Dauerausstellung zur Antikenrezeption im Landesmuseum Darmstadt
Inspiration Rom
Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt (kurz HLMD) hat nach der langen Umbauphase von 2007 bis 2014 die Präsentation seiner ständigen Sammlung völlig neu konzipiert. Mehr als ein Besuch ist notwendig, um sich die vielfältigen Ausstellungsschwerpunkte zu erschließen. Anfangen könnte man mit der neuen Ausstellung zur Antikenrezeption im 18. Jahrhundert. Sie verspricht interessante Einblicke und eröffnet neue Perspektiven auf bislang wenig beachtete Sammlungsbestände.
Von Andreas Pesch
Der Ausstellungsfokus des Hessischen Landesmuseums auf die Antikenrezeption ist neu, auch wenn die Sammlungsgeschichte der meisten Ausstellungsstücke noch auf die Zeit der Landgrafen von Hessen-Darmstadt zurückgeführt werden kann. Gezeigt werden Objekte, die Zeugnis ablegen von einer neuartigen Begeisterung für das römische Kulturerbe innerhalb der gesellschaftlichen Elite des 18. Jahrhunderts. Im Zentrum der Schau stehen kleine, aufwendig gearbeitete Miniaturmodelle römischer Ruinen aus Kork. Bis zum Umbau fristeten sie eher ein Schattendasein im Kellergeschoss des HLMD; nun aber werden sie spektakulär in Szene gesetzt.
Nach Vorläufen im 16. Jahrhundert kam die Kunst der Korkbildnerei in Italien ab Mitte des 18. Jahrhunderts zur Blüte. Ein wichtiger Vertreter war Antonio Chichi (1743-1816), dessen Werke in Darmstadt zu sehen sind. Die Nachbildung von Ruinen der römischen Zivilisation im Maßstab 1:100 oder 1:25 kam damals in Mode. Nicht nur in Hessen-Darmstadt wurden Korkmodelle gesammelt, sondern auch in Kassel, Gotha, Aschaffenburg, Berlin, Amsterdam oder St. Petersburg, wo heute ähnliche Sammlungen existieren. Die Mode war Ausdruck eines neuen Interesses für die Kunst der Antike. Antikenrezeption war zwar kein ganz neues Phänomen. Denn schon in früheren Epochen hatten etwa Karolinger oder Renaissance-Päpste in ihren Bauprojekten die Formensprache der römischen und hellenistischen Kunst aufgegriffen, um sich auf diese Weise als Erben des Imperium Romanum zu inszenieren. Allerdings hatten sie ohne Skrupel die teilweise noch erhaltenen Gebäude römischer Zeit als Rohstoffquelle für die eigenen Neubauten genutzt. Renaissancepaläste waren mit Marmor aus römischen Tempeln ausgestattet worden, und die Bauten des Forum Romanum waren zum Großteil in den Kalköfen gelandet, in denen Baumaterial für Michelangelos Petersdom hergestellt wurde.
Im 18. Jahrhundert veränderte sich die Art und Weise, wie das antike Erbe rezipiert wurde. War das Kolosseum in Rom 1744 vor dem vollständigen Abbruch nur durch Umwandlung in eine Gedenkstätte für christliche Märtyrer bewahrt worden, so begann man auf einmal den antiken Ruinen einen Eigenwert als Zeugen der griechisch-römischen Kunst zuzusprechen. Es entstand die Auffassung, dass die Ruinen selbst (und nicht bloß die in ihnen verwendeten Stilmittel) Erhaltung und Studium wert sind. Die Korkmodelle bringen den Wandel in Wahrnehmung und Wertung antiker Bauten zum Ausdruck. Es handelt sich nicht um Rekonstruktionen des ursprünglichen Zustands oder um Idealbauten im klassischen Stil, sondern – in den meisten Fällen – um maßstabsgetreue Modelle der damals erhaltenen Ruinen. Herrscherhäuser ebenso wie betuchte Privatleute konnten durch ihren Erwerb eine moderne, das heißt an klassischen Idealen orientierte Geisteshaltung demonstrieren.
Raumaufnahme, Ausstellung Archäologie, Antike, Foto: © Wolfgang Fuhrmannek
Die heute im HLMD noch vorhandenen 26 von ursprünglich 36 Modellen, die Chichis Katalog verzeichnete, werden in beeindruckender Weise präsentiert. Betritt man den in rötlicher Farbe gehaltenen Saal, stößt man zunächst auf zwei große Vitrinen mit den Prachtstücken der Sammlung: dem Kolosseum und dem Pantheon. In einem angrenzenden Bereich sind weitere Miniaturruinen ausgestellt. Jedes Modell befindet sich in einer eigenen dunkel gehaltenen Vitrine, deren Inhalt individuell beleuchtet wird. Die Vitrinen sind in freistehende Wände eingelassen. Jedes Korkmodell kann so seine Wirkung als Kunstwerk entfalten.
Ergänzt wird die Schau um weitere Zeugnisse der Antikenbegeisterung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. So befindet sich in der Mitte des Saals der Gipsabguss einer antiken Skulptur, der Torso einer Herkules-Statue. Gipsabgüsse antiker Skulpturen dienten schon in der Renaissance dem Studium der griechisch-römischen Kunst sowie der Selbstdarstellung von Königen und Sammlern. Auch Großherzog Ludwig I. von Hessen-Darmstadt baute eine Sammlung von Gipsabgüssen antiker Skulpturen auf, die meist aus französischen Werkstätten stammten. Heute existiert die Sammlung nicht mehr, da die einzelnen Abgüsse nach dem Krieg Schulen für Unterrichtszwecke zur Verfügung gestellt wurden. Der Darmstädter Ausstellung kommt das Verdienst zu, erstmals auf diesen Sammlungsverlust aufmerksam zu machen.
Raumaufnahme mit Gipsabguss eines männlichen Torso, Ausstellung Archäologie, Antike, Foto: © Wolfgang Fuhrmannek
Die Ausstellung bietet darüber hinaus Beispiele für die Antikenrezeption in der Malerei. So zeigt ein Ölgemälde von Johann Heinrich Roos aus dem Jahr 1668 eine „Italienische Hirtenlandschaft mit dem Tempel des Vespasian“. In Darmstadt werden das Gemälde und ein Korkmodell Chichis des gleichen Tempels aus der Zeit um 1790 einander gegenübergestellt. Diese Kombination legt einen Vergleich zwischen der Antikenrezeption des 17. und jener am Ende des 18. Jahrhunderts nahe: Wird die Ruine des Tempels, der 81 n. Chr. von Kaiser Domitian zu Ehren des Vespasian am Forum Romanum geweiht worden war, von Roos an einen idyllischen Ort versetzt, um so die vergängliche Größe menschlichen Schaffens zu veranschaulichen, dominiert bei Chichi der nüchterne Blick auf konstruktive und dekorative Details des kaiserzeitlichen Bauwerks.
Korkmodelle dienten nicht nur humanistischen Bildungszielen, sondern auch als Anschauungsmaterial für die Ausbildung von Architekten. Der Erläuterungstext zur Darmstädter Ausstellung bezeichnet die Modelle insofern treffend als „dreidimensionale Lehrbücher der römischen Architektur“. Ein wichtiger Vertreter des englischen Neoklassizismus, der Architekt John Soane (1753-1837) war Sammler von Korkmodellen, die er für den Unterricht mit seinen Schülern nutzte. Zwei Jahre lang hatte er die antike Architektur in Rom und Sizilien studiert, darunter das Pantheon in Rom, das mit seiner gewaltigen Kuppel zu einer seiner zentralen Inspirationsquellen wurde. Das Beispiel John Soanes zeigt, wie die neue Welle der Antikenrezeption Ende des 18. Jahrhunderts schließlich in die Kunstströmung des Klassizismus mündete, die mehr als je zuvor das antike Erbe als ein Modell für die Gestaltung der Gegenwart verstand.
Auch Darmstadt ist ein Ort, an dem die Antikenrezeption praktische Konsequenzen hatte, insbesondere für die Baukultur. Die Ausstellung des Hessischen Landesmuseums bietet insofern einen guten Ausgangspunkt für einen Stadtrundgang, bei dem die langfristigen Wirkungen der Antikenrezeption des 18. Jahrhunderts besichtigt werden können. Der Darmstädter Klassizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist untrennbar mit dem Namen Georg Mollers (1784-1852) verbunden, der zu den einflussreichsten Architekten des Klassizismus in Deutschland zählt.
Georg Moller, der ab 1810 zuerst als Oberbaurat, später als Hofbaudirektor in den Diensten des Großherzogtums Hessen-Darmstadt stand, prägte das Stadtbild der Residenzstadt in entscheidender Weise. Unter seiner Federführung entstanden in Darmstadt von der Antike inspirierte Gebäude und Stadträume, die zum Teil noch heute existieren. Dabei illustriert Mollers Wirken die gewandelte Rezeptionsweise antiker Kultur im frühen 19. Jahrhundert nicht nur im Bauwesen. Die erste Denkmalschutzverordnung Deutschlands wurde 1818 auf Initiative Mollers in Hessen-Darmstadt erlassen. Sie ist ein Zeugnis für das gewandelte Bewusstsein im Umgang mit der Baukultur der Vergangenheit und die Anerkennung ihrer Eigenwertigkeit. Auch ist es Moller zu verdanken, dass beispielsweise die Torhalle von Lorsch vor dem Abriss bewahrt wurde. Sie gilt heute als ein einzigartiges Zeugnis karolingischer Architektur.
Die Entdeckung der Eigenwertigkeit antiker Bauten führte dazu, dass stärker als in früheren Epochen die Architekten des Klassizismus äußere Formen griechisch-römischer Bauwerke in ihren modernen Bauprojekten nachzuempfinden versuchten. Das Pantheon in Rom beispielsweise diente John Soane als Anregung für seine Entwürfe der Bank of England, deren Gebäude sich durch große überkuppelte Räume auszeichnete, deren Beleuchtung über Öffnungen im Zenit der Kuppeln erfolgte. Das große Korkmodell des Pantheons in der Darmstädter Ausstellung ermöglicht es, die konstruktive und gestalterische Lösung aus der Nähe zu studieren. Der römische Tempelbau, der als Kirche die Jahrhunderte überstanden hatte, sollte auch Moller zum Vorbild werden.
(li.) Antonio Chichi, Korkmodell des Pantheons, um 1790, Inv. Nr. Ko 12, Foto: © Wolfgang Fuhrmannek; (re.) St. Ludwig in Darmstadt, Entwurf Georg Moller, geweiht 1827, Foto: Andreas Pesch
Leider sind durch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und während des Wiederaufbaus die meisten Bauwerke Georg Mollers in Darmstadt verloren. Doch der Sakralbau, bei dem das römische Pantheon Pate stand, ist erhalten: die St. Ludwigskirche am Rande der Innenstadt. Moller hatte das Pantheon während einer Studienreise von 1807 bis 1809 in Rom besichtigen können. An ihm orientierte er sich, als er den Auftrag für den Entwurf der ersten katholischen Kirche Darmstadts seit der Reformation erhielt. Das 1822 bis 1827 erbaute Gotteshaus wurde dem Hauptfinanzier Großherzog Ludwig I. zu Ehren dem heiligen Ludwig von Frankreich geweiht. Ähnlich wie der Engländer Soane griff Moller eine zentrale Idee des römischen Tempelbaus auf: die kreisrunde Öffnung im Kuppelzenit als einzige Lichtquelle zur Beleuchtung des Innenraums. Auch heute noch fällt Tageslicht allein durch diese Kuppelöffnung in den Kirchenraum von St. Ludwig. In der ursprünglichen Planung sollte – wie beim Pantheon – der Rotunde des Kuppelbaus ein Säulenportikus vorgeschaltet werden. Auch wenn der Portikus nicht realisiert wurde und St. Ludwig zudem deutlich kleiner als das Pantheon ausfiel, lässt sich dessen Vorbildfunktion und damit die Wirksamkeit der vorangehenden Antikenrezeption an einer Reihe weiterer Baudetails nachweisen, insbesondere in Hinblick auf die Proportionen der beiden Bauten.
Ein weiteres, trotz Krieg und Wiederaufbau erhaltenes Zeugnis der Moller‘schen Aufnahme römisch-antiker Vorbilder stellt das einstige Hoftheater direkt neben dem Hessischen Landesmuseum dar, das heute das Hessische Staatsarchiv beherbergt. Vom Moller’schen Gebäude selbst ist nach einem Großbrand im Jahr 1871 nur der Portikus geblieben. Sein Giebel ruht auf sechs Säulen und folgt damit einem Typus der römischen Tempelarchitektur, wie er beispielsweise beim Saturntempel am Forum Romanum zur Ausführung gekommen ist. Das Korkmodell von dessen sechssäuligen Portikus befindet sich ebenfalls unter den Werken Antonio Chichis im HLMD.
(li.) Ehemaliges Hoftheater in Darmstadt mit dem Säulenportikus nach einem Entwurf Georg Mollers um 1814, Foto: Andreas Pesch; (re.) Antonio Chichi, Korkmodell des Tempels des Saturn, um 1790, Inv. Nr. Ko 8. Foto: © Wolfgang Fuhrmannek
Der vom Landesmuseum gewählte Ausstellungsfokus auf die Rezeption der Antike eröffnet, wie der Stadtrundgang zeigt, insofern eine interessante Perspektive, die über die präsentierten Zeugnisse der höfisch geprägten Elitenkultur hinausweist: Im 19. Jahrhundert sollte sich die Antikenrezeption „demokratisieren“. Der öffentliche Raum wurde zunehmend von den Vertretern klassizistischer Architekturauffassungen gestaltet, und die Antikenbegeisterung fand Eingang in die privaten Lebenswelten des Bürgertums, das sich seit dem Biedermeier mit Alltagsgegenständen umgab, die von Gestaltungsidealen geformt waren, die ihren Ursprung in der Antikenrezeption des 18. Jahrhunderts hatten. Es wäre wünschenswert, dass dieser vom Landesmuseum vorgeschlagene Blickwinkel konsequent weiterentwickelt würde. So könnten die Folgen für die bürgerlichen Lebenswelten in den Blick genommen werden. Von hier aus würde sich ein eleganter Anknüpfungspunkt zu einem anderen Sammlungsschwerpunkt des Museums ergeben: den Jugendstil, der sich in der bewussten Abgrenzung zu historisierenden Gestaltungsansätzen des 19. Jahrhunderts entwickelt hat.