Das Buch – Ikone und Archetyp der Kultur
Ein Essay
Von Gunnar Schanno
Ein halbes Jahrtausend war das Buch ein Königsmedium der Kultur, hatte es seine unangefochtene monomediale Stellung als Premiumprodukt der Kultur, war es verbunden mit dem Namen Johannes Gutenberg und seiner Erfindung des Buchdrucks. Das Buch, es wurde Medium für einen Massenmarkt. Das gedruckte Buch – es war alleinige Quelle für Wissen, Weisheit und Weltkultur, war fast alleiniger Kulturträger, war Bildungsgut, war Materialisierung und Schatzkammer des Geistes. Das Buch, es war Maßstab für Bildungsstand. Wo kein Buch, da keine Bildung! In seiner europäischen Form als Druckwerk seit dem 15. Jahrhundert hat es als unverwechselbares Medium seine Erscheinung bewahrt. Das ist das Geniale an ihm, darin ist das Buch ein Archetyp.
In seinen unendlich variierbaren Formaten ist es Lustobjekt, wenn es das Schöne, Erhebende und Erhabene in kunstvoller Schrift und Bild wiedergibt, wenn es Bekenntnisse zu Glaube, Liebe und Hoffnung weiterträgt. Das Buch als Kult, wenn es zum künstlerisch gestalteten Objekt erkoren wird. Das Buch als Qualobjekt, wenn sein Inhalt für die Schule des Lebens zum Lern- und Bewährungsstoff bestimmt ist. Das Buch als Vademekum, als Lebenselixier, in anthropomorpher Erhöhung als Freund, Begleiter, als Tröster, Helfer, Ratgeber, Retter. Das Buch – das antiquarische vornehmlich – Objekt der Liebhaberei, wenn nicht der Begierde. Das Buch aber auch als Verderber, als Anstifter, Träger von Irrtümern, als Schund, wenn es für Kritik und indizierte Verteufelung seines Autors steht. Das Buch auch als Hassobjekt, wenn mit ihm und seiner Verbrennung stellvertretend der Autor verbrannt werden sollte. Das Buch als Kleinod häuslicher Atmosphäre und Kulisse der Bücherwand, als Prestigeobjekt, wenn es Status, Bildungsstand und Ansehen signalisiert. Das ist es, was das Buch eine Ikone im gesellschaftlichen Leben hat werden lassen.
Das Buch war Premiumprodukt der Kultur. Wenn das Buch nicht in Reichweite, nicht greifbar, einfach nicht zur Hand war, dann war oft nichts als Rat- und Hilflosigkeit, dann war guter Rat teuer, dann war Suche nach Quellen schwarz auf weiß angesagt, dann war oft jede mündliche nichts als eine unbewiesene Aussage, solange ein Nachschlagen im Buch nicht Gewissheit schuf. Die Universalität des Buches bestand in seiner Funktion und Leistung, der Flüchtigkeit geistiger Inhalte entgegen zu wirken, den Geist wie in der Flasche zu bannen, seiner immerzu habhaft zu sein, seine inhaltlich-verkündende Substanz buchstäblich material dingfest werden zu lassen, sie in allzeit identischen, thematischen Einheiten rezipierbar zu machen für den Einzelnen allein oder zu teilen mit einer Vielzahl von Menschen: Darin war das Buch das monomediale Medium in Solitärstellung bis zum Aufkommen technisch-basierter Verbreitungsträger von Schrift, Bild und Ton. Seine Universalität begann es um die Jahrtausendwende abzugeben an das World-Wide-Web. Verbunden mit dem sich beschleunigenden Transfer der Buchinhalte in elektronische Medien, ist es zum Beuteobjekt der Internetkrake, ist es als materialisierte Form des Geistes zum Nebenprodukt geworden. Das Buch bestimmt unsere Vorstellungswelt. Darin liegt das Hinterhältige in der Vereinnahmung des Begriffs für die werbend-verlockenden elektronischen Widerspiegelungen und in all den polymorphen Formaten des Internets dessen, was wir Buch nennen. Allein die Bezeichnung E-Book! Wo es sich doch um nichts als entmaterialisierte, amorphe, salopp auf- und abrufbare, Content genannte Visualisierungen geht.
„Ein Buch lesen“, so hieß oder heißt es beim Charakterisieren des üblichen Rezipierens von Druckwerken in Buchform. Seine Bilder anschauen, betrachten, so heißt es auch, so das Druckwerk auch Bildinhalte hat. Wird das Buch fortan fast nur noch als Phantom durch die Internetwelt geistern? Wird seine traditionelle Erscheinungsform nur noch historische Verkleidung, Maskerade, typographisch zelebrierte Vorstufe, als Fake, als Täuschung eines gedruckten Buchs sein mit der Absicht, seinen textlich-bildlichen Inhalt, eher formlos, als ein wie immer geformter Inhalt letztlich doch nur dazu bestimmt, in elektronische Systeme migriert zu werden? Das Internet nämlich, es wird genutzt, ins Internet „geht man“. In ihm rezipiert der Nutzer wie von freischwebenden, ätherischen Inhalten, die jeder in die Welt senden und aus ihr empfangen kann. Mit dem Internet ist um die Zweijahrtausendwende konkurrenzlos ein neues Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie aus dem Nichts entstanden. Mit der digitalen Welt ist ein Utopia des Geistes wahr geworden, zeit- und schwerelos umweht von einem Fluidum der Freiheit von allen materiellen oder kapitalistisch geprägten Zwängen.
Noch gibt es den Bücherkosmos, der sich verteilt auf Bibliotheken, Buchhandlungen, häusliche Bücherregale und als el Dorado seinen Auftritt hat bei den großen Messen. Letztere vor allem, in Frankfurt wie kaum irgendwo sonst, sind die Bühnen geblieben für die Präsentierung der Internationalität einer Bücherwelt, als gäbe es kein unsichtbar-lauerndes Internet. Die Frankfurter Buchmesse ist ein attraktiver, sinnenfroher Anlass, weil das Buch der klassische Mittelpunkt unter den Medien den Glamour gibt. Es ist es geblieben allen Zweifeln zum Trotz, umringt und inmitten der Konkurrenz neuer Medien und weltumspannender Netzwerke. Bei aller Manie um E-Book und Co., das Buch ist geblieben, was es war: Synthese und Transporteur schöpferischer Formen zwischen Materie und Geist, ist als Kulturgut in der Bildungsgesellschaft beides geblieben, Ikone und Archetyp.
Noch scheint des Buches Kulturhaltigkeit alle Funktionshaftigkeit als Wegwerfware, als Sperrmüllgut irgendwie auszuschließen. Ein Buch dem Altpapier, dem Recycling nach ökologischer Praxis zu überantworten, es scheint in vielen Printbuch-Lesern eine Scheu auszulösen, geradezu eine Schamgrenze zu berühren. Wenn dem so ist, dann unter Entschuldigungsformeln, dann auch wie das Auflösen einer menschlichen Beziehung, wie das Verleugnen einer Erlebnisverbundenheit. Vielleicht kommt auch deshalb ein kleines allzu menschliches Rachegefühl am Buch auf, wenn es aus Enttäuschung genüsslich in den Müll geworfen wird.
In unserem Zusammenhang seien noch – weil doch die Kulturleistung des Buchs als Ikone zu würdigen ist – eher beiläufige Konsequenzen und Mutmaßungen am Rande in Frageform pointiert: Wenn denn seit McLuhan (1962) bis Bill Gates dem Buch als Objekt der Printwelt das Ende, zumindest ein Nischendasein prognostiziert wird, von Internetpropheten und -abhängigen gar das papierlose Zeitalter herbeigewünscht wird, wie sollen denn Literaturberichte am Fernsehschirm gestaltet werden, wie sollen Romane, Erzählungen, Gedichte präsentiert, eine Gutenachtgeschichte ohne Strom oder Akkuanschluss den Kindern am Bett gelesen werden, Preise für Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte verliehen werden, ein Literaturhaus sich verstehen – ohne Buch? Die Gutenachtgeschichte vom Flimmerkasten abgelesen, Moderatoren und Autoren ihre Besprechungsobjekte, der Preisverleiher seine Preisobjekte als digitale Abrufseiten vor Bildschirmen postiert, die Rezensenten und Kritiker von Prosa, Vers und Drama mit Maus und Cursor bewaffnet vor elektronischem Gerät, Autoren bei ihren Lesungen kein Buch mehr zum Signieren und der zaghaften Hoffnung, dass sich einige Zuhörer des käuflich bereit liegenden Buchs annehmen? Wie wird die Zukunft von so genannten Büchermessen: nur noch Flimmerwände, Akku-Stationen? Es gäbe noch viel Pro-Buch zu sagen.
Fotos: FeuilletonFrankfurt