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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Patentöchter“ am Stadttheater Gießen

Eine Reflexion über Schuld und Verantwortung am Beispiel des RAF-Mordes an Jürgen Ponto

Von Dietmar Zimmermann

Furchtbar banale Sätze sind es manchmal, die sich in das kollektive Gedächtnis einer Generation eingraben. Denn furchtbar banale Sätze haben manchmal furchtbare Konsequenzen. „Hier ist die Susanne“ ist solch ein Satz, der bei der Generation Ü60 noch heute ein Unwohlsein, wenn nicht gar Anflüge von Panik hervorruft. „Hier ist die Susanne“, hatte die RAF-Terroristin Susanne Albrecht am 30. Juli 1977 durch die Sprechanlage gerufen, und prompt öffneten sich die Türen zur Villa von Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank und Patenonkel ihrer Schwester. Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar ziehen ihre Waffen und eröffnen das Feuer. Sekunden später ist Ponto tot. Albrechts Satz aber wird zur Metapher für einen erschütternden Anschlag auf Vertrauen, Moral und Anstand.

Im Spotlight, mitten auf der Spielfläche der taT-Studiobühne des Theaters Gießen liegt ein Blumengebinde. Ein Rosenstrauß, ähnlich demjenigen, hinter dem die Terroristen ihre wahren Absichten verbargen. Vielleicht aber auch schon ein Gebinde für Jürgen Pontos Trauerfeier. „Für die RAF war er das System, für mich war er der Vater“, hören wir Petra Soltau als Corinna Ponto sagen. Corinna ist die Tochter des Mordopfers, und auch sie war eine Patentochter, nämlich die von Susanne Albrechts Vater Hans-Christian. Zwanzig Jahre alt war sie, als ihr Vater den Terroristen zum Opfer fiel; Julia Albrecht, Jürgen Pontos Patentochter, war dreizehn. Ihre Lieblingsschwester hatte den Mördern den Zugang zum Haus verschafft, aber Julia war sich sicher: „Die Susi hat nicht geschossen!“ Recht hatte sie, doch wie skrupellos Susanne den Lockvogel gespielt hat, welcher Gehirnwäsche sie aber auch von ihren Terror-Compañeros unterzogen worden war, lässt sich den Gerichtsprotokollen entnehmen.

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(von links) Petra Soltau (Corinna Ponto), Carolin Weber (Julia Albrecht), Foto © Katrina Friese

Die Albrechts und die Pontos waren ziemlich beste Freunde. Nach dem Attentat war das Band zwischen den Familien zerschnitten. Bei Albrechts hat jedes einzelne Familienmitglied den Fall individuell verarbeitet. Eine gemeinsame Trauerbewältigung scheint es nicht gegeben zu haben, wie der Film „Die Folgen der Tat“ nahelegt, den Julia Albrecht 38 Jahre nach der Tat drehte und der in der Nacht der Gießener „Patentöchter“-Premiere im WDR-Fernsehen gezeigt wurde. Der Fall ihrer Schwester beschäftigte Julia ein Leben lang. Um einer Traumatisierung zu entgehen, befasste sie sich mit den Auswirkungen der Tat auf die Angehörigen – auf die Angehörigen der Mordbeteiligten ebenso wie auf die Angehörigen des Opfers. Dreißig Jahre nach dem Mord nahm sie Kontakt auf zu Corinna Ponto, der anderen Patentochter. Und siehe da: Langsam wuchs wieder Vertrauen. Gemeinsam schrieben beide Frauen ein Buch. Dessen Text, so heißt es zu recht auf dem Programmzettel des Theaters Gießen, ist „ein Ringen um Verständnis einer für beide unfassbaren Tat“ und „eine Reflexion über Schuld und Verantwortung“.

Christian Lugerth hat den zwar sachlichen, aber emotional aufwühlenden Text am Theater Gießen unter weitgehender Vermeidung von Emotionen auf die Bühne gebracht. Fakten und Worte sollten für sich sprechen, betont der Dramaturg Gerd Muszynski; ursprünglich war sogar vorgesehen, den Text nur als szenische Lesung zu präsentieren. Tatsächlich wird zu Beginn viel gelesen; weit voneinander entfernt sitzen die beiden Darstellerinnen auf der Spielfläche, fast in die Wand gedrückt links Carolin Weber als Julia und rechts, noch mit erheblicher Distanz zum Gegenüber, Petra Soltau als Corinna. Später werden sie gemeinsam an einem Tisch sitzen und die Köpfe über alten Familienbildern und -dokumenten zusammenstecken. So erhält die Überwindung der Distanz zwischen beiden Frauen im Theater ihre optische Entsprechung. Ansonsten wird die Interaktion zwischen den Darstellerinnen extrem reduziert, so wie sich ja auch in der Buch-Vorlage keine gemeinsamen Kapitel, sondern abwechselnd Berichte aus der Sicht von Albrecht und aus der Sicht von Ponto finden. Dennoch vermag der Abend nach etwas schwerfälligem Beginn mehr und mehr zu fesseln, denn er offenbart beklemmende Einblicke in die Seelen der Angehörigen von Tätern und Opfern.

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Aufeinander zugehend (v. li.): Carolin Weber (Julia Albrecht) und Petra Soltau (Corinna Ponto), Foto © Katrina Friese

Wie in Stein gemeißelt wirken manche Sätze, die die Schwierigkeiten der Angehörigen bei der Verarbeitung des Geschehens zusammenfassen: „Zu Hause gab es nicht mehr. Ich kehrte zurück an den Ort eines Verbrechens“, sagt Ponto. Oder: „Ex-Terroristen“ sagt man heute. Ex-Opfer gibt es nicht.“ Julia Albrecht begegnet dem Foto ihrer Schwester auf den Fahndungsplakaten, die an jeder Straßenecke hängen: „Susanne war immer schon vor mir da.“ Im Bekanntenkreis, in der Schule und in viel zu großem Umfang wohl auch zu Hause wird sie allein gelassen mit ihrer Verlorenheit, ihren irrationalen Gefühlen von Mitschuld und Mitverantwortung. Sie muss lernen loszulassen – auch nach der Inhaftierung der Schwester, die große Distanz zur Familie wahrt. Es ist berührend zu sehen, wie Julia Albrecht nach nachvollziehbaren Motiven für die Beteiligung ihrer Schwester an weiteren Anschlägen sucht, erschreckend, wie sie leidet, weil Susanne sie während der langen Jahre ihres Untertauchens vollkommen vergessen hat. Hans-Christian Albrecht hat sich bis zu seinem Tode mit dem Wunsch nach Versöhnung mit Susanne und mit der Familie seines ermordeten Freundes gequält: Erschütternd ist es, in der Gießener Aufführung die nicht abgeschickten Briefe zu sehen und zu hören, die Hans-Christian Albrecht an seine Tochter und – erst nach dessen Tod – an seinen ehemaligen Freund Jürgen Ponto entwarf. Und es ist eine Ironie des Schicksals, dass das erste Wiedersehen zwischen Corinna Ponto und Julia Albrecht ausgerechnet an dem Tag eines Deutschland-Besuchs von Condolezza Rice stattfand. Die interfamiliäre Wiedervereinigung wurde also quasi von großem Polizeieinsatz begleitet.

So karg die szenische Einrichtung des Textes auch sein mag, so setzt die Aufführung doch eine Reihe von optischen Akzenten. Wir sehen Fotos und kleine Filme aus der Zeit des Attentats, hören einen Original-Tagesschau-Text von Karl-Heinz Köpcke, lesen Ausschnitte aus dem Bekennerschreiben der RAF oder aus Hans-Christian Albrechts Briefen. Und es gibt Bilder von der Familie Ponto beim Trauergottesdienst und von dem gleichzeitig im Garten ihres Hauses explodierenden Sprengsatz. Was für zynische Signale die Terroristen damals gesetzt haben, ist heute fast vergessen.

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Gemeinsame Aufarbeitung (v.li.): Petra Soltau (Corinna Ponto), Carolin Weber (Julia Albrecht); Foto © Katrina Friese

Diffus bleibt (wie in der Realität), inwieweit sich die heute unter anderem Namen in Norddeutschland lebende und in die Gesellschaft reintegrierte Susanne Albrecht auch innerlich von ihrer Tat distanziert hat. Einer harten Abrechnung mit ihren Komplizen steht erkennbares Lavieren um das Eingeständnis der eigenen Verantwortung entgegen. Noch lange schmecken wir dem Satz nach, der auch die Überschrift eines der letzten Kapitel der Gießener Aufführung ist: „Das Ergebnis kritisiert uns“, heißt es in der Auflösungserklärung der RAF aus dem Jahre 1998. Distanzierung klingt anders.

Corinna Ponto ist Opernsängerin geworden. Kurz wird einmal die Arie der Marie aus Smetanas „Die verkaufte Braut“ angespielt, die sie zum Zeitpunkt der Festnahme von Susanne Albrecht am Landestheater Dessau probte. „Endlich allein … allein mit meinem Grame …“ Nachdem sie und Julia Albrecht aufeinander zugegangen sind, kann die Schmerzbewältigung gemeinsam zwischen den Familien erfolgen. Geteilter Gram führt zur Versöhnung: Auch die Mutter von Julia und Susanne Albrecht und die Witwe von Jürgen Ponto haben seitdem wieder einen zaghaften Kontakt.

Nächste Aufführungen am Stadttheater Gießen – taT-studiobühne – am 11. Dezember 2015 sowie am 24. Januar und 11. Februar 2016, jeweils 20 Uhr; am 24. Januar 2016 anschliessend „Nachgefragt“

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