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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Museum Giersch zeigt „Horcher in die Zeit – Ludwig Meidner im Exil“

Ehrung des großen „bekannten Unbekannten“ in Frankfurt, Hofheim und Darmstadt
Mit seismographischem Gespür die Erschütterungen der Zeit früh erfasst

Von Hans-Bernd Heier

Ludwig Meidner (1884–1966) zählt zu den herausragenden deutschen Künstlern der Moderne. Sein Werk und seine Biographie stehen exemplarisch für die gesellschaftlichen Brüche, mit denen Künstlerinnen und Künstler im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konfrontiert waren.

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Kuratorin Birgit Sander vor „Die Abgebrannten“; Foto: Hans-Bernd Heier; (re.) Ludwig Meidner, „Selbstbildnis“, 1943, Öl auf Pappe, 37,5 x 26 cm; Privatbesitz; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Aus Anlass des 50. Todesjahrs des vielseitigen Künstlers hat die Ludwig Meidner-Gesellschaft e.V. das Gemeinschaftsprojekt „Ludwig Meidner – Seismograph“ initiiert, das sich mit Ausstellungen und Veranstaltungen in der Rhein-Main-Region unterschiedlichen Aspekten im Schaffen des Malers, Dichters und Zeichners widmet. Beteiligt am Projekt sind das Museum Giersch der Goethe-Universität, das Kunst Archiv Darmstadt, das Stadtmuseum Hofheim, das Institut Mathildenhöhe, das Jüdische Museum Frankfurt sowie als Kooperationspartner die Galerie Netuschil in Darmstadt.

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Die Abgebrannten (Heimatlose)“, Öl auf Leinwand, 63 x 84 cm; Museum Folkwang, Essen; Foto: Museum Folkwang Essen / ARTOTHEK

Für dieses einmalige Projekt hat sich besonders die Ludwig Meidner Gesellschaft engagiert. Zum 100. Geburtstag des jüdischen Künstlers gab es keine Ausstellungen, wie Cornelia von Plottnitz, die erste Vorsitzende der Gesellschaft, bedauert. Um Erinnerungen an sein Leben und Werk im öffentlichen Bewusstsein wachzuhalten, sei die Ludwig Meidner-Gesellschaft gegründet worden. Sie, die als junges Mädchen noch den Künstler in Hofheim kennengelernt hat („ein glückhafter Moment“), freut sich umso mehr, dass mit diesem großartigen „Ausstellungsformat“ der „bekannte Unbekannte“ mit seinen sehr unterschiedlichen Schaffensphasen eindrucksvoll präsentiert werden könne.

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Emporheben der Thora“, 1944, Aquarell, Kreide, 70 x 57,2 cm; Kunststiftung Bönsch; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Finanziell ermöglicht wurde das Verbundprojekt durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der es als seine Hauptaufgabe ansieht, die Metropolregion durch kulturelle Zusammenarbeit besser zu vernetzen, die Attraktivität zu stärken sowie die kunst- und kulturgeschichtliche Tradition der Region zu dokumentieren. Mit 210.000 Euro werden die sechs Kultureinrichtungen aus der Region unterstützt, die sich für das Projekt zusammengeschlossen haben, um des 50. Todestages des bedeutenden Malers und Literaten zu gedenken und so einem „Rezeptions-Defizit“ entgegen zu wirken. Weitere 50.000 Euro sind für eine umfassende Online-Kampagne reserviert, die mit der Homepage www.ludwig-meidner.de und sozialen Medien auch über die räumlichen Grenzen der beteiligten Institutionen hinweg über den Künstler und die abgestimmten Aktivitäten informieren soll. Der Geschäftsführer des Kulturfonds, Helmut Müller, der sich von Anfang an für das Projekt begeistert hat, weist besonders auf den gesellschaftspolitischen Aspekt in Meidners Werk hin: „Wie kaum ein anderer erfasste Meidner mit seismographischem Gespür die Erschütterungen und Umbrüche seiner Zeit und reflektierte sie in seinem Werk“.

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Zerlumpte Figuren“, um 1945, Aquarell, Kohle, Kreide, 51x 73,6 cm; Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Den Veranstaltungsreigen hat das Museum Giersch mit der umfangeichen Ausstellung „Horcher in die Zeit – Ludwig Meidner im Exil“ eröffnet. Im Fokus stehen Werke auf Papier, die der emigrierte Künstler während des Londoner Exils in der Zeit von 1939 bis 1953 gefertigt hat: Skizzenbücher, Aquarelle, Kohle- und Kreidezeichnungen. In der breit angelegten Schau, die in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt konzipiert worden ist, sind mehr als 120 Arbeiten versammelt. Um das Schaffen des widersprüchlichen Malers, dessen Werk nicht frei von gravierenden Brüchen ist, angemessen beurteilen zu können, werden auch Arbeiten aus seinem Frühwerk gezeigt.

Meidner, am 18. April 1884 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie im mittelschlesischen Bernstadt geboren, studierte zunächst von 1903 bis 1905 an der Königlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule Breslau. Er brach allerdings sein Studium aus Enttäuschung über den akademischen Lehrbetrieb ab und bestritt seinen Lebensunterhalt als Modezeichner in Berlin. Während eines Paris-Aufenthalts 1906/1907 malte er impressionistische Stadtansichten und Landschaften. Zurückgekehrt nach Berlin gründete er die Gruppe „Die Pathetiker“. Stadtansichten der industriell geprägten Vororte der Hauptstadt bildeten damals sein bevorzugtes Sujet.

Bekannt wurde der Künstler allerdings erst durch seine expressionistischen Arbeiten, besonders durch seine ausdrucksstarken Porträts, die mit ihrer Intensität bestechen, sowie durch die fulminanten visionären „Apokalyptische Landschaften“. Erstmals öffentlich zeigte 1912 Herwarth Walden in seiner progressiven Galerie „Der Sturm“ Meidners Arbeiten in der Ausstellung der „Pathetiker“.

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Rolltreppe“, um 1945; Aquarell, Kohle, schwarze Kreide; 74,7 x 55,9 cm ; Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Foto: Wolfram Schmidt, Regensburg

Ludwig Meidner, der nie einer „Kriegseuphorie“ verfallen war, erfasste früher als andere Künstler mit seinem seismographischen Gespür die sich anbahnenden Katastrophen und reflektierte diese in seinen visionären Arbeiten. Er malte und zeichnete Antikriegs-Szenen, in denen er das Leid und die Grausamkeiten des Krieges unmissverständlich zum Ausdruck brachte. Dies belegen die bei Giersch gezeigten erschütternden Bleistift-Zeichnungen aus der Sammlung Winfried Flammann. Vor allem seine wild zerklüfteten „Apokalyptische Landschaften“ spiegeln seine düsteren Vorahnungen erschreckend wider.

Nach dem Militärdienst (1916-1918) kehrte Meidner nach Berlin zurück und schloss sich vorübergehend den revolutionären Künstlervereinigungen „Novembergruppe“ und „Arbeitsrat für Kunst“ an. Anfang der 1920er Jahre vollzog sich wohl der größte Bruch in Meidners Werk, als er sich öffentlich vom Expressionismus distanzierte und diesen „als Spleen, Übergeschnapptheit und Schamlosigkeit“ abtat. Er propagierte seinen künstlerischen Rückzug und wandte sich religiösen, speziell jüdischen Themen zu.

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Zuschauer“, Wasserfarben, Deckweiß, Kohle, 68,7 x 56 cm ; Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Foto: Wolfram Schmidt, Regensburg

Von 1924 bis 1926 erhält der wortgewandte Maler, der eine große Affinität zur Literatur besaß und dank seiner Doppelbegabung auch expressionistische Prosa verfasste, einen Lehrauftrag an den Studien-Ateliers für Malerei und Plastik in Berlin-Charlottenburg. Danach zieht er sich aus der Bildenden Kunst zurück und arbeitet als Feuilletonist für Berliner Zeitungen. Um der nationalsozialistischen Repression, die ihn als „entartet“ brandmarkte, zu entgehen, übersiedelte Meidner 1935 mit der Familie – seiner Ehefrau und seinem Sohn David – nach Köln. Dort arbeitet er als Zeichenlehrer am jüdischen Gymnasium Jawne.

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Der Horcher in die Zeit“, 1938, Kreide, 68 x 54,5 cm; Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Die Schreckensherrschaft der Nazidiktatur setzte in ihm neue künstlerische Kräfte frei. In einer Reihe großformatiger, bedrückend düsterer Kohle- und Kreidezeichnungen, die er bis zu seiner Emigration 1939 schuf, spiegelt sich die sich unaufhaltsam verdunkelnde Welt des Totalitarismus“, erläutert Kuratorin Birgit Sander, stellvertretende Leiterin des Museums Giersch. Die spürbare Gleichschaltung und Brutalisierung der Gesellschaft hält er in beängstigenden, allegorischen Blättern fest, wie beispielsweise in „Das Ende unseres Zeitalters“, „Der Horcher in die Zeit“ oder „Der Gottesleugner“. Die Kreidezeichnung „Horcher in die Zeit“ aus dem Jahre 1938 sowie das gleichnamige Blatt von 1917 sind Namensgeber für die beeindruckende Schau im Museum Giersch. „Als Alter Ego des Künstlers spielen die horchenden Gestalten auf seine hypersensibilisierten Wahrnehmungsfähigkeiten für die unterschiedlichsten ‚Töne‘ der Zeit an, die er in ein erstaunliches Bildpotenzial umsetzte und damit sein Verhältnis zu einer aus den Fugen geratenen Welt kommentierte“, analysiert Manfred Großkinsky, Direktor des Museums Giersch. Meidner schrieb 1949 rückblickend über diese düstere Werkgruppe: „Diese visionären Formungen sind das stärkste, was ich je machte. In ihnen geistert unser Zeitalter.“

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Strange Lovers“, um 1945, aus dem Skizzenbuch, Feder, Aquarell, Bleistift, 38,5 x 27 cm; Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ werden 84 Werke von Meidner aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und einige auch in der Schandschau von 1937 gezeigt. Aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung emigriert der mit einem Malverbot geächtete jüdische Künstler im August 1939 ins Exil nach London. Dort, als „enemy alien“ interniert, leben er und seine Familie in großer Armut und Isolation. Da Meidner nicht in die englische Kunstszene integriert ist, kann er dort auch nicht reüssieren, wie der Kurator der Ludwig Meidner-Gesellschaft, Erik Riedel, betont.

Unter schwierigsten äußeren Bedingungen schuf er in dieser Zeit ein beeindruckendes Konvolut an Werken – 25 Skizzenbücher, Aquarelle, Kohle- und Bleistiftzeichnungen. Es entstehen zahlreiche Papierarbeiten mit Landschafts- und Naturmotiven, Porträts, religiösen sowie grotesk-karikierenden Darstellungen; Ölgemälde – wie das oben abgebildete Selbstbildnis – dagegen kaum, weil dem Maler dafür das Geld für Leinwand und Farben fehlt. Selbstbildnissen kommt im Schaffen Meidners von den Anfängen bis in das Spätwerk, laut Großkinsky, besondere Bedeutung zu. „In ihnen offenbart sich die kontinuierliche Auseinandersetzung des Künstlers mit der eigenen Identität. Seine Selbstbildnisse zeugen von existentieller Bedrohung und Selbstbehauptung sowie vom Dialog des Künstlers mit sich selbst und seinem Gegenüber“.

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Martialischer Maskenaufzug“, loses Blatt aus Skizzenbuch, Aquarell, Bleistift, 38 x 25,4 cm ; Ludwig Meidner-Archiv, Jüdischen Museum Frankfurt; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Diese Exil-Arbeiten, die bislang im Schatten seines fulminanten expressionistischen Werkes standen, bilden den Mittelpunkt der Präsentation. Die überwiegende Mehrheit der damals entstandenen Arbeiten wird im Ludwig Meidner-Archiv im Jüdischen Museum Frankfurt bewahrt. Weitere Blätter befinden sich in Privatbesitz, nur wenige in öffentlichen Sammlungen. Im Hause Giersch werden viele von ihnen erstmalig öffentlich gezeigt.

In Meidners Werken dieser Jahre findet sich neben einem schonungslosen Realismus auch eine bizarre, groteske Übersteigerung. Besonders skurril sind seine Insektendarstellungen, laut Riedel „kryptische Blätter“. In der Internierungszeit 1941/1942 und nochmals zwischen 1945 und 1950 schuf Meidner eine Reihe von Aquarellen, auf denen sich Insekten entweder allein, mit anderen Tieren, mit Menschen oder mit tierverwandten Fabelwesen tummeln. „Es ist, als blicke man in diesen Blättern durch eine Vergrößerungslinse in eine fremde, faszinierende Welt kleiner Lebewesen, die hier nun ihren großen Auftritt haben. Das Leben der Insekten ähnelt dabei häufig dem der Menschen“, sagt Birgit Sander. „Was Meidner veranlasste, zum Gewürm herabzusteigen – wie er es selbst nannte – ist nicht leicht zu ergründen. Die Beschäftigung mit dieser Phantasiewelt bedeutete sicher eine Ablenkung von einer erdrückenden Alltagsrealität. Assoziationen an die surrealen Bildwelten eines William Blake, Johann Heinrich Füssli, Francisco de Goya oder Hieronymus Bosch stellen sich ein“. Offenbar beherzigte Meidner in seinen Arbeiten immer noch die bereits 1918 verkündete Devise: „Mal‘ deinen eigene Gram, deine ganze Verrücktheit und Heiligkeit dir vom Leibe“.

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Insektenfressender Frosch“, 1941, loses Blatt aus Skizzenbuch, Aquarell, Bleistift, 50,5 x 40,4 cm ; Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt; Foto: Uwe Dettmar, Frankfurt

Mit der Präsentation der im Exil entstandenen Arbeiten erfährt diese Schaffensphase des Künstlers laut Großkinsky erstmalig eine umfassende Würdigung. „Meidners Werke aus dem Exil stellen eine höchst intensive Mischung aus innerem Erleben und Zeitkommentar dar und besitzen daher eine besondere aktuelle Relevanz. Mit visionärer Kraft, schonungsloser Direktheit und symbolhafter Verdichtung schildert der Künstler Isolation, Verfolgung und Vernichtung. Er erzählt mit Empathie, auch mit Humor und bissigem Spott von einer absurd-grotesken, abgründigen Welt“. Parallelen mit Hogarth‘s Bildsprache sind durchaus erkennbar.

Die Hängung der Exilarbeiten ist „nach Themen geordnet, wobei sich die metaphorische Bildsprache Meidners oftmals einer eindeutigen Zuweisung entzieht“, so die Kuratorin. „Die Gliederung der Räume nimmt Bezug auf Meidners eigenen Versuch einer thematischen Ordnung nach Serien und Zyklen“: Werke aus der Zeit unmittelbar vor der Emigration, Skizzenbücher der Exilzeit, religiöse Motive, Szenen des Schreckens und der Vernichtung, Metaphern des Exils, Insektendarstellungen sowie Café- und Varietészenen.

1953 kehrt Meidner alleine nach Deutschland zurück. Seine Frau, Else Meidner, bleibt in London, während Sohn David bereits 1951 nach Israel emigriert ist. Der aus dem Exil Heimgekehrte findet zunächst im Jüdischen Altersheim in Frankfurt Unterschlupf. Dank der Hilfe von Hanna Bekker vom Rath kann er 1955 ein Atelier in Hofheim-Marxheim beziehen. Er nimmt die Ölmalerei wieder intensiv auf und malt Porträts, religiöse Darstellungen, Landschaften und Stillleben. Er bleibt jedoch zunächst weitgehend vergessen und ohne nennenswerte Anerkennung. Zwar erhält Meidner zahlreiche Ehrungen, aber an seine Vorkriegserfolge kann er nicht mehr anknüpfen. Er stirbt 1966 in Darmstadt, wohin er drei Jahre zuvor gezogen war.

Horcher in die Zeit – Ludwig Meidner im Exil“, Museum Giersch der Goethe-Universität, bis zum 10. Juli 2016
Themenführung am 50. Todestag des Künstlers: „Meidner und sein Judentum“, Samstag, 14. Mai 2016, 15 bis 16 Uhr

Bildnachweis (soweit nicht anders bezeichnet): Museum Giersch, © Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main

 

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