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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Forscher-Drama und Spuk-Geschichte: Schmiedleitners „Faust“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

Himmlisch: Das Düsseldorfer Mephisto-Quartett Karin Pfammatter, Jakob Schneider, Katrin Hauptmann und Thiemo Schwarz

Von Dietmar Zimmermann
Fotos: Sebastian Hoppe

Der Deutschen größtes Drama gehört zu den wenigen Theaterstücken, die man nicht häufig genug sehen kann. Jedem Regisseur fällt was anderes dazu ein – drogenverseuchtes Prekariat wie einst bei Thirza Bruncken (Dortmund 2006), singende und schlafende Riesen, Landstreicher und Chemie-Laboranten in Christoph Marthalers Wurzelfaust (Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1993), postdramatische Dekonstruktion mit exaltierten Selbstdarstellern wie bei Nicolas Stemann (Salzburger Festspiele / Thalia Hamburg 2011). Faust ist das Shakespeare-Drama von Goethe: Wie bei dem alten Herrn aus Stratford-on-Avon geht alles auf, was man mit dem Stück anstellt. Vorausgesetzt man stellt etwas an – sonst kann es so langweilig werden wie die 19 Stunden bei Peter Stein. Unzählige Sichtweisen, unzählige Experimente sind möglich. Ein klassisches Stück, das zu den meistgespielten auf deutschen Bühnen gehört, wird entgegen der bei Gelegenheits-Theatergängern weit verbreiteten Auffassung durch Experimente nicht zerstört, sondern aufgewertet: Es zeigt sich dann, was alles in ihm steckt.

Beim Faust gibt es Schlüsselstellen, an denen sich entscheidet, ob eine Inszenierung im Gedächtnis bleibt oder nicht, und die Hinweise darauf geben, welche Philosophie der Regisseur dem Zuschauer vermitteln will. Erstens ist da, natürlich, die Frage nach dem „Gerichtet“ oder „Gerettet“. Erlöst der große Poker-Spieler, den die Christen als Gott verehren, das reuige Gretchen oder fährt das Mädel zur Hölle? Zweitens ist da die Verjüngungs-Szene – nie besser gesehen als einst am Deutschen Theater Berlin, wo Michael Thalheimer den hyperaktiven Ingo Hülsmann einen furiosen Galopp durch die Stile der Popmusik zurücklegen ließ, bis er bei den kreischenden Gitarrenriffs einer lebenshungrigen, nimmersatten, kiffenden Hardrock-Jugend anlangte. Drittens ist da die Interpretation des Gretchens – ist sie eher blonde blauäugige Germanen-Lolita oder aufmüpfige, selbstbewusste Freiheitskämpferin? Da ist vor allem Gretels „Neige, Du Schmerzensreiche“-Monolog: Nie ging er dem Rezensenten mehr unter die Haut als in Tom Kühnels / Robert Schusters ansonsten eher langweiliger Inszenierung am Schauspiel Frankfurt, als Ursina Lardi, barbusig, tief gefallen aus Liebe, wütend ihre Ansprüche bei der Heiligen Jungfrau anmeldete. „Jetzt bin ich mal dran“, schien die von Mutter aufs Nähen und vom Liebhaber aufs Konkubinen-Dasein reduzierte intelligente junge Frau zu schreien. Last, aber bei weitem not least ist da die Rolle des Mephisto: Mancher jeglichem Experiment abholder Kurz-vor-Hundertjährige hält heute noch Gustaf Gründgens (Hamburg 1957 / Düsseldorf 1960) für das Maß aller Dinge und will nicht begreifen, dass er längst schreiend weglaufen würde, müsste er heute noch einmal das Pathos der späten 1950er Jahre erdulden.

Düsseldorfer Schauspielhaus Spielzeit 2015 / 2016 Großes Haus Premiere: 19. Dezember 2015 FAUST I Eine Tragödie Von Johann Wolfgang von Goethe Faust: Stefan Hunstein Gretchen: Katharina Lütten Mephisto: Jakob Schneider Mephista / Marthe / u.a.: Karin Pfammatter Mephista / Hexe / Helena / u.a.: Katrin Hauptmann Mephisto / Valentin / u.a.: Thiemo Schwarz Wagner / u.a.: Konstantin Bühler Regie: Georg Schmiedleitner Bühne: Harald Thor Kostüme: Tina Kloempken Musik: Volker Zander v.l.n.r. Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider

Faust und Wagner diskutieren, die Mephistos schauen zu:
(v.l.n.r.) Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider; Foto © Sebastian Hoppe

Jetzt hat am Düsseldorfer Schauspielhaus einer den „Faust“ auf die Bühne gebracht, den man irgendwo zwischen oberem und mittlerem Drittel der Regie-Bundesliga verortete, mit vagen Chancen auf die Europaliga-Qualifikation: Georg Schmiedleitner. Quelle surprise: Mit kontrolliertem, intellektuell durchdachtem Spielaufbau, perfekten Kombinationen und überfallartigen Angriffen hat seine Inszenierung Potential fürs Champions League-Halbfinale. Gleich vier Mephistos hat er aufgeboten, dazu einen Faust, einen Wagner und ein Gretchen. Basta. Wagner spielt auch Valentin und Karin Pfammatter findet neben ihrem Mephisto noch Zeit für eine liebenswerte Karikatur der Frau Marthe: ein wenig schlampig, ziemlich materialistisch, wie eine alternde Friseuse aus Wanne-Eickel. Pfammatter agiert in ihrer Zweit-Rolle wie in Anführungszeichen, als wolle sie auch dem leisesten Verdacht des Chargierens entgehen. So wünschen wir uns Komödianten.

Wagner wird in Schmiedleitners Inszenierung ungeheuer aufgewertet. Oft wird der Assistent des hochmögenden Professor Faust als etwas tumber Tor, als kleiner Ehrgeizling ohne großes Potential veralbert. Konstantin Bühler ist in Düsseldorf ein veritabler Sparringspartner und Forscher-Kollege des Wissenschaftlers Faust. Ein Nerd, groß gewachsen, im sportlich-eleganten grauen Rolli, diskutiert er mit seinem Chef die grundlegenden philosophischen Fragen: Am Anfang war das Wort? Der Sinn? Die Kraft? – Faust will die Grenzen von Wissenschaft und Forschung sprengen, wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält und dies idealerweise auch noch beeinflussen. Wagner sieht, dass es dazu der Schaffung eines neuen Menschen bedarf. Mit biomedizinischen Methoden und chemischen Prozessen strebt er die Schaffung eines Übermenschen im Sinne von Nietzsche an: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.“ Wenn er seinen Doktorvater fragt: „Und was habt ihr getan, um ihn zu überwinden?“, ist er nicht unterwürfig wie in anderen Inszenierungen, sondern kritisch. Bühlers Wagner zeichnet echter Forschergeist aus, aber auch ein Hang zu Frankenstein. Und zwar ohne Rücksicht auf Kollateralschäden bei seinen menschlichen Versuchskaninchen.

So scheint sich Schmiedleitners Inszenierung mit zwei grauen, aber anspruchsvollen, in präziser Diktion miteinander diskutierenden Wissenschaftlern zu einem Forscher- und Gewissensdrama zu entwickeln. Doch Faust (Stefan Hunstein) ist ausgelaugt und dem Burnout nahe. Der endlosen Bahnen von Papier, die aus dem Drucker quellen, wird der erschöpft auf dem Boden sitzende Faust kaum noch Herr. Der Wissenschaftler hat sich nahezu autistisch in einen Bunker zurückgezogen, der an die architektonischen Beton-Ungeheuer von Le Corbusier erinnert und in dem Spuk und Teufelswerk nicht ausgeschlossen sind. Und so muss Stefan Hunstein denn schon mal zu einem Drink greifen – unauffällig stehen einige Flaschen in den schmalen Schächten des freudlosen grauen Verlieses herum. Darin verbirgt sich nicht nur harmloser Carlos Primero: Faust konsumiert Drogen – zur Bewusstseinserweiterung und zur Bekämpfung seiner Depression. Und schon setzt ein Grollen ein wie aus dem Inneren eines Schiffsbauchs, und die vier Mephistos tauchen auf. „Du nennst dich einen Teil und stehst doch ganz vor mir?“ Irrtum: Der Geist, der stets verneint, konfrontiert Faust diesmal selbviert, hineingeschneit durch eine überraschende Öffnung von Fausts Studierbunker, de facto aber wohl entsprungen seinem eigenen kranken Ich.

Düsseldorfer Schauspielhaus Spielzeit 2015 / 2016 Großes Haus Premiere: 19. Dezember 2015 FAUST I Eine Tragödie Von Johann Wolfgang von Goethe Faust: Stefan Hunstein Gretchen: Katharina Lütten Mephisto: Jakob Schneider Mephista / Marthe / u.a.: Karin Pfammatter Mephista / Hexe / Helena / u.a.: Katrin Hauptmann Mephisto / Valentin / u.a.: Thiemo Schwarz Wagner / u.a.: Konstantin Bühler Regie: Georg Schmiedleitner Bühne: Harald Thor Kostüme: Tina Kloempken Musik: Volker Zander v.l.n.r. Katrin Hauptmann, Thiemo Schwarz, Stefan Hunstein, Jakob Schneider, Karin Pfammatter

Liegt denn ein Sinn darin …?
Faust (stehend) Stefan Hunstein, bedrängt von den Ausgeburten der Hölle (v.l.n.r.) Katrin Hauptmann, Thiemo Schwarz, Jakob Schneider und Karin Pfammatter; Foto © Sebastian Hoppe

Mit dieser Droge benötigen weder Faust noch die Inszenierung einen Verjüngungstrunk. Dieser Mephisto Selbviert ist der Hit des Abends. Zu einem luziden, eher als Blödel-Reim gedachten, aber bei näherer Betrachtung unheimlichen, spukhaften Limerick von Edward Lear tanzen Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider und Thiemo Schwarz einen verschwörerischen Hexentanz. Bühnenbildner Harald Thors Corbusiersche Studierhölle verwandelt sich in den Hexentanzplatz aus Shakespeares Macbeth; das Forscher- und Gewissensdrama wird zur Spuk- und Geistergeschichte. Die Mephistos – die Frauen sind verführerische erotische Drohungen und die Herren rohe Rocker-Gesellen – verschwinden mittels Drehbühne wieder und wieder durch breite Katzenklappen in den Verlieswänden und tauchen wieder auf, als seien sie durch die Betonwände gedrungen oder vom Schnürboden gefallen. Mal wirken sie wie Fratzen aus der Geisterbahn, mal wie bedrohliche Unterweltgesellen, doch immer verfügen sie über eine okkultistische Verführungskraft.

Die Bühne selbst und deren Wände werden zu im wahrsten Sinne des Wortes phantastischen Projektionsflächen, auf denen mal der Schnee auf(!)steigt, mal Homunculus und mal ein Gretchenbild auftaucht. Auch in diesem Gretchen steckt die Kraft der vier Teufel. Fausts Geschenk an sie, das goldene Geschmeide, ist eine lange schwarze Teufelskette, eine Leine für den Höllenhund. Gretchen hat nicht mehr die Deutungshoheit über ihre Worte und Gesänge; die Mephistos sprechen Teile von Gretchens Text mit und verwandeln ihr Thule-Lied in einen grauslich-schönen, geheimnisvollen Geistergesang. Wie fremdgesteuert wirkt Katharina Lüttens Gretchen zu Beginn – doch als Faust ihren Bruder erstochen hat, der Fausts Delikt der Verführung Minderjähriger aufzudecken droht, erwacht eine ausgesprochen heutige junge Frau. Lüttens Gretchen ist ein einfaches, ein eher schlichtes Leben führendes Mädchen von großer Integrität, in ihrem ganzen Denken, mit ihrer ganzen intellektuellen und emotionalen Ausstattung der krasse Gegensatz zum vergeistigten, aber moralisch verdorbenen Wissenschaftler und Suchtkranken Faust. Unmittelbar geht ihr erschütterndes, verzweifeltes Weinen und Klagen beim Todeskampf ihres Bruders in den „Neige, Du Schmerzensreiche“-Monolog über. Am Ende sitzt Grete in ihrem Kerker, wie sich das bei Goethe gehört. Und wir warten: Ist sie gerichtet nur, oder gerettet? Nun, nichts dergleichen. Ganz in Purpurrot gekleidet, erscheinen die vier Mephistos wieder. Sie nehmen Faust mit in ihr Reich, das die Hölle sein mag oder die Weltherrschaft, wer weiß das schon. Ist Faust diesen Teufeln ausgeliefert oder macht er nun endgültig gemeinsame Sache mit ihnen? Wie auch immer: die er rief, die Geister, wird er nun nicht los.

Düsseldorfer Schauspielhaus Spielzeit 2015 / 2016 Großes Haus Premiere: 19. Dezember 2015 FAUST I Eine Tragödie Von Johann Wolfgang von Goethe Faust: Stefan Hunstein Gretchen: Katharina Lütten Mephisto: Jakob Schneider Mephista / Marthe / u.a.: Karin Pfammatter Mephista / Hexe / Helena / u.a.: Katrin Hauptmann Mephisto / Valentin / u.a.: Thiemo Schwarz Wagner / u.a.: Konstantin Bühler Regie: Georg Schmiedleitner Bühne: Harald Thor Kostüme: Tina Kloempken Musik: Volker Zander v.l.n.r. Katharina Lütten, Stefan Hunstein

Ihre Ruh ist hin:
Katharina Lütten und Stefan Hunstein als Gretchen und Faust; Foto © Sebastian Hoppe

Regie und Dramaturgie haben bei einer Gesamtdauer der Aufführung von einer Stunde 50 Minuten mehr Text gestrichen als belassen, und natürlich haben sie sich von zahlreichen Gedankensträngen und Problemstellungen des Stückes verabschiedet. Aber sie haben einen hochinteressanten, fokussierten Blick auf das Stück geworfen und eine überzeugende Interpretation abgeliefert. Faust-Debütanten mögen es etwas schwer haben, die Geschichte von Anfang an zu durchschauen, werden sich aber dennoch an den überragenden schauspielerischen Leistungen und dem atmosphärisch stimmigen, mal düsteren und leisen, mal rockig aufdrehenden Soundtrack von Volker Zander erfreuen. Das Gesamtkunstwerk wird zum bisherigen Saison-Höhepunkt am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Weitere Aufführungen am 29. und 30. Januar sowie am 2., 4., 5., 7., 18., 19. und 21. Februar 2016 , Düsseldorfer Schauspielhaus, Grosse Bühne im CENTRAL

 

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