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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Der Sandmann“ von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt

Schwarze Gegenwart à la E.T.A. Hoffmann
Überforderter Mensch
Erotisierter Albtraum

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt (3) und Renate Feyerbacher (2)

Lange, während des Vorspiels, ist nur eine schwarze Bühne zu sehen. Die Klänge von Blech rattern und Geigen spielen dissonant, aufdringlich, sie steigern sich bedrohlich. Herzschlag. Schliesslich gibt die mit einem Lichtband umrahmte Bühne die Figur Nathanaels preis. Schlafend sitzt er an der Seite. Dann ein alles durchdringender Schrei: Nathanael wacht auf.

Thomas Jonigk, 1966 geboren, Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, schrieb das Libretto zur Oper „Der Sandmann“. Er habe die gleichnamige Erzählung von Ernst Theodor Amadeus (E.T.A.) Hoffmann (1776-1822) nicht nacherzählen wollen, der Übernatürliches – Dämonenglaube – und Psychologisches – Verfolgungswahn – geschickt vermischt und mit diesem Werk Sigmund Freuds Interesse geweckt hatte. Jonigk schuf eine eigene Version, ein total verändertes Weltbild. Natürlich steht der Konflikt in Nathanaels Kindheit im Mittelpunkt. Angst und Wahnvorstellungen quälen Nathanael, in denen immer wieder der tote Vater und sein Freund Coppelius („Hoffmanns Erzählungen“) auftauchen. Als Kind hatte der Junge beobachtet, wie der Vater, von Beruf Leichenbestatter, und Coppelius eine Frauenleiche sezierten. Der Vater, der ihn bemerkt, schlägt ihn mit einer Kohlenschaufel, der Junge fällt gegen eine Lampe, die sofort das Elternhaus in Brand setzt. Vater und Coppelius kommen um. Die beiden Toten, die Nathanael für lebendig hält, erscheinen ihm immer wieder und diskutieren über Pädagogik. Der Vater: „Was hab ich nur falsch gemacht. Immer hab ich ihm Schläge auf den Hinterkopf gegeben. Denn die erhöhen das Denkvermögen“. Tatsächlich? Ein Satz, den Kinder sogar noch heute hören müssen.

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(v.l.n.r.) Hans-Jürgen Schöpflin (Coppelius), Daniel Schmutzhard (Nathanael) und Thomas Piffka (Vater); Foto © Monika Rittershaus

Dieses Ereignis, die Sezierung, der Brand des Elternhauses und der Tod des Vaters sind in Nathanaels Gedanken immer präsent, sie bestimmen sein Leben. Er ist unfähig, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nathanael versucht sich als Schriftsteller. „Sandmann“ soll der Titel seines Romans heissen, von dem er nur ein paar Skizzenseiten zustande bringt. Er scheitert als Sohn, als Künstler und auch als Liebender: Die Figur von Nathanaels Freundin Clara, in Hoffmanns Erzählung Sandmann als schwächliche Frau charakterisiert, wird in Jonigks Libretto zu einer emanzipierten Frau, die sich nicht manipulieren lässt. Als sie auf dem ersten Skizzenblatt des geplanten Romans lesen muss, dass sie bei einem Unfall stirbt und Nathanael mit ihrer Leiche den besten Sex seines Lebens hatte, fühlt sie sich instrumentalisiert und verlässt ihn. Sie ist ihm unbequem. Da kommt Clarissa mit feuerrotem Kleid, feuerrot geschminkten Lippen und offenem langem, schwarzen Haaren ins Spiel. Nathanael ist hin und weg. Clarissa ist eine Kunstfigur, ein Automat à la Olympia, die er schliesslich, als sie auf Heirat dringt, umbringt.

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↑ Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael); Foto © Monika Rittershaus
Daniel Schmutzhard (Nathanael) und Agneta Eichenholz (Clarissa); Foto © Monika Rittershaus

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Clara, die Bankbeamtentochter, die Geliebte, die Muse, kehrt zurück, will ihn unterstützen, auch seinen erotischen Fantasien mehr entgegenkommen. Er aber traut ihr nicht mehr, will die Trennung und stirbt, als der Vater und Coppelius wieder erscheinen. Bei seiner Beerdigung werden beide auch von Clara gesehen. Rätselhaft.

Kein einfach zu konsumierendes, kein beruhigendes Libretto ist das, das will Thomas Jonigk auch gar nicht: „In jedem Fall kann es nicht Aufgabe des Theaters sein zu beruhigen.“ Über den Fall Nathanael hinaus will er eine Welt beschreiben, „die ohne Gott auskommen muss, in der versucht wird, alles zu rationalisieren, zu erklären oder funktionsfähig zu machen. Jenseits dessen bleibt aber immer ein Rest von Unerklärbarkeit und Geheimnis zurück.“ Der Mensch ist überfordert. Schwarze Gegenwart.

Von den Musikern, so wird es bei „Oper extra“ erzählt, habe einer zur Musik gesagt „laut und geil.“ Beides stimmt. Die Musik hat eine grosse Bandbreite: Wucht, aber auch lyrische Momente, zum Beispiel zwischen Nathanael und Clara oder auch die Arie des Vaters: sie hat eine feine, reichhaltige Instrumentierung. Akkordeons als Atemgeräusche sind zu hören. Von den vielen Geigen spielt manchmal jede etwas Eigenes. Die Figur von Clarissa verfügt nur über sieben Töne. Die beiden Toten, die sich mit Zynismus an Nathanaels Unglück weiden, tun das in Sprechgesang. Theatralisch ist die Musik, die der 1971 geborene Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini schuf, der unter anderem bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe studierte. Geradezu herauszuhören sind die seelische Spannung, die Verwerfungen, die Emotionen. Der Komponist hat ein Gespür für Wirkungen. Modern, aber verkraftbar ist die Musik, umso unverständlicher, wenn Leute ziemlich laut aus der Vorstellung polterten. Scartazzini, so schreibt Michael Töpel im Programmheft, arbeite lange an einer Partiturseite und das in Handarbeit, nicht am Computer. Es sind hochwirksame 75 Minuten Opernspektakel, die Dirigent Hartmut Keil, 18 Jahre Kapellmeister an der Oper Frankfurt, nun erfolgreich freischaffend, mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester realisiert.

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Andrea Lorenzo Scartazzini (li.) und Hartmut Keil; Fotos: Renate Feyerbacher

Der Sandmann“, ein Auftragswerk des Theaters Basel, wurde dort am 20. Oktober 2012 uraufgeführt. Die Oper Frankfurt hat diese Produktion übernommen.

Christof Loy, ein Star unter den Regisseuren, regelmässig arbeitet er am Frankfurter Haus – seine „Cosi fan tutte“ 2008 und sein „Don Giovanni“ 2014 wurden begeistert gefeiert – hat das Werk inszeniert. Wieder zeigt er psychologisches Fingerspitzengefühl und verzichtet auf spektakuläre, aufgemöbelte Szenen, was dem Stoff sehr gut tut. Eine tolle Idee ist die Vervielfältigung von Clarissa, 18 Mal steht da eine Clarissa rot gekleidet auf der Bühne, und auch Nathanael ist mehrfach zu sichten. Choreografische Einfälle (Thomas Wilhelm) beleben die Szene. Alles geschieht in einem sparsamen Bühnenbild (Barbara Pral): Nur ein kleiner Tisch mit Schreibmaschine und dahinter ein Bücherstapel. Schwarz (Vater und Coppelius), grau, weiss (Clara) und rot (Clarissa) sind die Farben der Kostüme (Ursula Renzenbrink).

Die schwedische Sopranistin Agneta Eichenholz sang bereits in Basel Clara/Clarissa. Ebenso gehörten Thomas Piffka als Vater und Hans-Jürgen Schöpflin als Coppelius zur Uraufführungsbesetzung. Agneta Eichenholz, die auch in Frankfurt bekannt ist, hatte 2009 als „Lulu“ unter der Regie von Christof Loy in London ein sensationelles Debüt. Stimmlich differenziert, auch mal bewusst wenig schön, widmet sie sich der Doppelrolle Clara/Clarissa. „Es ist schwierig Clara zu sein und Clarissa zu spielen, aber die Musik hilft mir bei der Verkörperung beider Figuren“. Ein ausdrucksstarker Sopran. Daniel Schmutzhard als Nathanael, seit der Spielzeit 2011/12 im Ensemble, meistert diese schwierige Gesangspartie bravourös und ist auch ein guter Darsteller. Für den österreichischen Bariton war es eine Herausforderung, weil die Partie einen extremen Stimmumfang voraussetzt. In der nächsten Spielzeit übernimmt Schmutzhard übrigens die Titelpartie in Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“.

Das Gespann Thomas Piffka als Vater und Hans-Jürgen Schöpflin als Coppelius sind clowneske, witzige Gesellen. Daniel Miroslaw, neu im Ensemble, verleiht der Figur des Lothar seine wohlklingende Stimme. Der Chor, einstudiert von Tilman Michael, präsentiert sich in gewohnter Qualität.

Weitere Vorstellungen am 8., 13. (anschliessend Oper im Dialog) und am 23. Oktober 2016

 

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