„Deserti e Derive“: Eine Gemeinschaftsausstellung in der Frankfurter Westend Galerie
„Deserti e Derive – Wüsten und Wirren in unserer Zeit“, kuratiert von Giovanni Cerri
Von Erhard Metz
Zum diesjährigen Saisonstart präsentiert die Frankfurter Westend Galerie fünf hochaktuelle künstlerische Positionen aus Italien: Giovanni Cerri, Kurator und selbst Künstler aus Mailand, hatte fünf italienische Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sich mit den Krisen der westlichen Zivilisation auseinanderzusetzen. Zu sehen sind insgesamt 36 Werke von Andrea Brera, Alessandra Chiappini, Isabella Dovera, Alessandro Savelli und Alessandro Spadari.
Barbara Thurau, Frankfurter Westend Galerie, schreibt in ihrem Vorwort zum Katalog:
„‚All the World’s Futures‘, alle Zukünfte dieser Welt, ist der Titel der gegenwärtig laufenden 56. Biennale in Venedig. Mit der diesjährigen internationalen Kunstschau sucht Kurator Okwui Enwezor nach Antworten auf die Krisen der Gegenwart. Diesem Wunsch entspringt auch die Ausstellung ‚Deserti e Derive. Wüsten und Wirren in unserer Zeit‘, die der Künstler Giovanni Cerri für die Frankfurter Westend Galerie kuratiert hat.
Die fünf eingeladenen Künstler setzen sich mit dem Verfall der Städte und der Umwelt auseinander, mit moralischer Verwüstung, mit Korruption und Misswirtschaft, Dekadenz und Entfremdung. Andrea Brera, Alessandra Chiappini, Isabella Dovera, Alessandro Savelli und Alessandro Spadari erreichen das mit unterschiedlichen Mitteln, dokumentarisch oder malerisch mit expressionistischen, symbolistischen, surrealistischen oder informellen Anklängen. Die Künstler liefern uns jedoch keine Auskünfte, wie Journalisten es tun, sondern sensibilisieren, verunsichern uns und verändern unsere Blickrichtung.
Die Frankfurter Westend Galerie, deren Fokus überwiegend auf den abstrakten Tendenzen der italienischen Kunst liegt, öffnet sich mit ihren Themenausstellungen zum Saisonstart der Frankfurter Galerien auch gegenständlichen Entwicklungen, die eine direktere Wirkung und soziale Orientierung verfolgen. Wir freuen uns daher sehr, dass wir auf diesen neuen Wegen Unterstützung finden. Wir danken Giovanni Cerri für die Ausstellungsidee und die Koordination in Italien.“
Barbara Thurau, Salvatore A. Sanna und Giovanni Cerri in der Vernissage
Der Fotojournalist und Fotokünstler Andrea Brera wurde 1967 in Bollate bei Mailand geboren. Wie auch Tobias Zielony (Le Vele di Scampia, 2009, in der Sammlung des MMK) hat sich Brera mit dem berüchtigten, von der Camorra beherrschten Komplex Scampia bei Neapel befasst, in dessen Mietskasernen sich „Gewalt und Verfall, Verbrechen und Tränen, Blasphemie und Gebet verbinden“ (Kurator Giovanni Cerri). „In den Fotografien von Andrea Brera liegt der Fokus auf den Räumen und Atmosphären dieser kärglichen Stätten des Zerfalls und des sozialen Elends“.
Andrea Brera, Scampia, 2008, Fine Art print auf mattem Fotopapier, 30 x 40 cm
Alessandra Chiappini, Adriano, 2013, Mischtechnik auf Leinwand, 50 x 70 cm
Alessandra Chiappini, 1971 in Piacenza geboren, wo sie auch heute lebt und arbeitet, studierte Malerei an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand. Mit ihrer Arbeit „Adriano“ erinnert sie an die Villa Adriana, die berühmte „Hadriansvilla“ (erbaut 118 bis 134 n. Chr.) nahe Tivoli. „Ich male antike Ruinen als Spiegel der heutigen, denn sie erscheinen mir wie ein Versprechen von Schönheit, das nicht eingehalten wurde … und zwar von uns heute. Aber der Verfall betrifft nicht nur die Städte und die Architektur, sondern auch die Umwelt und – noch schlimmer – den Menschen selbst!“ (Katalog).Und weiter schreibt sie: „Ich glaube, dass die Kunst der Vergangenheit ein Anlass sein kann, über das Heute zu reflektieren: Bei der Betrachtung des Niedergangs der westlichen Zivilisation, die berauscht ist von Individualismus und Konsum, verloren im Kaufrausch, auf der Jagd nach Statussymbolen … und indifferent gegenüber der Zerstörung des Gleichgewichts der Natur, berührt mich die Schönheit altertümlicher Kunst, ihre Verheissung der Zivilisation, die nicht erfüllt wurde, und ich finde mich selbst in dem Verfall wieder, den die Zeit diesen Werken auferlegt hat. Der Niedergang des Abendlandes spiegelt sich in der Aufzehrung der Kunst der prachtvollen Anfänge wider.“
Isabella Dovera wurde 1976 in Mailand geboren. Nach dem Studium der Malerei und Restauration an der Accademia A. Galli in Como besuchte sie ebenfalls die Accademia di Belle Arti di Brera, wo sie ihre Fertigkeiten um die Gebiete Kommunikations- und Drucktechnik erweiterte. In ihren expressionistischen Bildnissen von Männern und Frauen, „verdorrt, ausgemergelt, verbraucht und vertrocknet“, haben „physische, moralische Verwüstung und Nihilismus Überhand gewonnen“ (Cerri), und jegliche Erlösung wird negiert.
Isabella Dovera, Imbalsamato, 2015, Mischtechnik auf Papier auf Leinwand, 120 x 100 cm
Alessandro Savelli, Miraggio, 2013, Mischtechnik auf Leinwand, 40 x 40 cm
Hoffnungsvoller erscheinen dagegen die Arbeiten von Alessandro Savelli. Der 1955 in Mailand geborene Architekt, Designer, Restaurator, Bühnenbildner und Kurator ist nicht zuletzt bekannt für die Sinnlichkeit seiner Malerei, die „andeutet und enthüllt ohne zu beschreiben, an der Grenze zwischen Informel und Figuration. Die Farben implizieren Überlagerungen und Sedimente, die auf der Oberfläche des Gemäldes zu Tage kommen“ (Cerri).
Alessandro Spadari, Apparizione, 2013, Öl auf Leinwand, 100 x 120 cm
Alessandro Spadari wiederum spiegelt in seinen Werken die Symbolik, die Metapher des Untergangs und der Dekadenz. Auch er, 1969 in Mailand geboren, studierte an der dortigen Accademia di Belle Arti di Brera, an der er später selbst Malerei lehrte. „Rostige Schiffskörper und Boote“, schreibt Kurator Giovanni Cerri, „zerfressene Gerippe in einem schwarz-weissen Gegenlicht und mit den Farbschleiern einer möglichen Poesie des Schmerzes. Vergessene und trockengelegte Häfen als moderne Darstellung einer fehlgeschlagenen und ausweglosen Reise in Richtung eines blinden Wachstums“.
„Wüsten und Wirren in unserer Zeit“ – wie der Untertitel der ungewöhnlich kontrastreichen und vielleicht auch deshalb anspruchsvollen, mitunter anstrengenden Ausstellung lautet: nicht nur ein skeptisches, sondern auch ein „fünf Minuten vor zwölf“ warnendes Szenario ist es, welches die sich im Dschungel des – oft genug im Unverbindlichen endenden – Saisonstart-Bilderrausches behauptende, mutige Präsentation italienischer Positionen zeigt. „Rote Punkte“ an den Wänden scheinen zu bestätigen, dass ein an Ästhetik orientiertes wie zugleich Zweifel an einem allgemeinen wie speziellen „weiter so“ hegendes Publikum die kuratorische Absicht und die Qualität der gezeigten Werke honoriert.
„Deserti e Derive – Wüsten und Wirren in unserer Zeit“, Frankfurter Westend Galerie, bis 30. Oktober 2015
Fotos: Erhard Metz