Kultur und Kulturrelikt in globalisierter Welt
Das Missverständnis vom Kampf der Kulturen
Ein Essay von Gunnar Schanno
Um es gelassen vorweg zu sagen: Es gibt keinen Kampf der Kulturen (begrifflich seit Samuel Huntington, 1996), es gibt nur Kampf der Erkenntnis gegen die Erkenntnisverweigerung! Die Frankfurter Metropolregion rühmt sich zu Recht, einen kleinen Kosmos der Internationalität gebildet zu haben und spricht denn auch zugleich von multikultureller Vielfalt. Erreicht aber Internationalität auch die Tiefe dessen, was dann Multikulturalität genannt werden kann?
Internationalität aus zivilisatorischer und Multikulturalität aus kultureller Richtung stehen im Sog der Globalisierung. Letztere ist zum Leitbegriff geworden für das beginnende 21. Jahrhundert. Es ist ein Begriff, der seine Stoßrichtung von der Zivilisation her nimmt. Globalisierung bestimmt in Strukturen schaffender Weise unser tägliches Leben, erfasst die soziale und politische Welt, ergreift die ökonomischen Verhältnisse mit besonderer Dynamik. Globalisierung hat sich aus Entwicklung und elektronisch basierter Dynamik dessen herauskristallisiert, was als Fortschritt bezeichnet wird.
In der Globalisierung spiegelt sich der Zustand der modernen, technologisch getriebenen, Grenzen sprengenden Massengesellschaften wider. Inzwischen ist Globalisierung der Megabegriff. Schließlich waren es die funktionalen, utilitären Prozesse, aus denen heraus Globalisierung als transnationales geradezu sich selbst generierendes Netzwerk entstand. Der Begriff hat Karriere gemacht im Gebrauchsarsenal unserer Sprache – erstmals als Begriff in Umlauf gesetzt 1983 seit Theodore Levitts Artikel über die Globalisierung der Märkte in der Harvard Business Review.
Der Rückblick des 19. Jahrhunderts darauf, wie der Mensch in der Kopernikanischen Wende das Ende seines mittelalterlichen Weltbildes erfuhr: Camille Flammarion, Holzstich aus „L’Atmosphère: Météorologie Populaire“, Paris, 1888, S. 163; The Henry Clay Cochrane Collection (Coll/1) at the Marine Corps Archives and Special Collections; Bildnachweis: USMC Archives from Quantico, USA/wikimedia commons CC
Kann aber Kultur globalisiert werden? Verändert sie ihren Charakter in Zeiten globalisierter Dynamik? Wird Kultur in der Dynamik global-zivilisatorischer Prozesse nivelliert zum globalen Einerlei? Nein! Kultur bleibt Kultur, wenn sie Panphänomen des Empfindens, des Gestaltens, des Transzendierens und in andernorts besagter Weise emotional durchdrungene Lebenswelt darstellt.
Wenn sich Stadt und Bürger von Frankfurt entschieden, zivilisatorischer Ratio und reiner Zweckmäßigkeit dienende moderne (freilich nach heutiger Sicht suboptimal gewordene) Baulichkeiten im Herzen der Stadt zu ersetzen durch auch Emotion ansprechende fachwerklich-retrofakte Architekturen, wenn sie ein Beispiel gaben, nicht zivilisatorisch Modernem, sondern dem Historisierenden den Vorzug gegeben zu haben, dann ist hier auch eine Entscheidung pro Kultur getroffen worden. Nicht minder, als eine Alte Oper nicht dem Erdboden gleich gemacht wurde, sondern baulich-kultureller Juwel der Stadt bleiben konnte. Das ist aber nicht zuletzt Ausdruck einer zivilisatorisch erreichten Erkenntnishöhe: Pro individualisiertem Erscheinungsbild im stadtgeschichtlich verorteten Zusammenhang und kontra globalisierter Form, die allein einer alles verähnelnden Funktionalität folgt.
Wenn wir sagten, dass die Kultur in Kunst und Religion ihre wesentlichsten Ausprägungen zeitigt, dass Tradition und Traditionserhalt gewissermaßen sinnlich geprägtes Weltverständnis zu verewigen sucht, dann steht die Frage vom Verhältnis der Kultur zur jeweiligen zivilisatorisch erreichten Erkenntnishöhe im Raum. Aber gerade im kulturell bestimmten Traditionsbereich, in dem auch Sitten und Gebräuche ihren archaisierenden Ausdruck finden: Kann da Kultur herhalten für „unzivilisiertes“ aufklärungsresistentes Verhalten? Wo endet kultureller Anspruch? Wie aber kann der Kultur in globalisierter Zeit ihre Eigenständigkeit, Abgrenzbarkeit erhalten bleiben?
Kulturell tradierte Lebens-, Kunst-, Glaubensformen sind individuell. Darin kann Kultur nicht gegen Kultur antreten. Das Kulturelle ist phänomenal verselbstständigte Weltsicht in unendlicher, weil subjektiv-individueller Vielfalt. Das Zivilisatorische ist intersubjektiv, regelhaft, strukturell auf gemeinsam erkannte Standards zustrebend. Da ist kein Meinen und kein Deuten. Als Synthese finden wissenschaftliche Ergebnisse in all ihrer umfassenden Durchdringung anthropologischer Konstanten und Varianten ihren Niederschlag im gemeinsamen Erkenntnisstand. In seiner Umsetzung schlägt er sich nieder in juridischen Werken von Verfassungen bis in die Universalität von Konventionen und Chartern internationaler Organisationen, auf die sich die Staatenwelt geeinigt hat.
Für Deutschland – loben wir heraus: gerade auch für Frankfurt – lässt sich zugestehen, dass sich eine Vielfalt von Kulturen in Gleichklang zeigt mit zivilisatorisch erreichter Erkenntnishöhe. Bleiben wir im Bereich religiöser oder volkstumhaft geprägter Traditionsformen, so stehen diese in Kompatibilität zu menschen- wie tierrechtlichen Standards. Denn wer physische und psychische Integrität des Menschen verletzt, wer Leidvermehrung für Tiere als Tradition zu rechtfertigen sucht, kann sich nicht auf kulturell-begründetes Selbstbestimmungsrecht berufen. An diesem Punkt wird Kultur zum Kulturrelikt. Vielleicht war es eine farbenfroh erregende, vielleicht gar den Kampf mit Tier und Natur, womöglich familiale Ehre und priorisierte Männlichkeit hochstilisierende Tradition der Väter, der nun im Lichte der Erkenntnis die Söhne abschwören müssen.
Nikolaus Kopernikus, Seite aus dem Manuskript von „De revolutionibus orbium coelestium“, 1520-1541, Tinte auf Papier, 28 x 19 cm, Jagiellonian Bücherei, Krakau, Bildnachweis: www.bj.uj.edu.pl/wikimedia commons
Eine alte philosophische Weisheit sagt, dass, was einmal erkannt wurde, nicht mehr ins Dunkel des Unerkannten zurückgestoßen werden kann. Kultur und Tradition stehen unter Obhut und Bedingtheit der Erkenntnis. Die Erkenntnishöhe vom Kopernikanischen Weltbild bis zur Relativitätstheorie, von der Psychoanalyse bis zur Pädagogik der Neuzeit ist nicht erreicht als Ergebnis eines eurozentristischen Anspruchs, sondern Folge geographisch-gesellschaftlich optimaler Bedingungen, unter denen Erkenntnisgrade in universeller Dimension erreicht wurden. Menschenrechte sind nicht generiert aus Gutmenschlichkeit, sondern aus der goldenen Regel, dass der Mensch anderen nicht zufügen soll, was man an sich selbst nicht zugefügt haben will. Demokratisches Prinzip ist nicht nur politisch, sondern folgt auch anthropologisch hergeleiteter Konsequenz aus erkannter Grundsätzlichkeit der Gleichheit aller Menschen, auf welchem Kontinent auch immer.
Zu den Denkprinzipien gehört, dass Erkanntes seine Verbindlichkeit nicht verliert, wenn dem Erkannten ein Danach-Handeln verweigert wird. In diesem Sinne geschieht Konflikthaftes im multikulturellen Kontext nicht als „Clash“ oder als Folge von Unterschiedlichkeiten zwischen den Kulturen, sondern als Folge von Defiziten im Erkenntnisprozess bis hin zur Erkenntnisverweigerung im innerkulturellen Kosmos einer Ethnie oder Glaubensgemeinschaft. Ein weites Feld von Gründen der Verweigerung und konsequenter Entgegnungen darauf öffnet sich. Und dies wohlgemerkt auf erreichter Erkenntnishöhe nach der Zweijahrtausendwende!
→ Kultur als Leitkultur – ein Missverständnis
→ Kultur und Heimat. Anmerkungen zur Heimat als Kulturbegriff in Zeiten der Migration
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