Globalisierung – ein Megabegriff versus Kultur und Zivilisation?
Von Gunnar Schanno
Globalisierung ist zum Megabegriff geworden seit beginnendem 21. Jahrhundert. Globalisierung bestimmt unser tägliches Leben, erfasst die soziale und politische Welt, ergreift die ökonomischen Verhältnisse mit besonderer Dynamik. Globalisierung ist ein alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassender Prozess. Globalisierung ist ein Zustand und wird es zunehmend werden, der sich aus Entwicklung und Dynamik dessen, was als Fortschritt bezeichnet wird, herauskristallisiert hat. Sie spiegelt die moderne, technologisch getriebene, Grenzen sprengende Massengesellschaft wider und prägt zugleich auch Zustand und Lebensbedingungen eines jeden von uns.
Der Begriff hat Karriere gemacht im Gebrauchsarsenal unserer Sprache – erstmals als Begriff in Umlauf gesetzt 1983 von Theodore Levitt in einem Artikel über die Globalisierung der Märkte in der Harvard Business Review. Inzwischen ist Globalisierung der neue Megabegriff, der zwei alte – zeitlose – , wie es scheint, überlagert: Kultur und Zivilisation. Letztere gelten in besagter Weise als Zustandsbegriffe der im weitesten Sinne von Emotio und Ratio gestalteten Lebenswelt.
Sind denn beide Begriffe – Kultur und Zivilisation – kompatibel mit dem Megabegriff der Globalisierung oder geraten sie unter die nivellierende, geradezu plattmachende Globalisierungsmaschine? Ist der globalisierte Mensch zerrissen zwischen Kultur und Zivilisation? Die Nachrichtenflut, die ganze Welt in mobiler Gerätschaft fast eines jeden Menschen, wo immer er sich aufhält, lässt fast jeden zum globalisierten Menschen werden.
Das Hubble Ultra Deep Field ist ein Bild einer kleinen Himmelsregion, aufgenommen vom Hubble-Weltraumteleskop über einen Zeitraum vom 3. September 2003 bis 16. Januar 2004. Dabei wurde eine Himmelsregion ausgewählt, die kaum störende helle Sterne im Vordergrund enthält. Man entschied sich für ein Zielgebiet südwestlich von Orion im Sternbild „Chemischer Ofen“; Bildnachweis: NASA und European Space Agency ESA/wikimedia commons
Die Globalisierung ist aus Europa heraus entstanden, weil vom alten Kontinent aus die Kenntnisschärfe über Natur bis in ihre atomaren Potentialitäten hinein ihren Ursprung nahm. Digitalisierung wurde Zauberwort und Methode. Computerisierung wurde der Weg beschleunigter Weltgestaltung in übertragbarer, anwendbarer, sozusagen über alle Grenzen exportierfähigen Weise. Globalisierung wurde Resultat und Megaphänomen für eine ganze Weltgesellschaft in zusätzlich massiver, transatlantischer, genauer US-technologischer Verstärkung. In diesem Kontext ist der globalisierte Mensch auch der englischsprachig vereinheitlichte Mensch.
Die Dynamik der Globalisierung hat ihre Ursache ganz besonders in der Schaffung und Bereitstellung elektronischer Ablaufprogramme und Netzwerke, die alle technischen, wirtschaftlichen, administrativen und logistischen Abläufe in ungeahntem Ausmaß durchrationalisiert, beschleunigt, operationalisierbar werden ließen. Globalisierung ist nicht Ausdruck, Ergebnis oder Ziel bewussten Menschenwillens und auch nicht der des üblicherweise Manager genannten Machers in der Ökonomie. Die digitale Revolution ist es, welche als eigentliche Ursache und Motor für elektronisch basierte Power und Dynamik globalen Handelns angesehen werden muss. Globalisierung folgt dem Prinzip und ist dessen Ergebnis, dass realisiert wird, was technisch machbar ist.
Mit den über- und multinationalen Wirtschaftsgebilden wird den historisch-politischen nationalen Einheiten ein neues, immer kräftiger werdendes System global-informationeller Vernetzung übergestülpt. Immaterielles und Materielles sind die beiden Aggregate der Globalisierung in dem Sinne, als sie sich zusammensetzt aus gegenseitig sich beschleunigenden Daten- und Warenströmen. Globalisierte Vernetzung kennt keine geographischen, nationalen oder politischen Grenzen.
Der deutsche Groß- wie Kleinstadtbürger wird erreicht von den „Global Players“ mit ihren Labels und Marken der Mode, der Technik, der Equipments eines ubiquitären Lifestyles, nicht minder erreicht wie der Bürger in Metropolen wie New York, London oder Tokio. In technologische Anwendungen vertieft man sich in Frankfurt wie rund um die Welt in fast identischen Tastatureingaben, Terminologien, Touch-Movements, Reaktionsfolgen. Globalisiert sein ist „in“. Im globalisierten Menschen erblicken wir uns geradezu robotoid in elektronisch-miniaturisiert produzierter Extendiertheit über unsere eigene biologische Ausstattung hinaus, also erweitert über unsere eigenen Sinne des Sehens und Hörens hinaus als interaktiv wandelnde Weltsender und Weltempfänger von Botschaften aus nah und fern.
Zum globalisierten Menschen gehört, dass er der Gläserne ist, an dem nichts verborgen ist, und sei es nur, dass doch alles Phänomenale, Individuelle, Subjektive an und in ihm in Transparenz erscheint. Eine Transparenz, die zum einen in elektronischer Spurensicherung täglichen Lebens entsteht, doch andererseits auch schon in Erscheinung tretend, seit der Mensch das primäre Objekt wissenschaftlichen Forschens wurde, einem Prozess der Öffnung seines Innersten unterworfen ist. Die Wissenschaftsindustrie hat es geschafft, bis in sein Genom als dem globalisiertest-dimensionierten Kondensat in Sicht auf den Menschen vorzudringen.
Globalisierung ist kein Phänomen des Kulturellen, wenn wir besagterweise Kultur bestimmen als das Uneigentliche im Sinne des Subjektiven, Individuellen, des Transzendierenden und des Künstlerischen, als besagter Welt auch der Tabus und des Geheimnisvollen. Globalisierung ist Phänomen und Ultimativ des Zivilisatorischen als einem Megaprozess zusammenführender Erkenntnisströme und Anwendungstechniken als Basis für weltweit immer identischer werdende Realisationen für Produktions-, Vermarktungs-, Logistik und Konsumwelt.
Der Zusammenhang ist nicht banal. Denn im Universellen als Prinzip hat Globalisierung ihre Wurzel. So universell die physisch-biologischen Funktionen oder die Gesetze der Physik, so universell sind auch globalisierende Faktoren für durchrationalisierte Verfahren und Strukturen. Auch Theorie und Praxis aus Medizin oder Psychotherapie finden ebenso universelle Anwendung bei Menschen – unabhängig von Herkunft oder Kultur auf welchem Kontinent auch immer.
Im Ökonomischen als Globalisierungsbasis sind nicht zuletzt Verlagerung, Outsourcing, Firmenneugründungen, Merging, Schaffen einer Corporate Identity über Ozeane hinweg für Unternehmen kein Prozess wie einst von Jahren, sondern liegen im Plansoll von Monaten. Wovon sozialistische Planwirtschaft nur träumen konnte, ist in Zeiten elektronisch-basierter rasant vollzogener Planerfüllung Wirklichkeit geworden. Wüsten, Berge, Meere sind keine Barrieren mehr für Aktionen unternehmerischer Gleichschaltung. Globalisieren heißt, sich bewegen in einer Systemlandschaft, bis in die „Cloud“ hinein als Ersatz für die Unendlichkeit des Himmels. Firmenfremde Sprachen, Sitten, Bräuche, ethnisch-religiös individuelle Arbeitsstile, all das, was kulturell geprägt ist, sind der Betriebshygiene geschuldet und vielleicht noch zugelassen als folkloristische Marginalien.
In beliebter Fragestellung: Wo bleibt das Positive – in unserem Zusammenhang, das Positive am globalisierten Menschen? Vielleicht kann er bald nicht mehr vereinnahmt werden von einzelnen religiös-politischen Diktatoren und Regimeführern. Vielleicht kommt er bei aller Zivilisationslastigkeit als Zeittyp dem Kulturbegrifflichen der Menschheit näher, weil er immer wieder zurückgezwungen wird in global geführte Diskurse, Narrative und Erkenntnisbahnen, geleitet wird in Algorithmen, Synthesen und Korrektive global-transparenter Informations- und Erkenntnispools. Vielleicht wird sich Manipulierbarkeit des globalen Menschen allein noch im Ökonomischen und nicht mehr im Politischen vollziehen.
Sicher ist es positiv, dass ein zunehmend globalisierter Status der Gesellschaft der Selbstverständlichkeit des demokratischen Prinzips und den Freiräumen kultureller Vielfalt keine religiös-politischen Grenzen mehr setzt. Doch ist auch zu fragen, wie weit Kultur von durchrationalisierter Globalisierung eher domestiziert, nivelliert, zu Fakes gemacht, ihr das besagt grundsätzlich Schöpferische und Absolute genommen wird? Vielleicht ist aber der Mensch grundsätzlich global in dem Sinne, als er inmitten universeller Gleichheit aller Menschen steht. So mag Globalisierung nichts als ein Prinzip der Menschheitsgeschichte sein und uns nur in neuer technologisch gefertigter Verkleidung in Staunen über uns selbst setzen, so erstaunt, wie es der Mensch wohl war, als die Erfindung des Rads zu seinen ersten Akten der Globalisierung zählen konnte.
→ Kultur und Kulturrelikt in globalisierter Welt
mit weiteren Nachweisen