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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Literarischer Herbst 2015 – ein Rückblick

Literaturpreis „Stadtschreiber von Bergen“ an Ruth Schweikert
Robert Gernhardt-Preis an Gila Lustiger und Annika Scheffel
Klaus Modick erhält Rheingau Literatur-Preis

Von Renate Feyerbacher

Wechsel im Stadtschreiberhaus Bergen

Der literarische Herbst begann im ausklingenden August 2015: die scheidende Stadtschreiberin Dea Loher, mehrfach preisgekrönte Dramatikerin, übergab im Festzelt den Schlüssel des Stadtschreiberhauses von Bergen an die Schweizerin Ruth Schweikert. Zuvor hatten sich am Nachmittag beide zum traditionellen Kaffeeklatsch mit dem köstlichen Pflaumenkuchen am Stadtschreiberhaus eingefunden. Ruth Schweikert schraubte unter Aufsicht des 80jährigen Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel, Stadtschreiber 1981/1982, Adrienne Schneider, Mitglied der Jury des Stadtschreiber-Preises, und Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese ihr Schild ans Häuschen. Auch der Schweizer Schriftsteller Peter Weber, Stadtschreiber 2004/2005, hatte sich eingefunden. Nun sind es ihrer drei Schweizer auf der Stadtschreiber-Liste seit 1974.

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Ruth Schweikert, Peter Bichsel, Adrienne Schneider und Renate Müller-Friese

In ihrer Abschiedssrede berichtete Dea Loher, die deutsche Försterstochter, Schülerin von Heiner Müller, die nicht oft im Bergener Stastschreiberhaus gewesen war, von „Forschungsergebnissen“: vom Auffinden der Molly Schneider geborene Bowman. Zu Zeiten Virginia Woolfs soll diese England verlassen haben und nach Bergen gezogen sein. In ihrer Antrittsrede hatte Dea Loher die Bergen-Enkheimer zur Mitsuche aufgerufen. Eine kuriose Story.

Dea Loher, 1964 geboren, zählt zu den bedeutendsten Dramatikerinnen, schreibt aber auch Prosa. 1992, 28jährig, feierte sie mit ihren Stücken „Olgas Raum“ und „Tätowierung“, ihr meistgespieltes Stück, erste Erfolge – und die halten an mit „Unschuld“ (2003), „Diebe“ (2010), „Am schwarzen See“ (2012) und „Gaunerstück“ (Uraufführung Januar 2015 in Berlin), das auch schon als Gastspiel in Frankfurt am Main zu sehen war. Mit vielen Preisen wurde sie ausgezeichnet. Uwe Wittstock, lange Jahre Literaturredakteur bei der FAZ und heute beim Focus, sagte in seiner Laudatio zur Verleihung des Bertolt Brecht-Preises 2006 in Augsburg: „Dea Lohers Witz ist ein zorniger, ein grimmiger Witz, der nicht versöhnt mit der Welt, wie sie ist, der dieser Welt aber zumindest einen kurzen Augenblick des Lachens und der Lust abgewinnt – und uns also eine sekundenlange Erinnerung verschafft daran, wie die Welt sein sollte.“

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Dea Loher und Karlheinz Braun, Initiator und Mitbegründer des Verlags der Autoren, vor dem Stadtschreiberhaus

Die in Zürich wohnende Ruth Schweikert, Mutter von fünf Söhnen, verknüpfte in ihrer Antrittsrede die Umstände ihrer unehelichen Geburt, damals noch ein gesellschaftlicher Makel, im deutschen Lörrach mit der Flüchtlingssituation. Sie erzählte von ihrer Mutter, die eine „Grenzgängerin“ war, und von den Gastarbeiterkindern in der Schweiz. „Als ich am 15. Juli 1964 in Lörrach als Kind einer deutschen Mutter zur Welt kam, war ich Bürgerin der BRD; als meine Eltern fünf Monate später in Basel heirateten – mein Vater ist Schweizer – machte das geltende Recht aus dem unehelich geborenen deutschen Mädchen flugs ein (nachträglich auch noch für ehelich erklärtes) Schweizer Meitli, Namensänderung inbegriffen, aus Ruth Schneider wurde Ruth Schweikert. Das Meitli hatte dabei, wie weltweit alle kleinen Kinder in ähnlicher Situation, keine Wahl und auch kein Verdienst an seiner neuen Staatsbürgerschaft“ (aus der Antrittsrede).

Schweikert begann mit Max Frischs Satz, den er 1965 prägte: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen.“ Gerne würde sie ihr Stadtschreiberhaus Flüchtlingen überlassen. Aber da das wohl nicht zu realisieren sei, denkt sie an „Freitagsessen“ als ständige Einrichtung: „Die Freitagsessen zumindest möchte ich einführen, wann immer ich hier bin, und ich würde mich freuen, wenn die eine oder der andere meine Einladung annimmt, auch und gerade dann, wenn Sie soeben den Kopf geschüttelt haben oder gar, wie ich, daran zweifeln, ob jene Steuergelder, die für den Stadtschreiberpreis eingesetzt werden, nicht besser ein paar Flüchtlingen zugute kämen“ (aus der Antrittsrede).

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Ruth Schweikert montiert ihr Namensschild ans Stadtschreiberhaus

Ruth Schweikert, die bereits 1994 beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb das Bertelsmann-Stipendium gewann, erhielt soeben für ihren neuen Roman „Wie wir älter werden“, ein Rechenschaftsbericht einer Generation, den Schweizer Literaturpreis. Die Geschichten zweier Familien, durchsetzt mit historischen Ereignissen, hat jedoch eine kontroverse Aufnahme bei den Literatur-Kritikern gefunden.

Robert Gernhardt-Preis

Knapp drei Wochen später, Mitte September 2015, wurde in der Naxoshalle in Frankfurt der Robert Gernhardt-Preis verliehen. Gila Lustiger, die renommierte Schriftstellerin, erhielt die Auszeichnung für das Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Die Entronnenen“ und die „Newcomerin“ Annika Scheffel für das Romanprojekt „Hier ist es schön“. Die beiden Autorinnen hatten sich gegen 49 Kandidaten durchgesetzt. Ein Preisgeld von 12.000 Euro erhielt jede.

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Annika Scheffel und Gila Lustiger

In ihrer Rede erzählt Gila Lustiger, Tochter des Historikers Arno Lustiger, wie sie zu der Thematik kam: Arno Lustiger, aus einer jüdischen Familie, die auseinandergerissen und in Konzentrationslager verschleppt wurde, konnte auf einem der Todesmärsche fliehen und wurde von amerikanischen Soldaten gerettet.

Tochter Gila, 1963 geboren, erfuhr im International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen, der Millionen Dokumente über NS-Verfolgte und befreite Überlebende archiviert hat, von den Greueln, die ihr Vater und seine Familie erleiden mussten. Sie findet das Formular, das ihr Vater im Lager Displaced People in Frankfurt-Zeilsheim hatte ausfüllen müssen, und liest, dass der 21jährige wieder als Schüler begann. Sie fragt sich: „Wie kam es, dass so einer, der in den Lagern und auf den Todesmärschen schreckliche Agonien hatte durchleiden und miterleben müssen, nach der Befreiung wieder die Kraft fand, dort anzusetzen, wo sein Leben noch nicht aus den Fugen geraten war? Schüler vor dem Krieg. Schüler danach.“

Gila Lustigers Buch wird vom Lebensmut, vom Neubeginn der Menschen, die überlebten, sie nennen sich „Rest der Geretteten“, berichten. „Ich lernte, dass man, wenn man nichts mehr hat, mit dem Lebenswichtigsten beginnt. Hass und Rache gehören nicht dazu. Liebe gehört dazu. Das erste eigene Bett. Der erste Mantel. Das erste Brot. Familie gehört dazu … Wenn man einen fand, der einem gefiel, dann heiratete man und machte Kinder“ (aus ihrer Rede).

Die 32jährige Annika Scheffel, die in Berlin wohnt, beschäftigt sich in ihrem noch in Arbeit befindlichen Buch „Hier ist es schön“ mit einer düsteren Zukunftsvision. Es geht um das reale Mars-One Projekt, bei dem freiwillige Teilnehmer ohne Wiederkehr auf den Mars geschickt werden sollen, um dort eine neue Gesellschaft aufzubauen. In einem filmischen Beitrag, der im Internet zu sehen ist, glüht ein Familienvater geradezu danach, einer der Auserwählten zu sein. Die Ehefrau ist sprachlos. Viele haben sich beworben, darunter ein Student aus Darmstadt. Raumfahrtexperten haben berechtigte Zweifel, ob das Vorhaben gelingen kann. Johann-Dietrich Wörner, einst Präsident der Technischen Universität Darmstadt, heute Direktor der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, hält das Projekt, Menschen auf Gedeih und Verderb auf dem Mars auszusetzen, für unethisch und nicht akzeptabel.

Man darf auf den Science Fiction-Roman von Annika Scheffel gespannt sein, dessen leichthändige, poetische Sprache die Jury lobte.

Rheingau Literatur-Preis an Klaus Modick

Für seinen Künstlerroman „Konzert ohne Dichter“ erhielt Klaus Modick Ende September 2015 den 22. Rheingauer Literatur-Preis. Er wurde im Rahmen des Rheingau Literatur-Festivals auf Burg Schwarzenstein in Geisenheim-Johannisberg feierlich verliehen. Ausser 11.111 Euro konnte der Schriftsteller 111 Flaschen besten Rheingauer Weins mit in seine Geburtsstadt Oldenburg nehmen, wo er nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Dozenturen heute wieder lebt.

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Klaus Modick mit den 111 Weinflaschen

Der Roman spielt in der Künstlerkolonie Worpswede. Jugendstilmaler Heinrich Vogeler (1872-1942) und Lyriker Rainer Maria Rilke (1875-1926) sind die gegensätzlichen Protagonisten. Modick hat sich Vogelers Gemälde „Das Konzert“ (auch genannt „Sommerabend“) genau angesehen und es zum Leben erweckt beziehungsweise sich auf die Leerstelle, auf den leeren Stuhl konzentriert, auf dem Rainer Maria Rilke sitzen sollte. Fünf Jahre hatte Vogeler an dem Bild gearbeitet, für das er ausgezeichnet wurde. Die Menschen sehen nicht zufrieden aus.

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Heinrich Vogeler (1872-1942), Sommerabend, 1905, Bildnachweis: wikimedia commons / athenaeum.org

Die Personen auf diesem Gemälde sind: Vogeler, das Cello, sein Bruder die Geige und sein Schwager die Flöte spielend, auf der anderen Seite Paula Modersohn-Becker, Agnes Wulff, Freundin der Hausherrin Vogeler, Clara Rilke-Westhoff, stehend Otto Modersohn und am Treppenaufgang Martha Vogeler. Es fehlt Rilke, der die Künstlerkolonie besuchte, um mit dem Maler Vogeler einen Gedichtband fertigzustellen. Er fand Resonanz bei den dort Lebenden und zog ins Dorf, verliebte sich in die Malerin Paula Becker und die Bildhauerin Clara Westhoff, Dreiecksbeziehung. „Ein rätselhaftes, frühreifes Genie, unter dessen Worten und Blicken die Frauen schmolzen.“ 1901 heiratet er Clara Westhoff. Noch im selben Jahr wird Tochter Ruth geboren. Aber bereits kurze Zeit später verlässt Rilke das gemeinsame Haus und geht nach Paris, um über den französischen Bildhauer Auguste Rodin eine Monographie zu schreiben. Seine Frau Clara Westhoff folgt ihm und lässt Tochter Ruth bei den Großeltern zurück. Die Ehe scheitert, aber beide bleiben lebenslang verbunden. Auch die Freundschaft zwischen Vogeler und Rilke zerbricht. Geld, Liebe, Konkurrenzdenken beherrschen das Klima in Worpswede.

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Klaus Modick beim Signieren des Bestsellers

Darüber erzählt Klaus Modick, erinnert an den Beginn der Freundschaft, an die Trennung und fragt, welchen Anteil die Frauen an ihrem Zerbrechen hatten. Brilliant und manchmal witzig hat sich Modick den beiden Künstlern genähert und geht dem Klischee Worpswede nicht auf den Leim. „Es bedeutete, dass die Dichter das Sagen hatten, die Maler das Zeigen, und den Frauen blieb das Sein. Insbesondere das Da-Sein, das ständige Bereit-Sein für die Dichter und Maler. Rilke brauchte die Frauen. Aber im Grunde liebte er sie nicht. Clara fügte und beugte sich“ (aus: „Konzert ohne Dichter“, S. 29). Wertschätzung äussert er für die Malerin Paula Modersohn-Becker, deren Werke er für das Beste und Kühnste aus Worpswede hält. Ein Roman, der Kunstgeschichte lebendig werden lässt.

Am 20. Januar 2015, 20 Uhr, liest Klaus Modick in der Stadtbücherei Bad Vilbel.

Fotos (soweit nicht anders angegeben): Renate Feyerbacher

 

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