TTIP und kollaterale Kultur
→ Kultur – Profiteur der Zivilisation
→ Kultur und Zivilisation
→ Eine Zwischenbetrachtung über die Natur