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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Laure Prouvost im Frankfurter MMK 3

„all behind, we’ll go deeper, deep down and she will say:“

lautet der Titel der ersten umfassenden Einzelausstellung von Laure Prouvost in Deutschland. Wir sehen ein „Environment“, eine raumausfüllende Installation mit filmischen, skulpturalen und malerischen Arbeiten, insgesamt 15 an der Zahl mit jeweils verschiedenen Titeln, wie eine gut betextete und illustrierte Handreichung des Museums ausweist.

Von Erhard Metz

Geben Ausstellungseröffnungen im MMK 3 meist Anlass zu einem quirligen Stelldichein eines jungen Publikums, zu dem massgeblich auch Studierende der Städelschule und der Hochschule für Gestaltung Offenbach gehören, so war seinerzeit das Eröffnungspublikum der nun leider am kommenden Wochenende schliessenden Ausstellung von Laure Prouvost, im Jahr 2013 Laureatin des hoch renommierten Turner Prize, in seiner Quantität ziemlich überschaubar. Das konnte nicht verwundern, hatten damals just für den selben Abend „AtelierFrankfurt“ zu seinem Spätsommerfest und der Kunstverein Familie Montez zu einer Ausstellungseröffnung ebenfalls sommerfestlichen Charakters eingeladen – „Locations“, mit denen der dröge, kleine, baustellenflankierte Vorplatz vor dem alten Zollamtsgebäude nun wirklich nicht mithalten kann. Schade – , die Vernissage hätte ein grösseres Eröffnungspublikum verdient gehabt, aber das Angebot in der Kunst- und Kulturstadt Frankfurt am Main ist eben erfreulicherweise überaus gross. Wer die Ausstellung noch nicht gesehen haben sollte, sollte dies jetzt unbedingt und alsbald nachholen – nicht allein deshalb, weil man schliesslich nicht alle Tage, wenn nicht Jahre das aktuelle Werk einer Turner-Preisträgerin zu sehen bekommt.

Zunächst sollte man die Worte beherzigen, die auf einer spiegelnden Tafel – zu Beginn des Ausstellungsparcours bereits an der Hausfassade platziert – zum „alles Hintersichlassen“ auffordert.

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IDEALLY YOU WOULD LEAVE EVERYTHING BEHIND, 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Erhard Metz

Wer dieser Aufforderung zu folgen versucht, den Ballast des Alltags von sich wirft und die Ausstellung frei von allen Erwartungen und Mutmassungen betritt, findet sich zunächst in einer Art Reisebüro („Deep Travels Ink.“) wieder – als Kunde wie übrigens auch als sozusagen virtueller Bürobetreiber, denn er kann am Schreibtisch des unsichtbar bleibenden Reiseverkäufers Platz nehmen und sich allerlei zu bereisen Lohnendes anschauen. Die freundliche Aufsichtsperson kredenzt ihm Kaffee sowie ein – möglicherweise beruhigend-heilsames – Getränk, damals jedenfalls. Überdies reicht sie ihm an Stöcken montierte Spiegelchen, mit denen er, der Besucher, etwa auf sonst nicht einsehbaren Regalen des Reisebüros nach Verborgenem Ausschau halten kann, und sei es nur nach einer ordentlichen Portion Staub.

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↑ Deep Travels Ink., 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Erhard Metz
↓ On Our Way, 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Erhard Metz

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Weiter geht es nach rechts zu einem zur Neue-Altstadt-Baustelle hin geöffneten Austritt, wo wir eine zwar etwas vergammelte, immerhin leibhaftige KTM racing erblicken („On Our Way“), eine Rennsport-Enduro, die dort ihr Potential entfaltet, wo für normale Fahrzeuge alle Wege enden. Aufgeschnallt ein krächzend vor sich hin dudelndes „Elu“-Baustellenradio, dem man seine Unverwüstlichkeit ansieht und anhört. Steigen wir nun die zum Ausstellungssaal führende, fast zu einer steilen „Himmelsleiter“ verlängerte Treppe hinauf und – nach Erklimmen des Gipfelkamms – wieder hinab in die zu dreiviertel verdunkelte, raumfüllende Installation der Künstlerin. Pfützen, wohin wir blicken, schon die Hosenbeine hochziehend erkennen wir jedoch den Fake, es sind spiegelnde, Wasserflächen vortäuschende Lackflächen, die wir trockenen Fusses betreten können.

Die überaus sinnliche Atmosphäre nimmt den Besucher sogleich gefangen, schlägt ihn in den Bann. Immer wieder Neues und Merkwürdiges gilt es, sich vorsichtig durch das Dunkel über den Boden tastend, zu entdecken. Gleich nach dem Eintritt in den Ausstellungssaal links und rechts jeweils einer von fünf Grossbildschirmen, staccato wirken Videosequenzen und Klänge auf den Besucher ein. Die abwärts führenden Treppenstufen bieten als zugleich kleine Tribüne eine Möglichkeit zum Niedersetzen und Betrachten.

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↑ Lick In The Past, 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Axel Schneider
↓ It Heat Hit, 2010, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Axel Schneider

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Wer weitergeht, in die alle Sinne einnehmende Installation der Künstlerin eintritt und sich mit ihr einlässt, tastet sich mit seinen Füssen vorsichtig voran, fast allüberall ist der Boden mit einer Art Wurzelwerk, mit abgerissenen Zweigen, Pflanzenresten, Vogelfedern, Scherben, Damenhandtaschen, Damen- und Sportschuhen, Fotos, Bilderrahmen, Tablets mit Videos und jede Menge zerstörter wie auch vielleicht noch funktionierender Smartphones bedeckt. Ob man sich auf einen barockisierenden Lehnsessel niederlassen kann? Dann eine üppig wuchernde Vegetation. Wie reimt sich das alles zusammen?

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↑↓↓ all behind, we’ll go deeper, deep down and she will say:, 2016, Installationsansichten, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Fotos: Erhard Metz

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Laure Prouvost hat sich eine fiktive Geschichte erdacht: Ihr Grossvater, ein Künstler, gräbt im Zuge eines Kunstprojekts einen Tunnel, er verschwindet in ihm und kehrt nicht wieder zurück; ihre Grossmutter macht sich dessen zurückgelassene Kunstwerke zu eigen, „funktionalisiert“ sie um und entfaltet so ihr eigenes künstlerisches Schaffen. Die Geschichte dient Prouvost als Motiv für die Beschäftigung mit den Themen Eskapismus, Abwendung von gesellschaftlich etablierten Rollenbildern, Werte- und Ordnungssysteme, der Hinwendung zu alternativen, fantastischen Weltvorstellungen. Und wir deuten und verstehen nun das Reisebüro und das geländegängige Motorrad als Prolog zur Ausstellung, als „Sehnsucht nach dem Unbekannten und das Abtauchen in ferne Welten, Alltagsflucht und das bewusste sich Verlieren, in der Hoffnung, am Ende wieder zu sich selbst zu finden“ (MMK).

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all behind, we’ll go deeper, deep down and she will say:, 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Erhard Metz

Zweifel, Eskapismus, Weltflucht – Themen eines Künstlers, einer künstlerischen Existenz. Aber ebenso eines Betrachters, wenn er sich selbst wie auch das äussere Geschehen reflektiert. Denn die Welt ist in keinem guten Zustand. „Der Mensch ist biologisch unfriedlich“, stellte jüngst Daniel Cohn-Bendit in seiner Ansprache zum 3. Oktober 2016 in der Frankfurter Paulskirche fest.

Der Besucher im MMK 3 sollte sich – wie immer bei der Kunst – Zeit nehmen, innehalten, anschauen, beobachten. Die fünf grossen Videos nehmen allein schon in der Summe runde 50 Minuten in Anspruch. „Für Prouvosts vielschichtige Videoarbeiten ist eine surreale Grundstimmung sowie die Verwendung skurriler Wortspiele charakteristisch. Sie untersucht die Vorstellung von Fiktion und Wahrheit und regt den Betrachter dazu an, Wahrnehmungskonventionen zu hinterfragen“, so Anna Goetz, Kuratorin der Ausstellung. Vielleicht darf sich der Betrachter ja auch durchaus in den Armlehnsessel setzen, man frage einfach mal die Aufsicht. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ein Besucher als ein anderer aus einer Kunstausstellung herauskommt, als er hineingegangen ist.

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all behind, we’ll go deeper, deep down and she will say:, 2016, Installationsansicht, © Laure Prouvost, Courtesy of the Artist, Foto: Erhard Metz

Laure Prouvost, 1978 in Croix nahe Lille geboren, studierte am Central Saint Martins College of Art and Design der University of the Arts London und anschliessend am Goldsmiths College der Londoner Universität. Die Video- und Multimediakünstlerin erhielt wiederholt Auszeichnungen bei den renommierten Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. 2010 stellte sie in der Tate Britain aus. Nur drei Jahre später erhielt sie den unter den weltweit bedeutendsten Kunstpreisen angesiedelten Turner Prize.

Das MMK zeigt das zweite und zentrale Kapitel einer dreiteiligen Überblicksausstellung: Auf „dropped here and then, to live, leave it all behind“ im Le Consortium Dijon (Juni 2016) folgt nach Frankfurt demnächst „and she will say: hi her, ailleurs to higher grounds …“ im Kunstmuseum Luzern. Obwohl die drei Ausstellungsorte einem übergreifenden thematischen Faden folgen, steht jede Präsentation für sich und bietet den Besuchern eine in sich geschlossene und eigenständige Ausstellungserfahrung.

Laure Prouvost, „all behind, we’ll go deeper, deep down and she will say:“, MMK 3, nur noch bis 6. November 2016

 

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