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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Inge Kersting – Seelenabdrücke

Ein Atelierbesuch

Von Hanneke Heinemann

Noch mehr als andere produktive Menschen stehen Künstler, insbesondere Künstlerinnen, vor der Aufgabe, sich Freiräume zu schaffen, in denen sie nicht nur physisch, sondern auch mental Platz finden, die gefundenen und entwickelten Ideen in einer Form zu materialisieren, damit auch wir sie sehen und begreifen können. Ohne einen „Raum für sich selbst“ wird Kunst häufig nicht sichtbar und bleibt in der Person des Kunstschaffenden verschlossen.

Dieses Feuilleton berichtet regelmäßig und ausführlich über Kunst aus Ateliers, die von der Stadt Frankfurt gefördert werden. Dort finden Künstlerinnen und Künstler – in der Regel zeitlich begrenzt – einen Raum zum Austausch, aber auch zum konzentrierten Arbeiten. Kunst entsteht allerdings nicht nur hier. Und es lohnt sich, auch die Räume aufzusuchen, wo häufig unbeobachtet in gewerblichen Leerständen oder zur Untermiete in verschiedensten Räumlichkeiten beachtenswerte Kunst entsteht.

Inge Kersting empfindet es als großes Glück, dass sie nach Monaten des Suchens einen von zwei Fenstern erhellten Raum in der Nähe der Alten Oper für ihre Staffelei und ihren Aquarellblock gefunden hat. Vorher entstand ihre Kunst – da ist sie keine Ausnahme – auch in der eigenen Wohnung, in multifunktionalen Räumen also, in der die Abgrenzung zum Alltag nicht immer möglich ist.

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Inge Kersting

Die pragmatische Entscheidung, nicht freie Kunst zu studieren, sondern Kunstpädagogik und diese Tätigkeit auch jahrzehntelang auszuüben, treffen im Verhältnis besonders viele Künstlerinnen, da für sie immer noch der Kunstmarkt mit größeren Hürden versehen ist und sie die Sicherheit einer Anstellung schätzen. Julia Voss hat dies unlängst in einem engagierten Vortrag in einem Atelierhaus zum Thema gemacht.

Dieser von der wirtschaftlichen Notwendigkeit bedingte Kompromiss ließ Inge Kersting allerdings die Möglichkeit, sich neben den Aufgaben in der Familie weiterhin mit Kunst beschäftigen zu können, wenn auch im eher vermittelnden Bereich, als sensible Begleiterin und Unterweiserin, in der die eigene Kreativität jedoch häufig hintenan stehen muss.

Erst nach dem Ende des Berufslebens konnte sie zur freien Vollzeitkünstlerin werden. Sie genießt die tägliche Fahrt in das Atelier und die damit einhergehende Konzentration auf die Arbeit an den Ideen und Formen. Ihre Inspirationen sind äußere Erlebnisse und Seherfahrungen und ein großer Formen- und Empfindungsschatz.

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jeweils O.T., Aquarell

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Inge Kerstings Repertoire ist abwechslungsreich in Form, Komposition und Kontrasten, sie tendiert jedoch immer zur Abstraktion. Sie bezieht sich zwar auf Gegenstände, die allerdings häufig ihre Semantik verlieren und zu Form und Bewegung werden. Starre Objekte wie der Strahlenkranz der Freiheitsstatue in New York oder ein Kreuz aus dem Schlafzimmer ihrer Kindheitserinnerungen reduziert sie auf Ausschnitte, häufig auf Teile, die nach außen gerichtet sind wie die ausstrahlende Krone oder die Kreuzesarme. Diese auch durch ihre detaillose Malweise verfremdeten Details setzt sie selten gerade ins Bild, sodass allein durch diese Setzung eine gewisse Spannung entsteht. Auch auf Organisches greift sie häufig zurück. Zeichnungen sind voller Reihungen durchscheinender Kreis, die als Perlen oder Wassertropfen gelesen werden können. Runde, abstrakt erscheinende Kreise können für Eizellen stehen, Spermien gehören zum häufigen Repertoire ihrer Bilder. Der Beginn des Lebens, das Zusammenkommen von Ei und Samen, hat sie in früheren Serien in bewegten, nur auf dem ersten Blick ornamental erscheinenden Blättern festgehalten. Dieses für sie so wichtige Thema findet immer wieder Nachhall in ihren Arbeiten. „Leben ist Bewegung“, betont die Künstlerin und bezieht sich auf Aristoteles. Gerade in diesem Fruchtbarkeitsmotiv wird der Satz besonders sinnfällig. Große sich um einen Punkt konzentrierende Bewegungen, denen trotz der schwärmenden Masse an Spermien nichts Bedrohliches anhaftet, versinnbildlichen nicht nur den kurzen Moment vor dem Entstehen eines neues Lebens, sondern weisen auch auf andere Situationen hin, in denen sich ein Einzelnes gegen eine Gruppe in Verhältnis zu setzen hat.

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jeweils O.T., Aquarell

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Auf Reisen ist sie besonders offen für Eindrücke, die dann Eingang in ihre Werke finden. Sie sind jedoch verschlüsselt und in eine Sprache umgesetzt, die die Malereien und Zeichnungen von ihrem Inspirationsort ablösen und verallgemeinern. Eine am Anfang dieses Jahres abgeschlossene Serie verarbeitet Reflexionen, die in Venedig und auf der anschließenden Heimreise entstanden. Die heitere Farbigkeit findet sich schon in früheren Werken, ist aber hier sicherlich als Reminiszenz auf die „Serenissima“, die Heitere, zu sehen. Gelblich-rote Farbtöne spiegeln die Mauern wider, ein auf das Wasser verweisendes helles Blau-Türkis ist überall präsent. Versatzstücke wie der Schriftzug „Malibran“ fließen in die Bilder hinein und werden deren zeichnerischer Bestandteil. Das ihr schon seit der Kindheit vertraute Venedig ist für Inge Kersting eine Stadt, die friedlich, wenn auch nicht immer spannungslos, die mosaischen Religionen vereint hat. Ein vor einem Jahr entstandenes Bild zeigt programmatisch nebeneinander Kreuz, Judenstern und Halbmond. In den Aquarellen herrschen gekurvte Flächen vor, die auf Reflexe an der Wasseroberfläche zurückgehen. In ihr Spiel fügen sich Symbole wie der Halbmond, aber auch arabische Schriftzeichen homogen ein. Gegensätze in den Farbkontrasten sind zurückgenommen, werden durch die Farben in ihren sanft-wellenartigen Bewegungen jedoch nicht aufgelöst – ein vielleicht sogar gesellschaftlich zu lesendes Statement in einem Aquarell.

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O.T., Acryl-Öl

Waren in den Venedig-Bildern zeitnahe Eindrücke verarbeitet, greift Inge Kersting in der Kreuz-Serie auf Kindheitserinnerungen zurück. In ihrem Schafzimmer hing ein Dreiblattkreuz, auf das kurz vor dem Einschlafen ihr Blick fiel. Es ist Ausdruck eines noch unangefochtenen kindlichen Glaubens an einen Gott, der behütet und alles richten kann, hoffnungsversprechend und ohne Angst. Heute setzt sie holzschnittartig die dreiblättrigen Arme auf einen schwarzen, lichtverschluckenden Hintergrund. Die Form bekommt so etwas Schneidendes, die gelb-grünliche Helle wirkt fast gespenstisch. Die Frage, ob sie sich vor dem Kreuz gefürchtet hatte, verneint sie, ist sich aber nach einigem Rückerinnern nicht mehr sicher. Dass sie die Kreuzform wenig später mit fluoreszierenden Farben wiederholt, gibt einen Hinweis darauf, dass es vielmehr um die Erscheinung der Form im Nachtlicht als um transportierte Erinnerungen oder Inhalte geht. Sie vergewissert sich der Form, indem sie das Motiv nicht nur einmal anfertigt, sondern mehrfach. In unterschiedlichen Formaten, verschiedenen Ausschnitten und in Variationen dekliniert sie das Motiv durch und ordnet die einzelnen Leinwände so zusammen an, dass gleichzeitig Einheit und Vielfältigkeit suggeriert werden. Mitunter vermeint man, ein weiteres Kreuz zu sehen, in dem sich ein anderer Aspekt des Erinnerns oder Glaubens manifestiert. So entsteht aus lückenhaften, mehrfach wiederholten Erinnerungen ein reizvoller neuer Teppich, der das ursprüngliche Motiv fast vergessen lässt.

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Atelieransicht

Im Atelier sind mehrere Werke aus unterschiedlichen abgeschlossenen Serien zu sehen, die sich einerseits stark von einander absetzen, aber andererseits gemeinsame Elemente erkennen lassen können: Neben den schon beschriebenen strengen, klar aufgeteilten Kompositionen, auf denen sie immer wieder denselben Ausschnitt eines Kreuzes auf einer dunklen Fläche abbildet, und den hellen Zeichnungen mit verspielten Linien und organischen Flächen finden sich Leinwände mit zackigen, bildbestimmenden Strahlenkränzen – ein kleiner Ausschnitt aus der New Yorker Freiheitsstatue.

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O.T., Acryl-Öl

Neben der Staffelei stehen die neuesten Arbeiten, die sehr malerisch den Himmel abbilden, in denen sich wieder Kreuze oder futuristisch anmutende Erscheinungen befinden, die fremd und hell in der bewegten Atmosphäre stehen. Ein recht ungewöhnliches Motiv, da Visionen im Himmel oder der Einbruch von Absurdem in die reale Umwelt gemeinhin in andere Zeiten wie die beginnende Neuzeit bzw. den Surrealismus verortet wird. Doch Inge Kersting bezieht sich nicht auf kunsthistorische Bezüge, sondern erspürt wie viele moderne Künstler Form und Ausdruck in ihren eigenen Gefühlen und ihrem Seelenleben – darin nicht ganz unähnlich den Surrealisten.

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O.T., Acryl-Öl

Ausgangspunkte sind häufig drückende Ängste, die im Bild verarbeitet und sublimiert werden. Konkret benennt sie als Hintergrund für ihre neuesten Bilder die Beschäftigung mit ihrer Flugangst, die gepaart ist mit einer Faszination zur Weite des Himmels und zu Wolkenformationen. Vor die Schönheit des Himmels setzt sie eine von einem Trapez bestimmte helle Form, die vom Chevrolet-Logo inspiriert ist. Es wird von der Künstlerin umgedeutet und als Engel gesehen. Beim Betrachten spürt man durchaus die genannten Bezüge: den etwas dramatisierten Himmel, der Ängste auslösen könnte, das unerklärlich Technische der geometrischen Form, aber auch das Lichte einer imaginierten Engelsgestalt.

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O.T., Acryl-Öl

Inge Kersting nennt diese Bilder, in denen sie Vergangenes und Gegenwärtiges verarbeitet, „Seelenabdrücke“. Ist es ein Zufall, dass Platon die Erinnerung mit den Abdrücken eines Siegelringes in einer Wachsplatte vergleicht? Ein sehr schönes Bild, zeigt es doch, dass Gedächtnis selektiv ist, vom Gegenstand selbst nur einen Teil zeigt, der jedoch klar vom ihm abgenommen und in einem weichen Material konserviert ist. Eine Eigenschaft der Gedächtniskraft scheint zu sein, dass man selbst seine eigenen Erinnerungen nicht immer korrekt abgreifen kann. Wie unlesbar müssen dann erst die Eindrücke für einen Außenstehenden sein, der diese selbst nie geteilt hat. Erinnerung ist trügerisch und variabel. Versucht man Bilder und Gefühle von Vergangenem zu konkretisieren, entgleitet mitunter das erste Bild und ein anderes kommt hervor, als ob man – um im Bild zu bleiben – das Wachs angeschmolzen und nun etwas anderes hineingeprägt hat. Inge Kersting hält eine Erinnerung auf der Leinwand fest, lässt diese als Abgeschlossen stehen und wendet sich einem anderen Bild zu. Durch die zwischenzeitlich durchlebte Erfahrung kann es passieren, dass beim Bezug auf die selbe Erinnerung ein anderes Bild entsteht.

Für Inge Kersting ist das Malen allerdings mehr als ein Abdruck innerer Bilder. Es ist ein Klärungsprozess, der in einem mitunter emotional schmerzhaften, aber immer befreienden Akt die inneren dunklen Geister einfängt und auf die Leinwand entlässt. Aus einer von einem Flugzeug verursachten diffusen Angst wird ein lichter Engel, von dem keine Bedrohung mehr ausgeht. Dies zeigt, dass die Emotionen zwar der Ausgangspunkt der Bildfindung, aber nicht unbedingt die Aussage des Bildes selbst sind. Beängstigendes wird in Helles umgewandelt, Freundlich-Hoffnungsvolles wie ein Kreuz in einen tiefdunklen Kontext versetzt. Auch beim unvoreingenommenen Betrachten ist das emotionale Abarbeiten zu spüren. Der Gewinn liegt – wie sollte es in der Kunst auch anders sein – in der daraus entwickelten Form, die selten allgemein verständlich ist, da die Seh- und Erfahrungswelten von Künstlerin und Betrachter nur im Glückfall große Schnittmengen zeigen. In den Bildern manifestiert sich die Persönlichkeit unmittelbar, kehrt vieles von ihrem Inneren nach außen. Inge Kerstings Bilder sind nur bedingt auf einer intellektuellen Ebene zu fassen, daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn man mit einzelnen Bildern oder sogar mit einer ganzen Serie nichts anfangen kann.

Auch wenn Inge Kersting bereitwillig Auskunft über die Anstöße und Gedanken zu den Bildern gibt, bleibt ihnen letztendlich ein Unbekanntes innewohnen. Ihre nun entstandenen Bilder geben durch das Fehlen von klar präsentierten Objekten und als Symbol zu lesende Formen wenig Halt. Man erfreut sich an einem atmosphärischen Quellen in hellen Blau- und Rottönen, die aus einem Morgenhimmel entstammen könnten. Romantik ist insofern angebracht, als dass das Motiv aus dem Himmel entlehnt ist, jedoch auf die Ursache von Flugangst verweist: Ein sich verwirbelnder Kondensstreifen, der Ur-Bewegungen aufnimmt wie Wasser- und Luftwirbel, die nicht nur Leonardo faszinierten. In ihm scheint etwas zu wachsen, sich zu befreien – so kommen Bezüge zu Zellwachstum oder früheren Bildern auf. Die Ursache der Angst selbst – das Flugzeug – ist nicht im Bild zu sehen. Es wirkt vielmehr die Heiterkeit des Farbklangs und der luftigen Malweise und lässt kaum Ahnung von Bedrohung aufkommen. In der Schönheit der quellenden Wolken ist die Sehnsucht nach Ferne und Grenzenlosigkeit zu spüren.

Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie sich in Bildern Räume öffnen, innere und äußere Welten in ihnen Platz finden. Dabei wurden sie in einem recht kleinen Zimmer gemalt – „einen Raum für sich selbst“, den Inge Kersting allerdings nun aufgeben muss, weil der Mietvertrag ausläuft. Es ist zu wünschen, dass sie schnell wieder einen passenden Raum finden wird, damit ihre Seeleneinblicke weiterhin Bild werden können.

Fotos: Hanneke Heinemann

→ Blick nach innen, Schritt nach draussen: Inge Kersting – Malerei


FEUILLETONFRANKFURT WÜNSCHT ALLEN KÜNSTLERINNEN UND KÜNSTLERN SOWIE ALLEN LESERINNEN UND LESERN
EIN GLÜCKLICHES JAHR 2017

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