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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Wozzeck“ von Alban Berg an der Oper Frankfurt

Diagnose: Angstpsychose

Von Renate Feyerbacher
Fotos: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt

Wozzeck“: faszinierendes Libretto, emotionale Musik, psychologisch-tiefe Inszenierung, beeindruckende Leistung der Sänger-Schauspieler und des Orchesters.

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Audun Iversen (Wozzeck) und Claudia Mahnke (Marie); Foto © Monika Rittershaus

Von Alban Berg (1885-1935) stammt zur Musik auch der Text der Oper, der Originalpassagen aus Georg Büchners Drama „Woyzeck“ übernimmt. Der im hessischen Goddelau geborene Schriftsteller Büchner (1813-1837) schrieb das Dramenfragment, dem ein wahrer Kriminalfall zugrunde liegt, im Jahr 1836. Es wurde 1879 in der Erstausgabe sämtlicher Werke veröffentlicht, kam aber erst 1913 in München zur Uraufführung. Die Oper „Wozzeck“ hatte ihre Uraufführung wiederum zwölf Jahre später in Berlin. Wobei der Dirigent Hermann Scherchen in Frankfurt 1924 bereits eine Kostprobe uraufführte, die den Titel „Drei Bruchstücke aus Wozzeck“ hiess.

Es gibt ein historisches Vorbild: Johann Christian Woyzeck, ein Zeitarbeiter, ein sozial Benachteiligter, tötet eine Frau. Diesen Fall hat der Leipziger Mediziner Johann Christian Clarus auf Schuldfähigkeit untersucht – neu für die damalige Zeit. In seinen genauen Beobachtungen, so schreibt Regisseur Christof Loy, habe der Arzt Woyzecks Verhalten und Denken intensiv beobachtet. Er habe offensichtlich erkannt, „dass das, was ein psychisch Kranker artikuliert, nicht unbedingt die Wahrheit sein muss. Dabei ist niemals die eigene, sehr subjektive Selbstwahrnehmung des Kranken zu vergessen“ (Programmheft: Beitrag Christof Loy „Woyzeck/Wozzeck oder vom seelischen Ausnahmezustand einer Figur“). Angstpsychose wäre vielleicht die heutige Diagnose.

Büchner, selbst Sohn eines Arztes, der in Straßburg und später in Gießen Medizin und Naturwissenschaften sowie Geschichte und Philosophie studierte, schrieb „Woyzeck“ mit 23 Jahren. Ein Jahr später gründete er die „Gesellschaft für Menschenrechte“, verfasste die sozialistische Kampfschrift – den „Hessischen Landboten“ – mit dem Motto „Friede den Hütten, Kampf den Palästen“. Als er daraufhin eine gerichtliche Vorladung erhielt, floh er nach Zürich. Dort wurde er zum Dr. phil. promoviert und habilitierte sich mit dem Thema „Über Schädelnerven“ zum Privatdozenten für vergleichende Anatomie.

Woyzeck“ ist eine einzige Klage über die sozialen Verhältnisse. Tugend, so sagt der arme, geschundene Mensch, sei nur etwas für die reichen Leute, die Armen hätten selbst im Himmel nur die Aufgabe, donnern zu helfen. Der psychologische Aspekt bei der Figur des Woyzeck ist Büchner aber genauso wichtig. Angst- und Wahnvorstellungen quälen diesen ausgebeuteten, vom Arzt als Versuchskaninchen missbrauchten Mann. In seinem Novellenfragment „Lenz“ (1836), das sich mit dem kranken Schriftsteller Jacob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) befasst, gelingt Büchner eine überzeugende Studie der Schizophrenie.

Walter Jens (1923-2013), Professor in Tübingen, der grosse Kenner vieler Wissenschaften, schrieb: „Erst seit Büchner ist es in der deutschen Literatur möglich geworden, geheimste seelische Regungen medizinisch exakt, soziologisch stimmig und poetisch anschaulich zugleich zu beschreiben“ (Programmheft: Beitrag Norbert Abels „Ach, Herr Doktor …“).

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v.l.n.r. Peter Bronder (Hauptmann) und Alfred Reiter (Doktor); Foto © Monika Rittershaus

Der Wiener Komponist Alban Berg, ein Schüler Arnold Schönbergs, hat diesen Zustand des Woyzeck/Wozzeck musikalisch grandios nachempfunden. Seelischer Ausnahmezustand, der zum Mord treibt. Bereits 1914 hatte er Büchners Dramenfragment auf der Bühne gesehen und der Entschluss zu einer Oper reifte.

Die drei Akte sind jeweils in fünf Charakterstücke aufgeteilt. Den I. Akt nennt er „Wozzeck zu seinen Beziehungen zur Umwelt“, das sind zum Beispiel die Begegnungen mit dem Hauptmann, mit dem Doktor: die Szene hat er als Passacaglia mit 21 Variationen komponiert. Die 5. Szene mit Marie und dem Tambourmajor bezeichnet er Andante affettuoso (quasi Rondo). Marie sehnt sich nach dem Tambourmajor. Da ist ein echtes Verlangen, das Wozzeck natürlich mitbekommt. Er fühlt sich provoziert. Der II. Akt schildert die dramatische Entwicklung und der III. Akt Katastrophe und Epilog. Wozzecks Angstattacken und Halluzinationen sind geradezu zu hören. „Ach, Ach Marie“ ist ein musikalischer Klageruf. Wozzeck fühlt sich verlassen, Marie, sein letzter Halt, geht fremd – ausgerechnet Marie, die Mutter ihres gemeinsamen Kindes. Wozzeck verliert sich total und gerät in einen psychologischen Ausnahmezustand. Stimmen fordern ihn auf, Marie zu töten. Er befolgt sie.

Sowohl der Hauptmann, als auch der Doktor lassen ihren groben Zynismus an dem Geschundenen, dem psychisch Kranken, aus. Büchners Meinung über die Ärzte, die keinen Wert auf ein Menschenleben legen, kommt in der Figur des Doktors makaber zum Ausdruck. Wozzeck wird von allen beobachtet und ist dem Spott der Kleinstädter ausgesetzt. Die Szene später, bei der Marie von mehreren Männern eingekreist und bedrängt wird, mutet wie eine Massenvergewaltigung an. Brutal. Es schaudert. Mitleid heischend die Szene, wenn Marie ihren Betrug an Wozzeck bereut. Was hat sie sich von dem Tambourmajor versprochen? Ihre Erkenntnis: auch er wird sie nicht glücklich machen. Aus der Bibel betet sie entsprechende Passagen. Das geschieht vor dem zugezogenen Vorhang, der jede Szene trennt.

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Claudia Mahnke (Marie) und Vincent Wolfsteiner (Tambourmajor); Foto © Monika Rittershaus

Um Büchner bzw. Berg gerecht zu werden, habe er Räume gebraucht, in die er das ganze Umfeld mit einbeziehen konnte, sagt Regisseur Christof Loy „… worin die Energien der drei Hauptfiguren, die entweder zueinander stoßen oder sich abstoßen, verbunden sind mit der subjektiven Wahrnehmung der Figuren“ (Programmheft). Drei parallel existierende Räume prägen das Bühnenbild (Herbert Murauer). Sie verändern, verkleinern und vergössern sich und verschwinden auch, so dass nur eine grosse leere Bühne dem Geschehen dient – mal mit Schilf begrenzt, wie zum Beispiel am Tatort von Mord und Suizid.

Nach heutigem Wissen würde Woyzeck als schuldunfähig gelten.

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v.l.n.r. Peter Bronder (Hauptmann) und Audun Iversen (Wozzeck); Foto © Monika Rittershaus

Christof Loys Inszenierung hat das Arme-Leut-Thema ausgeklammert und konzentriert sich auf die medizinisch-pathologischen Aspekte. Die Führung der Figuren ist – wie bei Loy gewohnt – von einfühlsamer Intention und von ausgezeichneten Sänger-Darstellern realisiert. Für den norwegischen Bariton Audun Iversen als Wozzeck ist es ein Rollen- und ein Frankfurt-Debüt. Gross ist seine Gestalt, gedrungen und unruhig sein Verhalten. Seine sonore Stimme strahlt Wärme aus, unüberhörbar sind Verzweiflung, Angst und Wahnmomente.

Claudia Mahnke singt Marie als selbstbewusste, attraktive Frau, ohne Arme-Leut-Mentalität. Ihre Stimme hat einen differenzierten Klang: dramatisch-kraftvoll, flehentlich, zart.

Tenor Peter Bronder singt den Hauptmann so, als sei er selber ein psychisch Gestörter. Er gefällt – ebenso wie Alfred Reiter als zynischer, herumspringener Doktor und Vincent Wolfsteiner als Tambourmajor. Dem Narren – gesungen von Martin Wölfel – hat Christof Loy eine zu grosse Bedeutung eingeräumt – seltsam.

Insgesamt gab es starke szenische Bilder – zum Beispiel die Kneipenszene. Es fällt auf, dass die Menschen nie Tätigkeiten nachgehen, sondern oft hin- und herlaufend kommunizieren. Bei dem Gespräch zwischen Hauptmann und Wozzeck oder Doktor und Wozzeck hat das eine starke Wirkung. Ständig sind sie in Bewegung.

Ungebrochen gut musiziert Sebastian Weigle mit dem hervorragenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester, wofür beide frenetischen Beifall erhielten. Auch Chor und Kinderchor (Tilmann Michael, Markus Ehmann) gefielen durch Präzision.

Weitere Vorstellungen von „Wozzeck“ an der Oper Frankfurt am 6., 9. und 13. Juni 2016, jeweils um 19.30 Uhr
Im Fernsehprogramm 3sat wird am 16. Juli 2016 um 20.15 Uhr die Frankfurter Neuproduktion gesendet werden. Sie steht dann sieben Tage in der 3sat-Mediathek zur Verfügung

 

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