home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Qualitätskontrolle“ von Rimini Protokoll im Mousonturm Frankfurt

Kopfüber ins Nichtschwimmerbecken
Rimini Protokolls „Qualitätskontrolle“ gastiert im Dezember 2015 im Mousonturm

Von Dietmar Zimmermann

Die Bühne deutet die Architektur eines Swimmingpools an. Die heute 40jährige Maria-Cristina Hallwachs hatte gerade ihr Abitur gemacht, als sie zu Pfingsten 1993 voller Lebenslust kopfüber in den Pool sprang. Leider an der falschen Seite. Im Kinderbecken betrug die Wassertiefe 50 Zentimeter.

„Heute fangen wir mit dem Ende an“, sagt Maria-Cristina Hallwachs: „Mit dem Tod.“ Der sei unspektakulär: „Kein Königinnenmord, nicht triumphal, nicht hässlich. Einfach ein Resultat.“ Und immer präsent: 22 Jahre nach dem Unglück wird Maria-Cristina Hallwachs immer noch künstlich beatmet; sie ist vom Kopf abwärts querschnittsgelähmt und niemals allein. 24 Stunden lang ist ein Pfleger oder eine Pflegerin um sie herum. In Frankfurt werden Sie am 5. und 6. Dezember Timea Mihályi sehen, die ihr Temperament nur mühsam zügeln kann. Sie steht gemeinsam mit ihrer Patientin in einem der wichtigsten, aber auch der emotional berührendsten Theaterabende der letzten Jahre auf der Bühne im Mousonturm. Das heißt: Maria-Cristina Hallwachs steht nicht – sie kann nur noch sitzen, ist an den Rollstuhl gefesselt. Der Schreiber dieser Zeilen sah die im Juni 2013 am Schauspiel Stuttgart uraufgeführte Inszenierung beim Stücke-Festival 2014 in Mülheim an der Ruhr, und damals musste ein zweiter Pfleger, der gelassene, zugewandte und mit einem milden Humor ausgestattete Admir Džinic Maria-Cristina die Nase putzen. Timmy klebte ihr das Pflaster neu, das den Schlauch für die Zufuhr von Atemluft festhält. Alltagseinsätze – für eine Frau, die ohne Hilfe nicht mehr lebensfähig wäre. Würden wir so leben wollen?

151205_Qualitaetskontrolle_HP2_181 © Cecilia Gläsker

Rimini Protokoll, „Qualitätskontrolle“, Bildnachweis: Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, Foto © Cecilia Gläsker

Wer die Frage vor Beginn der Aufführung verneint, könnte zum Umdenken gezwungen werden. 100 Minuten lang verfolgt der Zuschauer gebannt die Erzählung einer Frau, die nichts als ihren Kopf bewegen kann. Er blickt in ihre lebhaften, strahlenden Augen. Das Charisma, das diese Frau entwickelt, scheint aus einer unbändigen Lebenslust zu resultieren, die Intensität ihrer Darstellung aus übernatürlichen Kräften. Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll haben aus Aussagen von Frau Hallwachs und ihrem Umfeld eine Textcollage zusammengestellt, die weit über die Rekapitulation der fatalen Lebenssituation der so fröhlich wirkenden Schwerstbehinderten hinausgeht. Natürlich erfahren wir Näheres über die Umstände ihres Unglücks und über die wochenlangen Diskussionen einer eigens eingesetzten Kommission, die darüber entscheiden sollte, ob man die lebenserhaltenden Maßnahmen fortsetzt oder nicht: „Ich habe die Ethikkommission überlebt“, sagt Frau Hallwachs und schmunzelt. In der Klinik, in die die Verunglückte eingeliefert wurde, war sie eine Sensation: die erste Patientin, die einen Genickbruch überlebt hatte. Sie berichtet über die Situation ihrer Familie. Welche übernatürlichen Kräfte auch die Eltern mobilisieren mussten, lässt sich nur erahnen. Zumal Maria-Cristina eine Schwester hat, die sich aufgrund einer seltenen Krankheit ab früher Kindheit nicht fort-, sondern zurückentwickelt hat auf den Stand eines Säuglings: „Zusammen sind wir perfekt: Isabellas Körper und mein Kopf“, sagt Hallwachs. Ganz ohne Bitterkeit, denn: „Das Leben ist doch schön, oder?“

151205_Qualitaetskontrolle_HP2_062 © Cecilia Gläsker

Rimini Protokoll, „Qualitätskontrolle“, Bildnachweis: Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, Foto © Cecilia Gläsker

Wie verbringt man den Tag, damit er schön und abwechslungsreich wird, wenn man sich nicht bewegen kann? Durch Lesen zum Beispiel: Mit einem Metallstab am Rollstuhl, den sie durch eine Kopfbewegung in den Mund nimmt, blättert Frau Hallwachs die Seiten eines Buches um oder bedient die Tastatur ihres Laptops. Mit der Pflegerin spielt sie Spiele: ein Rennen gegen die Uhr mit ihrem Hightech-Rolli über einen komplizierten Parcours, oder ein Memory-Spiel mit Hilfe von durch die Videotechnik auf den Boden projizierten Spielfeldern. Die Memory-Karten bilden Motive aus Schloss Grafeneck ab, einer berüchtigten Euthanasie-Anstalt der Nationalsozialisten. „Hier trägst Du mit: Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM“, steht auf einem der zeitgenössischen Plakate, auf denen ein kräftiger gesunder Volksgenosse zwei grob karikierte Kranke auf seinen Schultern balanciert. Was kostet erst Frau Hallwachs die Sozialkassen!

„In der Stunde soviel wie ein Olivenbäumchen im Gartencenter“, beantwortet Maria-Cristina die Frage. Damit wäre sie bei der Qualitätskontrolle der Nationalsozialisten durchgefallen. Mit der ihr eigenen Sachlichkeit, Gelassenheit und Lakonie thematisiert sie die unterschiedlichsten Aspekte von, wie man es damals ausgedrückt hätte, unwertem Leben bis hin zu einem großen, im Vergleich zur übrigen Aufführung etwas überhöhten Schlussbild: Da befindet sich Hallwachs mit ihrem Rollstuhl in einer riesigen, überdimensionalen Fruchtblase. Es geht um Pränataldiagnostik. Im Falle eines zu erwartenden Down-Syndroms, so erfahren wir, bevorzugen fast 90 % aller Frauen einen Schwangerschaftsabbruch. Noch bei laufender Vorstellung überprüft der Zuschauer die eigenen Wertevorstellungen …

Uraufführung am 07.06.2013 im SCHAUSPIEL STUTTGART/NORD; Maria-Cristina Hallwachs

Rimini Protokoll, „Qualitätskontrolle“, Bildnachweis: Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, Foto © Cecilia Gläsker

„Ich bin hart aufgekommen und doch weich gefallen“, heißt es einmal. Maria-Cristina scheint dankbar trotz ihres schweren Schicksals. „Das Leben ist doch schön, oder?“ Hallwachs agitiert nicht, sie stellt zur Diskussion – die Überlegungen, wann ein Leben lebenswert ist, den Umgang mit Behinderten, das sogenannte Techno-Doping von Oscar Pistorius oder Markus Rehm oder die finanziellen, psychischen und physischen Belastungen für die Gesellschaft und das persönliche Umfeld. Auf subtile Weise beeinflusst sie aber unsere Gedanken, denn da sitzt eine Frau mit einer unbeschreiblich positiven Ausstrahlung vor uns, die das Leben genießt. Im berührenden Schlussbild bittet sie ihre Pflegerin, ihre (Cristinas) Handflächen nach oben zu wenden: „Nichts liegt auf der Hand.“

Diese großartige, mutige Frau wird mit dieser Aufführung auch zu einer großartigen Schauspielerin und einer geschickten Vertreterin ihrer Sache. Nach der Diagnose der Querschnittslähmung habe man ihr in der Klinik gesagt: „Du bist jetzt ein Kopfmensch.“ Ja, Maria-Cristina Hallwachs ist ein Kopfmensch; sie hat nach ihrem Unfall Französisch und Geschichte studiert, sie hat gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel einen großartigen, sehr differenzierten Themenabend entwickelt, der weit über das Genre des Dokumentartheaters hinausgeht. Aber sie ist und bleibt auch ein Bauchmensch: Sie zeigt Einfühlungsvermögen und Gefühl. Der Schreiber dieser Zeilen war an diesem Abend mehrfach emotional überwältigt im Bewusstsein, dass die Person, die dieses schwierige Leben zu meistern hat, live und in Farbe vor ihm stand. Von ihrem Schicksal, aber auch von ihrem Humor und ihrem Lebensmut. Das Leben ist schön …

Mit Maria-Cristina Hallwachs, Timea Mihályi; Konzept, Text, Regie: Helgard Haug und Daniel Wetzel; eine Produktion von Rimini Apparat in Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart; Performance – Theater; Deutsch mit englischen Übertiteln

Rimini Protokoll: „Qualitätskontrolle“, Künstlerhaus Mousonturm, am 5. Dezember, 19 Uhr (im Anschluss Künstlergespräch) und am 6. Dezember 2015, 18 Uhr

 

Comments are closed.