In Arles leuchtet das Mittelalter – Erfolgreiche Restaurierung des Kreuzgangs von St. Trophime
Von Andreas Pesch
Arles, in der französischen Provence gelegene Partnerstadt des osthessischen Fulda, verfügt über ein reiches architektonisches Erbe aus Antike und Mittelalter. Der von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestufte Kreuzgang der einstigen Kathedrale St. Trophime erstrahlt seit Sommer 2015 in neuem Glanz.
Das Mittelalter hat derzeit Konjunktur: Die Filmtrilogien „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“ von Peter Jackson nach Vorlagen des britischen Fantasy-Autors J.R.R. Tolkien oder die US-amerikanische Serie „Game of Thrones“ erfreuen sich großer Beliebtheit bei ihren Fans. Eine nicht zu unterschätzende Nebenrolle in diesen weitverzweigten Geschichten von Liebe, Heldentum und Verrat spielt das Setting: Die Helden durchwandern atemberaubende Naturlandschaften und ihre Wege kreuzen sich in Städten, Palästen und Burgen, die als grandiose Architekturensembles bildgewaltig in Szene gesetzt werden. Die mittelalterlich anmutenden Bauten in „Der Herr der Ringe“ entspringen meist der Phantasie von Setdesignern, die sich von einer romanischen oder gotischen Architektursprache inspirieren lassen. Viele vergleichbare Szenen in „Game of Thrones“ wurden an authentischen Orten gedreht, deren Prägung durch mittelalterliche Architektur wesentlich zur Atmosphäre der Serie beiträgt.
Die Mittelaltermode bietet einen willkommenen Anlass, um die Quellen der Inspiration einmal selbst aufzusuchen und die Werke mittelalterlicher Baumeister und Bildhauer räumlich auf sich wirken zu lassen. Einen hierfür gut geeigneter Ort stellt der Kreuzgang der Kathedrale St. Trophime im südfranzösischen Arles dar, der nach einer dreijährigen Restaurierung seit Juni 2015 wieder frei von Gerüsten und Absperrungen erlebt werden kann.
Auch wenn Arles vor allem aufgrund seiner antiken Bauwerke aus der Kaiserzeit berühmt ist, so birgt das einstige Verwaltungszentrum des Römischen Reiches auch ein reiches Kulturerbe aus späteren Epochen. Arles war auch ein wichtiges frühchristliches Zentrum: Schon im Jahr 250 nach Christus soll Trophimus zum ersten Bischof der Stadt geweiht worden sein. Im 4. Jahrhundert nach Christus verfügte Arles über einen Bischofssitz, dessen Gebäudekomplex im 5. Jahrhundert in die Nähe des römischen Forums, also ins Stadtzentrum, verlegt wurde. Die Kathedrale, zunächst dem heiligen Stephan gewidmet, wurde später Trophimus geweiht, dessen Gebeine 972 und nach einer Umbettung abermals 1152 hierhin überführt wurden. Arles konnte im Mittelalter als wichtiges geistliches und politisches Zentrum der Provence an seine glanzvolle römische Epoche anschließen: So wurde am 30. Juli 1178 Friedrich I., bekannt als Kaiser Friedrich Barbarossa, in der Kathedrale zum König von Burgund gekrönt.
Seit 1152 wurden die Kirche Saint-Trophime sowie die angeschlossenen Gebäude unter Nutzung von karolingischen Vorgängerbauten neu errichtet. Zum Neubauprojekt zählte auch der Kreuzgang, dessen nördliche und östliche Galerie noch im 12. Jahrhundert und somit im romanischen Stil fertiggestellt werden konnten. Die Romanik ist als Baustil durch die Wiederverwendung traditioneller Elemente der römischen Architektur gekennzeichnet, insbesondere durch Rundbögen, Säulen und Kapitelle sowie massive Mauerwerke. Auch wenn die Romanik zugleich eine Weiterentwicklung dieses architektonischen Erbes war, so lässt sich in Arles jedoch gut studieren, wie sehr die Romanik vom römischen Vorbild beeinflusst war. Antike Bauten waren auch im 12. Jahrhundert im Stadtbild von Arles noch präsent.
Blick über den Kreuzgang auf den Turm der Kathedrale St. Trophime in Arles
Zum Teil dienten römische Bauten als Steinbruch für neue Bauwerke. So fanden beispielsweise Steine aus dem römischen Theater eine neue Verwendung in der Kathedrale. Auch wenn zu jener Zeit die konkreten Überreste der römischen Zivilisation nicht als erhaltenswert erschienen, so war doch die römische Formensprache eine zentrale Inspirationsquelle der romanischen Baumeister. Der Kreuzgang von St. Trophime ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Selbst komplexe Formen, wie das Kapitell korinthischer Art, wurden aufgegriffen und neu interpretiert. Ebenso fand die Strukturierung von Säulen und Pilastern durch vertikal verlaufende Parallelen erneut Verwendung.
Ranken und Blätterwerk als Zierelemente von Friesen finden sich ebenfalls wieder, wie sich am Beispiel von St. Trophime schön zeigen lässt. Zugleich erfuhr das wichtige Architekturelement des Kapitells eine Neuinterpretation: Während es in der römischen und in der griechischen Architektur zumeist einer typisierten Form (ionisch, dorisch, korinthisch) folgte, wurde es von romanischen Baumeistern und Skulpteuren als Träger symbolischer Darstellungen genutzt.
Dem römischen Erbe verpflichtet – romanische Architekturelemente im Kreuzgang von St. Trophime
Zuweilen werden auch die traditionelle und die neue romanische Formensprache gemischt, etwa wenn eine ionische Säule durch das Auftauchen eines mysteriösen männlichen Kopfes verfremdet wird.
Der Kreuzgang ist somit nicht nur ein Bauwerk, das der Verbindung zwischen Gebäudeteilen mit unterschiedlichen Funktionen im religiösen Leben dient, sondern er erzählt selbst auch eine Geschichte. Er verleiht biblischen Erzählungen bildhafte Formen und trägt dazu bei, zentrale Elemente des Glaubens in physischer Form erlebbar zu machen. Die Kapitelle im Ostflügel etwa stellen wichtige Stationen im Leben Christi dar, wie die Geburt und die Passion. Der Nordflügel ist im Wesentlichen der Verehrung der für Arles relevanten Heiligen gewidmet.
↑ Kapitelle im Kreuzgang von St. Trophime zwischen römischer Tradition und romanisch-symbolischer Neuinterpretation
↓ Mischung aus traditionell römischen und neuartig romanischen Stilelementen
Die Fertigstellung der Süd- und der Westgalerie des Kreuzgangs erfolgte erst im 14. Jahrhundert. Ebenso wie das reich geschmückte Eingangsportal der Kathedrale sowie Nord- und Ostflügel des Kreuzgangs kündete diese Bauphase von einer neuen Blüte des religiösen Lebens. Louis Aleman, Erzbischof von Arles, verstarb im Jahre 1450. Nachdem es an seinem Grab zu Wundern gekommen sein soll, entwickelte sich eine Frömmigkeits- und Pilgerbewegung, die die ökonomischen Ressourcen des Bistums schnell vermehrte. Investitionen wurden möglich, die einen Neubau des Ostchores und die Vollendung des Kreuzgangs erlaubten – und dies natürlich im gotischen Stil, der neuesten Architekturmode der Zeit. Somit erhielten Süd- und Westflügel des Kreuzganges die für die Gotik typischen Spitzbögen, zugleich wurde das zweihundertfünfzig Jahre zuvor erprobte Bildprogramm fortgeführt und die beiden Galerien mit reichem Figurenschmuck ausgestattet. Während der Südflügel dem Leben des Kirchenpatrons St. Trophimus gewidmet ist, wurden im Westflügel verschiedene religiöse Motive verarbeitet. In der Kunstgeschichtsschreibung verblieben diese späteren Gebäudeteile stets im Schatten der älteren romanischen Bauten, deren Figurenschmuck zu den bedeutendsten Werken der Romanik zählt. Die Aufnahme von Arles in das Welterbe der UNESCO im Jahr 1981 brachte schließlich eine kunsthistorische Würdigung des Gebäudekomplexes in seiner Gesamtheit.
Kapitell einer Säule im Ostflügel: Jesu Einzug in Jerusalem
Der bauliche Zustand des Ensembles war für viele Jahre ein Gegenstand großer Sorge. Luftverschmutzung und unwirtliche klimatische Verhältnisse setzten dem Gestein zu. Eine dunkle, salzhaltige Schmutzschicht überzog das Gestein von Gebäude und Skulpturen. Dessen schädigende Wirkung wurde durch Feuchtigkeit verstärkt, die ein Eindringen der Salze in das Gestein förderte. Feuchtigkeitsschäden waren ohnehin ein großes Problem in St. Trophime, verursacht einerseits durch Beschädigungen des Entwässerungssystems, andererseits durch eine unsachgemäße Bepflanzung des Innenhofes.
Schon in den 1990er Jahren begannen Vorstudien für eine Instandsetzung der Anlage. Anfang 2000 konnte eine genaue Schadensanalyse erstellt werden, die die Grundlage für die Erforschung von möglichen Reinigungsmethoden bildete. Da im Komplex von St. Trophime unterschiedliche Gesteinsarten verarbeitet worden waren, waren je spezifische Behandlungsmethoden erforderlich. Im Jahr 2011 wurden diverse Reinigungstechniken getestet, und 2012 schließlich konnten die eigentlichen Restaurierungsarbeiten beginnen. Bis Mitte 2015 arbeiteten zehn Restauratoren einer privaten Spezialfirma an Entsalzung, Reinigung und Stabilisierung des Gesteins. In langwieriger Kleinarbeit entfernten sie die Schmutzschicht Zentimeter für Zentimeter. Das Dach und die Vorrichtungen zur Entwässerung wurden instand gesetzt sowie die Bepflanzung im Hof des Kreuzgangs entfernt. Insgesamt investierten die öffentliche Hand und private Geldgeber über drei Millionen Euro in das Projekt.
Das Ergebnis ist beeindruckend: Sucht man nach Bildern von St. Trophime, stößt man schnell auf Aufnahmen aus der Zeit vor der Restaurierung. Auf diesen erscheinen die Skulpturen dunkel und düster, und die Gesamtanlage erweckt einen finsteren, verkommenen Eindruck. Wenngleich auch die außerordentliche Qualität der Bildhauerarbeiten noch erkennbar war, so ist sie nun, nach dem erfolgreichen Abschluss der Restaurierung, von überwältigender Evidenz.
Blick vom romanischen Ostflügel auf die gotischen Teile des Kreuzgangs
Die Figuren und ihre Gesichter erstrahlen in hellem Weiß, die Strukturierung des bearbeiteten Steins tritt klar hervor und gibt den Bildwerken eine erstaunliche Plastizität. Ein Naturalismus im Sinne der römischen Kunst wurde von den Bildhauern der Romanik nicht angestrebt, doch mit Hilfe ihrer weitaus einfacheren Formen verleihen sie den Figuren einen Ausdruck von Lebendigkeit und emotionaler Tiefe. Vor allem die Augen verleihen den Skulpturen große Präsenz. Sie beruht im Wesentlichen auf einem Hell-Dunkel-Kontrast, der sich aus dem Material und seiner geschickten Verarbeitung ergibt. Nun, da das Gestein wieder in Marmorweiß und hellem Ocker erstrahlt, kann er sich voll entfalten.
So lässt sich erfahren, wie die romanischen Bildhauer nicht allein mit Material und Formen arbeiteten, sondern auch mit Effekten, die sie durch das Wechselspiel von Licht und Schatten hervorrufen konnten. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Kopf eines Dämons oder Vogelwesens, das den Betrachter von einem der Kapitelle anstarrt, mit bösem, furchterregendem Blick: Wie hat ein Mensch der mittelalterlichen Welt diese Fratze erlebt? Es ist gut denkbar, dass für ihn die Betrachtung des Fabelwesens eine unmittelbare physische Begegnung mit religiösen Wahrheiten war.
Männlicher Kopf, verarbeitet in einem der Kapitelle im Kreuzgang von St. Trophime
Teuflische Dämonen flößten ihm Angst und Schrecken ein, aber am Ende stand die segnende Geste des Kirchenpatrons. Die Skulptur des heiligen Trophimus am nordwestlichen Eckpfeiler des Kreuzgangs wirkt ganz so, als wäre der Heilige in das reale Leben des Betrachters eingetreten, physisch präsent und lebendig, und spräche ihm den Segen Gottes zu.
↑ Kopf eines Vogelwesens oder Dämons als Gestaltungselement
↓ Mit segnender Geste ist der heilige Trophimus dem Betrachter ganz zugewandt
Die Akteure der Aufklärung und der Französischen Revolution haben die ideologische Konstruktion vom „finsteren Mittelalter“ in die Welt gesetzt, um die eigene Epoche als hell und strahlend darzustellen. Wie sehr auch diese neue Zeit in totale Finsternis umschlagen konnte, zeigte die Phase des Terrors, während der weitläufige Zerstörungen an den Kirchen und Klöstern Frankreichs angerichtet wurden. Zum Glück sind die Kathedrale und der Kreuzgang von St. Trophime dem revolutionären Ikonoklasmus entgangen.
Heute lässt sich in Arles ein helles, freundliches, leuchtendes Mittelalter erleben. Seine Gestalten und Geschichten können Kunstkenner ebenso wie Fantasyfreunde in ihren Bann ziehen. Wenn man am frühen Abend, kurz vor Schließung als einer der letzten Besucher durch die Gänge wandelt, kann man sich leicht in eine andere Zeit versetzt fühlen. Fast meint man, jeden Moment könne ein Mönch oder Edelmann hinter einer der Säulen hervortreten. Hier ist das Mittelalter lebendig.
Ein klarsichtiger Geist: Joseph. Darstellung von „Josephs Traum“ im Kreuzgang zu St. Trophime
Fotos: Andreas Pesch