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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Flämische und niederländische Architektur im Deutschen Architekturmuseum (DAM)

Maatwerk oder auf Deutsch: Maßarbeit

Von Petra Kammann

Als kürzlich der künstlerische Leiter und bekannte belgische Kinderbuchautor Bart Moeyart das Schwerpunktthema „Flandern & die Niederlande“, welche vor 25 Jahren schon einmal Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse waren, vorstellte, sagte er: „Es gibt neue Namen, neue Menschen, eine neue Dynamik. Es ist wie das Meer, das Flandern und die Niederlande teilen: Alles ist in Bewegung, es liegen neue Schätze am Strand“. Und dies trifft nicht allein auf das Motto „Das ist, was wir teilen“ zu, sondern auch auf die jüngste Architekturentwicklung in den nordwestlichen Nachbarländern. Sie verbindet die Horizontalität der Landschaft am Meer, die gemeinsame Sprache und in manchem eben auch die Formensprache miteinander.

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Maßarbeit“ für die „Neuen Schätze am Strand“ – Blick in die Ausstellung „Maatwerk“ im Frankfurter Architekturmuseum, inszeniert von Marius Grootveld und Jantje Engels von Veldwer Architecten, Antwerpen (s.u.)

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(li.) Kuratorin Sofie de Caigny vom Centrum Vlaamse Architectuur archieven/Vlaams Architectuurinstituut (VAi)

Wer schon einmal das 2011 eröffnete MAS – das Museum aan den Stroom in Antwerpen besucht hat, der hat einen wesentlichen Teil dieser neuen Architektursprache verstanden. Die Stadt an der vielarmigen Scheldemündung ist geprägt vom Wasser, den damit verbundenen Wellenbewegungen, und von Wasserstraßen, die in die Welt hinaus führten und wieder führen – ein Welthafen in Europa eben.

Das MAS mit seinem einleuchtenden und schlichten Bauprinzip der übereinander gestapelten Container schreibt wie ein Wahrzeichen die Geschichte der Stadt für die Zukunft fort. Auf den Fundamenten eines alten Lagerhauses (Stapelhuis) hat dort die Rotterdamer Architektengruppe „Neutelings Riedijk Architecten“ eine 60 Meter hohe Stahlbetonkonstruktion mit virtuos übereinander gestapelten Kuben geschaffen, die mit rötlichem Sandstein aus Rajasthan und mit großflächigen Fronten aus wellenförmig gegossenem italienischen Glas verkleidet ist, welche den Blick auf die Stadt aus den unterschiedlichsten Perspektiven freigibt.

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Das ausgestellte Modell vom MAS, Museum aan den Stroom, der Rotterdamer Architektengruppe „Neutelings Riedijk Architecten“ im DAM und in Realität in Antwerpen

Es ist faszinierend zu erleben, wie die Schwere der Steine optisch durch das changierende Licht gegenüber dem schwingend eleganten „Glasvorhängen“, die sich von Etage zu Etage an eine andere Ecke einpassen, aufgehoben wird. Über die Rolltreppen und Zwischengeschosse erschließt sich die Stadt in ihrer Komplexität und Gegensätzlichkeit aus Tradition und Moderne wie von selbst, mit ihren spitzen mittelalterlichen Kirchtürmen ebenso wie mit ihrem Wald an spitzen Kränen oder dem Yachthafen. Die Rundum-Ausblicke auf Stadt und Hafen werden so Teil des Museums. Und doch: Das gewellte Glas, durch das der Betrachter von allen Ecken und Etagen aus auf die Stadt schaut, vermittelt zwar Assoziationen an Wasser, Offenheit und Weitblick, aber es verzerrt auch den Blick auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt, in der sich u.a. das Rubenshaus oder die bedeutende Liebfrauenkathedrale, das Plantin-Moretus-Museum befindet, so als würde es die Frage stellen: Trügt der erste Schein?

Was erzählt uns eigentlich die Geschichte vom ehemaligen Stapelhuis, das an die Kolonialgeschichte Belgiens erinnert, also auch an die Machtentfaltung, an Prestige und Symbolträchtigkeit, die von der Weltstadt hier und anderswo, vom Welthafen, vom Handel und der Schifffahrt, von Leben und Tod, von Menschen und Göttern, vom Diesseits und vom Jenseits handelt?

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Blick aus dem realisierten MAS durch das gewellte Glas auf den Antwerpener Hafen

Mit dem MAS hat Antwerpen einen „Geschichten-Turm“ gewonnen, in dem alles möglich scheint, einen Ort, an dem die Schelde wieder zu entdecken ist, der die Stadt jahrzehntelang im wörtlichen Sinne den Rücken zugekehrt hat. „Das MAS ist ein Scharnier: Es verbindet die Stadt mit dem Strom, dem Hafen und der Welt. Und mit all den vielen Kulturen, die in dieser Stadt leben. Und mit der Welt außerhalb der Stadt.“ So fasste bei der Eröffnung der Direktor Carl Depauw die Konzeption zusammen.

Tatsächlich ist das MAS Dreh- und Angelpunkt der kulturellen Nord-Süd-Achse, welche die Innenstadt Antwerpens mit dem jahrelang brachliegenden „Eilandje“, das gerade auch saniert wird, verbindet. Im 18. Jahrhundert entdeckte man von Belgien aus China und Bengalen, im 19. Jahrhundert Indonesien, Japan und Afrika. Die neuen Reiserouten schufen neue Eindrücke, Träume und Ideen. Nicht zuletzt emigrierten von hier aus auch zahlreiche Menschen – zumeist verfolgte Juden – nach Amerika, wofür eigens ein Besuch des Red Starline-Museums lohnt. So ist auch der heutige Besucher aufgerufen, sich am Ende eines Besuches nochmals mit den Spuren der Geschichte zu beschäftigen.

Das MAS freilich ist nur eines der zahlreichen neuen flämischen und niederländischen Architekturbeispiele, deren interessante Modelle derzeit im Deutschen Architekturmuseum unter dem Titel „Maatwerk, Maßarbeit“ zu sehen und zu studieren sind. Dort können wir wie in einen Theaterguckkasten mit Vorhang rechts und links schauen und die vielfältigen Visionen und Ideen für das heutige Leben in der Stadt, das in den Gebäuden Gestalt annimmt, nachverfolgen.

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Von den verschiedenen Ecken hat man aus dem „Geschichtenturm“ MAS einen unterschiedlichen Blick auf die Stadt Antwerpen

Maßarbeit, das ist auch die handwerklich gut gemacht Präsentation der Modelle niederländischer und flämischer Projekte der letzten 30 Jahre, welche Sofie de Caigny vom Architekturinstitut (VAi – Vlaams Architecturinstituut) in Antwerpen kuratierte. Sie hat die Schau in fünf Themenbereiche gegliedert, für welche die Vielfalt der Architekten dies- und jenseits der holländisch-belgischen steht: Wohnen, Vergangenheit und Gegenwart, Bezugnahmen und Gesellschaftliches Miteinander und Die Stadt planen, das Land gestalten.

Darüber hinaus hat das niederländisch-deutsche, in Antwerpen lebende Architektenduo Jantje Engels und Marius Grootveld unter dem Namen Prelude im Fond des dafür knapp bemessenen Raums die Erkundung einer jungen Architekturszene in Form einer „Wunderkammer“ vorgestellt. Die Ausstellung versucht damit, die Wechselwirkungen zwischen den architektonischen Kulturen zu zeigen, die sich in der Gegenwart mehr und mehr ineinander verwoben haben.

Während in den 1990er Jahren vor allem die niederländische Architekturszene – auch international – unter dem Stichwort „Super Dutch“ diskutiert wurde und man in Flandern noch nicht großartig über urbane Konzepte nachdachte, so zeichnet sich die flämische Architektur heute vor allem durch den Einfluss der Arts and Craft-Bewegung aus, was sich vor allem beim Bauen im Bestand vorteilhaft bemerkbar macht.

Nach der Finanzkrise 2008 in den Niederlanden näherten sich die niederländischen Architekten mit ihren Starbauten, die vor allem aus Amsterdam oder aus dem Rotterdamer Hafen bekannt sind, dem Herantasten an die aktuelle urbane Situation an und entwickelten ebenfalls Interesse am Handwerk und auch an der Kontinuität. So erklärt sich auch der Begriff „Maßarbeit“, der sich sowohl auf die Kontrolle über den Entwurf wie auch auf die Realisierung des jeweiligen Bauwerks bezieht. Er verweist zudem auf das Verhältnis der Bauprojekte zu ihrem Kontext, d.h. zu den sie umgebenden Stadträumen sowie zu den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen, vor denen inzwischen sowohl die Niederländer als auch die Flamen operieren und inzwischen auch kooperieren.

Ganz konsequent wurde auch jedes Projekt von den Fotografen Michiel De Cleene und Stijn Bollaert begleitend in seiner Realisierung mit dem entsprechenden Hintergrund fotografiert. Maßvoll und maßgerecht sind im übrigen auch die eingehaltenen finanziellen Etats. Kleine Bemerkung des DAM-Direktors Peter Cachola Schmal: „Man vergleiche nur das MAS mit dem Bau der Elbphilharmonie, das MAS hat ’nur‘ 40 Millionen gekostet …“

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In der „Wunderkammer“ finden vor allem junge Architekten Berücksichtigung. Beispiel für das Bauen im Bestand durch geschickte und originelle Erweiterung der Dächer des 27-jährigen Tim Peeters aus Gent

Was die Unterschiede zwischen den niederländischen und flämischen Architekten angeht, so stand bis in die 1990er Jahre im Haus-und Wohnungsbau in Flandern vor allem das Eigenheim im Mittelpunkt, worauf sich dann auch die architektonischen Innovationen bezogen, während in den Niederlanden gemeinschaftliches Wohnen immer schon eine gewisse Tradition hatte.

Ein Umdenken setzte an, als man die Stadt wieder entdeckte und versuchte, die Freiflächen zu bebauen. Seither wird Vergangenheit durchaus kontinuierlich in die gegenwärtige Lage miteinbezogen und nicht so sauber von der Neukonzeption zeitgenössischer Architektur getrennt, wie es in der Charta von Venedig aus dem Jahr 1964 vorgegeben war. Priorität hat hier die Stadt als Ensemble und nicht allein die Eigenart des aktuellen Architekten und dessen Urheberschaft.

Die 1980er Jahre waren besonders geprägt durch Architekten wie den Niederländer Rem Koolhaas, dessen Eigenständigkeit ohne historischen Ballast auszukommen schien. Da spielte die sinnliche Wahrnehmung eines Gebäudes eine große Rolle. Zunehmend aber beschäftigte man sich auch mit der Bedeutung der historischen Vielschichtigkeit der Stadt.

Öffentliche Aufträge in den Niederlanden waren im Gegensatz zu Flandern wegen der Bedeutung des Rijksbouwmeesters mit einer großen Qualitätssicherung verbunden. Stadterweiterungen wurden systematisch angegangen. Mit den neuen digitalen Möglichkeiten konnten in den 1990er Jahren außerdem auch große öffentliche Gebäude von Architekten entworfen und fokussiert werden wie zum Beispiel Kulturzentren und öffentliche Bibliotheken.

Flandern war von dieser Entwicklung der Nachbarn angesteckt. Und 2000 wurde auch hier entsprechend der Vlaams Bouwmeester einberufen, um den Mangel an urbaner Planung wieder auszugleichen. Erst in den letzten Jahren wurden daher auch hier städtebauliche Projekte angegangen, während in den Niederlanden nun auch Gebilde entstanden, die stärker in das urbane Umfeld integriert sind. So wird zum Beispiel jetzt nicht nur das Eilandje, sondern auch das Areal des Miltärkrankenhauses in Antwerpen, das 15 Jahre brachlag, angepackt, wieder neu erschlossen und bebaut werden.

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Elsbeth Ronner von „Archiectural Practice Lilith Ronner van Hooijdonk“ erläutert die Platzgestaltung. Die läutenden Glocken sollen – wie früher die Kirchen – die Menschen wieder auf dem Platz zusammenführen

Bemerkenswert und gemeinsam ist in beiden Ländern die Tendenz, auch junge Architekten zum Zuge kommen zu lassen, wo bei uns in öffentlichen Wettbewerben häufig Stararchitekten im Gespräch sind. Das mindert nicht nur Kosten, sondern bringt auch frischen Wind in die Formensprache. Das ist sogar in einem entsprechenden Schlüssel bei der Ausschreibung festgehalten. So muss bei einer Wettbewerbsausschreibung auch immer ein junger Architekt berücksichtigt werden.

Einen lebendigen Eindruck, was sie zu konzipieren vermögen, bekommt man in der Ausstellung in der sogenannten Wunderkammer im Miniformat. Die Jungen suchen nach neuen Ansätzen, vorhandene Strukturen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, statt neue architektonische Solitäre zu schaffen. Dabei spielt auch die handwerkliche Tradition eine entscheidende Rolle, wenn hier auch durchaus Visionen entwickelt werden, wohin die Reise gehen könnte.

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Zufrieden über die hervorragende Zusammenarbeit sind DAM-Direktor Peter Cachola Schmal sowie VAi-Direktor Professor Christoph Grafe

Christoph Grafe, bis 2013 Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität Wuppertal und seit 2011 Direktor des Vlaams Architectuurinstituut VAi (Flämischen Architekturinstitut) in Antwerpen, mit dem das Frankfurter Architekturmuseum kooperiert hat, bemerkt, dass auch 80 Prozent der hier gezeigten Modelle inzwischen Wirklichkeit geworden seien. Das kann doch nur hoffnungsfroh stimmen für die Weiterentwicklung unserer häufig so lieb- und strukturlos gewordenen Stadtzentren, vorausgesetzt, auch hier ziehen Wirtschaft und Stadt an einem Strang und beschäftigen sich von Grund auf mit der Struktur der Stadtzentren, die auch in Zukunft lebens- und liebenswert bleiben sollen. Außerdem macht die Ausstellung neugierig auf das Gastlandthema der aktuellen Frankfurter Buchmesse.

„MAATWERK \ MASSARBEIT – Architektur aus Flandern und den Niederlanden“, Deutsches Architekturmuseum DAM, bis 12. Februar 2017

Fotos: Petra Kammann

 

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