„Eugen Onegin“ von Peter I. Tschaikowski an der Oper Frankfurt
Der Traum vom Märchenprinzen. Keine Versöhnung
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt und Renate Feyerbacher
Die Begeisterung für die Sängerinnen und Sänger sowie für die Musiker nach der Premiere von Peter I. Tschaikowskis Werk „Eugen Onegin“ am vergangenen Sonntag wurde lediglich durch einige Buhrufe für die Inszenierung getrübt.
Während des Vorspiels blickt die Amme Filipjewna zum Publikum. Unheil ahnend? Dann werden die hohen Gitterelemente, die ein Gefängnis anzudeuten scheinen, aufgeschoben. Hoch oben kyrillische Leuchtschrift: „Wir werden gehen, uns küssen, altern …“ (Anna Achmatowa). Auf aufgetürmten Stühlen – entfernt von den andern – sitzt Tatiana, liest und träumt. Ihre lebensfrohe Schwester Olga spielt mit den Kindern; die Amme sitzt stickend abseits und erinnert sich mit Larina, Mutter der Mädchen, an die Liebesqualen, die diese als junge Frau erdulden musste. Das Zukünftige wird bereits vorausgeahnt. Dieses Frauen-Quartett ist eine musikalische Wonne.
Später dreht sich die Bühne. Eine Großbäckerei. An vielen Tischen stehen Bäckerinnen und Bäcker und kneten Teig. Der Chor an der Oper Frankfurt entfaltet sein prächtiges Volumen (Chordirektor Tilman Michael). Die reiche Larina, hier nicht Gutsbesitzerin, sondern Unternehmerin, inspiziert die Arbeiten. In diesem Ambiente empfängt sie später Lenski, den Dichter und Nachbar, der seinen Freund Eugen Onegin mitbringt. Lenski zerfliesst in Liebe zu Olga. Onegin, der seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, blickt interessiert auf Tatiana, die ihrerseits sich in den Fremden verliebt, in ihm die Erfüllung ihrer Träume sieht. Larina bittet alle in den Salon, wieder dreht sich die Bühne.
Sara Jakubiak (Tatiana) und Daniel Schmutzhard (Eugen Onegin); Foto © Barbara Aumüller
Ein bis zur Decke reichendes Mosaik verziert die Rückwand des Salons. Bei Oper extra erzählt Bühnenbildnerin Katja Haß, dass sie sich von dem Mosaik „Aus dem Leben der Völker der Sowjetunion“ im Berliner Café Moskau inspirieren liess. Der in Aachen geborene Künstler Bert Heller (1912-1970), Professor und später Rektor an der Hochschule für Bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee, hatte es gestaltet. Ein Meisterwerk der Nachbildung haben die Bühnenmaler, Künstler der Oper Frankfurt, in monatelanger Arbeit geschaffen. Es gab Momente, wo das Licht, das Joachim Klein steuerte, wunderbare Verfremdungen zauberte. War es dieses DDR-inspirierte Bühnenbild oder die Gross-Bäckerei-Szene, die den Unmut der wenigen Buh-Rufer hervorriefen? Oder die militärische, im letzten Akt nur in schwarz auftretende Gesellschaft am Hofe des Fürsten, die nur gebrochen wurde durch Tatianas glanzvollen Auftritt in einer schwarz- oder blau-weissen Abendrobe, die Wojciech Dziedzic verantwortet? Oder war es die Inszenierung, die Dorothea Kirschbaum nach einem Konzept des erkrankten Regisseurs Jim Lucassen übernommen und weiterentwickelt hat? Die Buh-Rufer hätten befragt werden müssen, denn das Gros des Publikums war angetan von der Inszenierung, vom Bühnenbild und den Kostümen.
Nicht Oper, sondern „Lyrische Szenen in drei Akten und sieben Bildern“ nennt Peter I.Tschaikowski (1840-1893) „Eugen Onegin“. Uraufgeführt 1879 in Moskau wurde dem Werk keine Zukunft vorausgesagt. Dabei wurde es das bedeutendste seiner zehn Bühnenwerke. Zusammen mit Konstantin S. Schilowski hat er den Text nach dem gleichnamigen, psychologisch-gesellschaftskritischen Versroman von Alexander S. Puschkin (1799-1837) verfasst. Puschkin, dessen Lyrik seinen weltweiten Ruhm begründete, war wie Tschaikowski ein Aussenseiter – auch durch sein Aussehen: mütterlicherseits war er der Urenkel von Hannibal, dem Mohr von Peter dem Großen, den dieser aus Afrika mitgebracht hatte. Im Duell mit dem vermeintlichen Geliebten seiner schönen Frau verlor Puschkin sein Leben. Die Figur von Dichter Lenski, der seinen Freund Onegin zum Duell auffordert, weil er Olga den Hof gemacht hat, erinnert an Puschkins eigenes Schicksal.
Tschaikowski und sein Co-Autor haben die Zeitabläufe des Romans stark gestrafft, so entfiel beispielsweise Onegins Kapitel über die Jugendzeit, über seine Erziehung, über die Zeit, als er sich als Dandy verhielt, über das reiche Erbe. Puschkin widmet sich hauptsächlich der Figur des Eugen Onegin, Tschaikowski mehr der Figur von Tatiana. Es sind die seelischen Zustände und die Gefühle, die er offenbaren will.
Kernstück des Werkes ist die Briefszene der Tatiana. Verliebt in den Fremden, schreibt sie ihm einen Brief, in dem sie ihm ihre Liebe gesteht: „Nein, einem andern kann im Leben mein Herz sich nimmer weihn. Vom Schicksal ward es so gegeben. Dein bin ich, dein, ja ewig dein. Nicht hat das Schicksal mich verblendet.“ Tatiana ist 16 Jahre und träumt vom Märchenprinzen. Aber was ist das für eine Liebe? Senta und der Holländer kommen in den Sinn.
Onegin schickt Tatiana keine briefliche Antwort, sondern kommt, um ihr Ansinnen zurückzuweisen: „Ja, glauben Sie, der Eh’stand würde uns beiden bald zur Qual und Bürde, vor Lieb‘ mein Herz heut glüht und wallt, Gewohnheit macht es morgen kalt.“ Er ist ehrlich, er glaubt nicht an die Ehe, was zur damaligen Zeit unmöglich war. Der Satz trifft auf Tschaikowski selbst zu. Um seine Homosexualität zu verbergen, heiratet er. „Nachdem ich siebenunddreißig Jahre alt geworden bin, angeborene Abneigung gegen die Ehe im Herzen, ist es sehr hart, durch die Macht der Umstände zu einem Bräutigam gemacht zu sein, der noch dazu seiner Braut nichts als völlige Gleichgültigkeit entgegenbringt“, schreibt er 1877 an seine Mäzenin und Brieffreundin Nadeshda von Meck (Zitat aus dem Programmheft). Die Ehe endete für beide Partner im Desaster.
v.l.n.r. Sara Jakubiak (Tatiana), Peter Marsh (Triquet), Judita Nagyová (Olga) und Daniel Schmutzhard (Eugen Onegin) sowie im Hintergrund Chor der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
Nach langen Reisen, getrieben nach dem Tod von Lenski, kehrt Onegin nach St. Petersburg zurück und begegnet Tatiana auf einem Ball. Sie ist selbstbewusst, gealtert, aber noch schön. Er erkennt sie nicht. Der Freund, Fürst Gremin, erzählt ihm vom Glück, mit Tatiana verheiratet zu sein. Warum entbrennt Onegin nun in Liebe zu ihr? Warum versucht er nun, sie aus der Ehe zu reissen? Es ist zu spät. Tatiana, die Onegin immer noch liebt, fühlt sich der Ehe verpflichtet. Die Amme hatte anfangs gesungen: „Der Himmel läßt oft für das Glück, ja für verlornes Glück Zufriedenheit zurück.“ Zufriedenheit sieht jedoch anders aus. Sie kommt der Konvention nach, weil es Pflicht ist. Daniel Schmutzhard, der den Onegin vorzüglich singt, steigert sich in diesem letzten Bild aggressiv-verzweifelt, während Tatiana ungerührt kalt bleibt.
Von der Briefszene gehen die musikalischen Fäden aus. Das sogenannte Tatiana-Motiv, Ausdruck starker Gefühle, keimt immer wieder auf, durchzieht die lyrischen Szenen. Der Komponist hat in diesem Opus erstmals seinen eigenen Stil entwickelt, nicht pompös wie die Grand Opéra, sondern „schlicht“ mit Anlehnung an das russische Volkslied, an Walzer- und Ballettklänge. Das Gegenstück zu Tatiana ist Lenski, der seinen Emotionen freien Lauf lässt. Ihm hat der Komponist eine der schönsten Arien der Opernliteratur gewidmet „Wohin, wohin, seid ihr entschwunden.“ Mario Chang, der aus Guatemala stammende Tenor, verleiht der Figur des Lenski auch in dem Liebeslied an Olga mitreißende Leidenschaft. Solche Arien sind Eugen Onegin nicht vergönnt, der Duktus seines dialogischen, rezitativischen Gesangs ist kühl, konstatierend und steigert sich erst am Ende leidenschaftlich. Selbst beim Tanz mit Tatiana und mit Olga, eine provozierende Geste auf dem Ball, ist er scheinbar lässig, in Wahrheit kalt. Daniel Schmutzhard, meist sonnenbebrillt, immer schwarz gekleidet, setzt die schwierige Partie gleichbleibend ausgewogen um. Sein Bariton ist wie geschaffen für die Partie. Bereits sein Nathaniel in Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ machte Furore. Die amerikanische Sopranistin Sara Jakubiak, unvergesslich als Marta in Mieczyslwa Weinbergs Werk „Die Passagierin“, gibt Tatiana ihre Stimme: mehr herb als leidenschaftlich, wenig lyrisch, aber klar und sicher in der Intonation.
Sara Jakubiak und Daniel Schmutzhard am 13. November 2016 in „Oper extra“; Foto: Renate Feyerbacher
Die Frauen um Tatiana – besetzt mit der Kammersängerin Barbara Zechmeister als Larina, seit 20 Jahren der Oper Frankfurt verbunden, mit Judita Nagyová als Olga und mit Elena Zilio, europaweit agierende italienische Mezzosopranistin, als Filipjewna – überzeugen mit wunderbaren Stimmen und eindrucksvollem Spiel.
Getragen werden Sängerinnen und Sänger von der einfühlsamen Begleitung durch das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Faszinierend, wie Generalmusikdirektor Sebastian Weigle die Klangbögen der Streicher und die Akzente der Bläser ausführen lässt. Seine Begeisterung für Peter I. Tschaikowski ist Weigle anzumerken.
Weitere Vorstellungen des eigenwillig-schönen Operngeschehens am 1., 3., 11., 15., 23., 25. und 30. Dezember 2016, jeweils 19.30 Uhr