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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Krakau, April 2016 (Folge II)

Von Monika Müller-Löwenberg

Für Christa

FOLGE II

Das Programm wurde vor Ort mehrfach umgestellt. Wir befinden uns im jüdischen Viertel von Krakau. Die Synagoge von außen, eine andere kleine Synagoge, die Remuh-Synagoge, von innen, die heute noch zum Beten genutzt wird. Besuch des jüdischen Friedhofs. An den Gräbern liegen Steinchen vor den Tafeln, einige waren ganz bunt. Ein Grab fiel mir besonders auf: Der Grabstein war verziert mit Blättern und Trauben, in Stein gemeißelt. Zwischen den unterschiedlichen Verzierungen steckten viele kleine Zettelchen und Briefchen. Mir kam sofort die Klagemauer in Jerusalem in den Sinn, ich sah sie vor mir, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, wie sie ihre Wünsche auf Zettelchen zwischen die Steine der Klagemauer steckten.

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In den letzten zwei Jahren besuchte ich aus traurigem Anlass mehrmals den Jüdischen Friedhof in Frankfurt. Jüdische Bewohner aus der Budge-Stiftung, die ich schon über zehn Jahre begleite bei Ausflügen und Veranstaltungen, sind mir an mein Herz gewachsen. Ich kenne viele ihrer Schicksale, viele Geschichten. So ist es üblich, nach dem Trauergottesdienst in der Synagoge des Friedhofs hinter dem Sarg und der Trauergemeinde zu der Bestattungsstätte zu laufen. Erstaunlich für mich ist es immer wieder zu erleben, dass diejenigen Juden, die viel für die Gemeinde getan haben, vor allem auch in finanzieller Hinsicht, ihre letzte Ruhestätte ganz vorne auf dem Friedhof haben. Wenn der Verstorbene in die Erde gelegt wird, schaufeln die Bediensteten des Friedhofes Erde über das Grab. Die männlichen Nachfahren trampeln die Erde fest. Beim Besuch eines Grabes ist es üblich, dass Angehörige und Freunde einen kleinen Stein auf den Grabstein legen und damit andeuten, dass der oder die Verstorbene nicht vergessen ist. Für diesen Brauch werden verschiedene Ursprünge vermutet. Bewohner berichteten mir, dass in historischer Zeit die in der Wüste angelegten Gräber mit Steinen vor Wind und vor Futter suchenden Tieren gesichert wurden. Eine andere Erklärung bezieht sich auf das später übliche Bestatten in Grabhöhlen: diese sind mit großen Steinen verschlossen worden, welche mit solchen kleinen Steinchen verkeilt wurden.

Unser eigentliches Motiv nach Krakau zu fliegen, war, uns auf den Spuren der jüdischen Bevölkerung in Polen zu bewegen. Vom jüdischen Viertel bis hin nach Auschwitz.

Es regnete nicht an diesem Tag, sondern es goss in Strömen, überall Pfützen. Bis wir die Ausstellung in Schindlers Fabrik erreichten, waren meine Schuhe, meine Füße nass.

Ausstellung in der ehemalige Emaille-Fabrik  von Oskar Schindler („Schildlers Liste“): Oskar Schindler, ein deutschmährischer Unternehmer, der während des Zweiten Weltkrieges gemeinsam mit seiner Frau etwa 1200 bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten bewahrte. Die von Schindler geretteten jüdischen Männer und Frauen bezeichneten sich selbst häufig als „Schindlerjuden“. Nach ihrer Befreiung 1945 verteilten sich die geretteten Häftlinge in alle Welt. Einige von ihnen, darunter auch die Eltern von Michel Friedman, ließen sich in Deutschland nieder. Man schätzt, dass zu Beginn der 1990er Jahre noch etwa 400 „Schindlerjuden“ lebten, die Hälfte von ihnen in Israel.

Gemäß Zeitzeugenberichten besaß Schindler mehrere hohe NSDAP-Parteiabzeichen, die wesentlich dazu beitrugen, Eindruck bei der SS zu hinterlassen und ihm leichter Türen öffneten. Schindler soll Träger des NS-Blutordens gewesen sein, ebenso des goldenen Parteiabzeichens, wie im Film „Schindler’s Liste“ dargestellt. Der Besitz der Abzeichen ist historisch nicht belegt, nachweisbar ist jedoch, dass Schindler kein durchschnittliches NSDAP-Mitglied war, sondern tendenziell heldenhaftes Ansehen bei der SS genoss.

Die Ausstellung in der ehemaligen Fabrik, teils durch dunkle lange Gänge, Geräusche, Hitler-Fotos, Schilder für Juden, beschriftet mit Maßnahmen, wie sie sich zu verhalten hatten. Trotz der Geräusche war es still, Jugendliche, Besucher aller Nationen waren still, erdrückend still. Schilder: Rynek Glòwny, Alter Markt, Adolf-Hitler Platz, Für Juden, Für Nichtjuden; verlorene, verlassene Reisekoffer und Taschen; ein Blechwaschbecken von „Izak Hochwald Krskòw“; gemauerte alte Kellertreppen, niedrig, die Steine schienen mich zu erdrücken. Hätte sich ein Stein gelockert und wäre zu Boden gefallen, wäre es lautlos geschehen.

Die Stimmung passte zum Wetter und umgekehrt. Eine Stunde Fahrt mit dem Omnibus nach Auschwitz. Die Fahrt war still, nur durch Regen und Scheibenwischer-Geräusch unterbrochen. Wir saßen im warmen Bus und wussten, was auf uns zukam oder besser: wir ahnten es. Pfützen überall. Todesblock „11“ mit Zellen im Keller. Die Fahrt mit dem Bus nach Auschwitz ging durch Wälder und Felder nahe bei den Schienen, die die Häftlinge mit den Zügen transportierten. Ich konnte sie vor mir sehen, eingepfercht, immer noch voller Hoffnung. Vor den Latrinen, auf dem Stroh, auf den spärlichen Matratzen sah ich die Menschen liegen, stehen, sitzen. Ich hatte keine Tränen, fühlte mich unsäglich und schüttelte immer wieder den Kopf!

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Ich sah die Bilder, die Bahngleise in Birkenau vor mir, wo die SS-Wärter mit dem Daumen nach oben oder nach unten entschieden, wer aussortiert wurde und wer sofort in die Gaskammern verschwand, Kind, Frau, Mann, Alte, oder wer in das Arbeitslager kam. Ich sah die sanitären Anlagen in den Baracken vor mir. Die Latrinen, Loch an Loch. Keine Würde. Ich sah keine Menschen. Ich konnte die Stimmen hören, spürte ihre Nähe, die Verzweiflung, ganz nahe, körperlich. Ich hörte das Magenknurren, fühlte und roch die Krankheit, Typhus. Überall Stacheldraht, die Mauer, an der die ersten Juden erschossen wurden, später erfand man das Gas. Hitler wurden die Kugeln zu teuer für die einzelnen Menschen. Die kleine Mauer zwischen den Baracken in Auschwitz war überall mit Kerzen und Blumen versehen. In den Baracken, der Fußboden war fleckig rötlich und zum Teil noch erhalten, an den Wänden Fotos der KZ Häftlinge. „Am Anfang machte man noch Fotos, später wurden alle von der Firma Pelikan mit Spezialtinte tätowiert“, so unsere Führerin durch das Lager Auschwitz und Birkenau. Diese Führungen werden ausschließlich von polnischen Einwohnern geleitet.

Große Fotos in den Baracken zeigten das Leben und Sterben, die Menschen, die Gesichter.

Das von Lili Jacob überlieferte Album

Die einzigen bis 2006 bekannten Fotos aus dem Konzentrationslager Auschwitz vor der Befreiung am 27. Januar 1945 waren die 193 Bilder des ersten Auschwitz-Albums. Sein deutscher Titel war: Umsiedlung der Juden aus Ungarn. Sie klebten auf 56 Kartonseiten, wie sie für Fotoalben gebräuchlich waren; einige Lücken weisen darauf hin, dass die Sammlung nicht vollständig ist. Die Fotos zeigen die Abläufe im Inneren des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Sie wurden Ende Mai oder Anfang Juni 1944 vermutlich entweder von Ernst Hofmann oder Bernhard Walter aufgenommen, zwei SS-Männern, die jene zehn bis sechzehn Häftlinge beaufsichtigten, deren Aufgabe es war, Passfotos und Fingerabdrücke von den neu aufgenommenen Häftlingen zu machen, nicht aber von den Juden, die direkt in die Gaskammern geschickt wurden. Die Fotos zeigen den Ablauf der Ausbeutung und Ermordung der ungarischen Juden mit Ausnahme der eigentlichen Tötung: von der Selektion an den Gleisrampen über die Registrierung und Entlausung der Arbeitsfähigen, die Plünderung der Habseligkeiten bis hin zum Weg zu den Gaskammern, die im Hintergrund bleiben. Fast alle Aufnahmen stammen von einem Zugtransport. Viele Personen auf den Bildern wurden namentlich identifiziert.

Lili Jacob, die zunächst in Auschwitz Häftling war, hatte es nach ihrer Haft im Konzentrationslager Dora-Mittelbau in einer der verlassenen SS-Kasernen entdeckt, die damals nach der Befreiung als Lazarett für ehemalige KZ-Häftlinge benutzt wurden, und dabei auf den Fotos Familienangehörige und auch sich selbst identifizieren können. Einige Fotos verschenkte sie an andere Überlebende, die ebenfalls Angehörige auf einem der Fotos erkannt hatten. Nach der Räumung von Auschwitz muss es der damalige Besitzer mit nach Nordhausen gebracht haben. Frau Jacob übergab es 1980 der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

(Quelle: wikipedia, „Auschwitz-Album“)

„Ich mache die Führungen solange, bis ich begreife, was hier geschehen konnte, manchmal zwei an einem Tag“, sagte unsere Führerin durch Auschwitz und Birkenau auf meine Frage, wie sie diese „Arbeit“ verkrafte.

Im Konzentrationslager Auschwitz wurden Häftlinge tätowiert. Die Kennzeichnung wurde 1936 eingeführt und diente zur Gruppierung und Kenntlichmachung der Gefangenen, um Verwechslungen von entkleideten Leichen auszuschließen und um geflohene Häftlinge leichter zu identifizieren. Sie erleichterte dem Wachpersonal die Erkennung der von der SS verwendeten Gruppierung nach Ländern, „Rasse“, Vorverurteilungen etc. Die Häftlingsnummer ersetzte im Lager den Namen der gefangenen Personen. Normalerweise wurde sie auf den linken Unterarm tätowiert. Als Ausnahmen galten Kinder, die im Lager geboren worden waren. Da auf ihren Unterarmen nicht ausreichend Platz für eine Tätowierung war, wurden sie stattdessen auf anderen Stellen (z. B. Oberschenkel) gekennzeichnet.

Ich fand übrigens später keinen Beweis für eine Beziehung zwischen Auschwitz und Pelikan. Unsere Führerin in Auschwitz sprach jedoch immer von Pelikan!

Am Ende des Lagers von Ausschwitz konnten wir die riesige Villa von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten sehen. Er lebte dort mit seiner Frau und vier Kindern, das fünfte wurde in Auschwitz geboren. Unsere Führerin erklärte uns, man habe dort Konzertabende und Feiern veranstaltet. „Wie war das möglich?“ Diese Frage schwirrte förmlich durch die Luft, bei jedem Schritt. Während wir laufen, sehe ich die Menschen laufen, auch in den Pfützen und der Kälte, wie wir sie erlebt haben. Hungrig, durstig, erschöpft.

Am Ende diesen Tages war ich 9229 Schritte gelaufen.

Fotos: Monika Müller-Löwenberg

→ Krakau, April 2016 (Folge III)
→ Krakau, April 2016 (Folge I)

 

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