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FeuilletonFrankfurt

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PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Transit“ von Anna Seghers – ein Projekt im Theater Willy Praml

Damals – heute – morgen: ein Menschheitsthema

Von Renate Feyerbacher

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Foto: Renate Feyerbacher

„Transit“ heisst der Roman, den Anna Seghers 1940/1941 in Marseille begann und im mexikanischen Exil vollendete. Regisseur, Autor und Schauspielpädagoge Paul Binnerts hat eine Bühnenfassung erarbeitet, die im Theater Willy Praml in der Naxos-Halle gezeigt wird. Eingebunden ist das Projekt in den Themenschwerpunkt „Transit 2015-2017“ des Kulturfonds Frankfurt RheinMain.

Transit – Durchreise. Ein alltägliches Geschehen? Ja und Nein! Derzeit nimmt sie an Dramatik zu. Transit erhoffen sich hunderttausende Flüchtlinge durch Ungarn, Slowenien, Kroatien. Sie wollen nach Österreich, nach Schweden, vor allem aber nach Deutschland, wo sie aufgenommen werden und bleiben wollen. Sie kommen vor allem aus dem Kriegsgebiet Syrien, sie kommen aus Afghanistan, aus Eritrea, aber auch aus osteuropäischen Ländern. Das Theaterprojekt „Transit“ hat eine aufrüttelnde Aktualität. Die Geschichten wiederholen sich heute.

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Theater Willy Praml und Wu Wei Theater: „Transit“, Ensemble, Foto © Seweryn Zelazny

Anna Seghers (ein Pseudonym, 1900-1983) wird als Netty Reiling in Mainz geboren. Sie ist Trägerin des Büchner-Preises (1947), von 1952 bis 1978 war sie Vorsitzende des DDR- Schriftstellerverbandes.

Als Kommunistin und Jüdin muss sie 1933 aus Nazideutschland fliehen. Bis 1940 lebt sie mit ihrer Familie in Paris. Zur Familie gehören ihr Mann, der deutsche Soziologe und Philosoph Johann Lorenz Schmidt (László Radványi, 1900-1978), in Budapest geboren, der bei Karl Jaspers in Heidelberg promovierte, und zwei Kinder. Als die Deutschen Paris besetzen, wird ihr Mann in das Internierungslager Le Vernet in den französischen Pyrenäen verbracht. Sie und die Kinder fliehen nach Marseille, das unbesetzt ist. Es gelingt ihr, mit Hilfe des mexikanischen Generalkonsuls, der Flüchtlingen grosszügig Einreisegenehmigungen für Mexiko gewährt, ihren Mann freizubekommen. Die Familie reist nach Mexiko. Dort schreibt sie zuerst den Roman über Hitlerdeutschland „Das siebte Kreuz“, für den sie den Büchner-Preis erhält und den der Hollywood-Immigrant Fred Zinnemann (1907-1997), einer der besten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts („Zwölf Uhr mittags“), bereits 1944 verfilmt. Dann folgt der autobiographisch orientierte Roman „Transit“, den sie bereits auf der Überfahrt nach Mexiko beginnt und dort fertigstellt. Er schildert die Situation der deutschen Flüchtlinge in Süd-Frankreich.

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Wu Wei Theater: Andreas Wellano und Angelika Sieburg; Foto: Renate Feyerbacher

Anna Seghers kehrt 1947 nach Deutschland zurück und entscheidet sich zunächst für West-Berlin als Wohnort, drei Jahre später für Ost-Berlin. Lang ist die Liste von literarischen und anderen gesellschaftlich relevanten Ehrungen – unter anderem der Stalin-Preis 1951 und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mainz 1981. Ein Leben lang bekennt sie sich zum Kommunismus und zur Partei, sie schweigt in der Öffentlichkeit nach dem 17. Juni 1953, nach dem Ungarn-Aufstand (1956), nach dem Mauerbau (1961), während des Prager Frühlings (1968) und nach der Ausweisung von Wolf Biermann. Aber es gibt Dokumente, die ihren Zwiespalt zeigen. So hat sie sich bei Ulbricht und Honecker für Kollegen eingesetzt. Die Gauck-Behörde besitzt eine 500 Seiten starke Stasi-Akte über sie. Das zeigt, dass die DDR-Machthaber ihr gegenüber misstrauisch waren und das spricht für ihren Einsatz hinter den Kulissen. Ihre späteren Romane wurden von westdeutschen Kritikern abgelehnt. Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) sprach sogar von der „Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs eines Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit“ (zitiert aus dem Beitrag von Ursula Homann: „Wer war Anna Seghers?“, erschienen in gekürzter Fassung im Aprilheft 2001 der Fachzeitschrift für Literatur und Kunst „Der Literat“, Berlin).

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Theater Willy Praml und Wu Wei Theater: „Transit“: Angelika Sieburg, Willy Praml, Birgit Heuser, Sam Michelson, Verena Specht-Ronique, Jakob Gail; Foto © Seweryn Zelazny

Der Roman „Transit“ (1944) zählt zu Anna Seghers bedeutenden Werken. Seine Geschichte pendelt zwischen Fakten und Fiktion. Die Namen der Örtlichkeiten sind real. Das untergegangene Schiff namens Montreal gab es nicht, wohl aber Schiffe, die auf dem Weg nach Amerika verunglückten. In Marseille warteten auch Künstler auf ihre Ausreise. 1939 wurden alle deutschen Flüchtlinge in Frankreich zu „feindlichen Ausländern“ erklärt, die jüdischen Flüchtlinge sogar verfolgt.

Der Ich-Erzähler blickt zurück. Dieser Rückblick, den er in einer Pizzeria einem Zuhörer (den es im Roman nicht gibt) schildert, beginnt in Marseille, schweift zurück nach Paris, zu den Fluchtwegen und ins deutsche Konzentrationslager, aus dem er floh. Vergangenes und Gegenwärtiges bildet den Spannungsbogen. Die wirkliche Identität des Ich-Erzählers, der sich eine fremde Identität aneignet, bleibt verborgen. Er nennt sich Seidler. Er wird gebeten, den Koffer des Schriftstellers Weidel, der sich das Leben nahm, an dessen Frau zu übergeben. Verschiedene Versuche, ihn auszuhändigen, scheitern. Der Ich-Erzähler nimmt darauf Weidels Identität an, verliebt sich in Weidels Frau Marie, die Abend für Abend die Cafés in Marseille durchstreift, um ihren Mann zu finden. Er erzählt Marie von der Selbsttötung ihres Mannes. Sie aber glaubt ihm nicht und ist überzeugt, dass er noch lebt. Schuldgefühle quälen sie, weil sie ihn wegen eines anderen, einem Arzt, der ihr Lebensgefährte ist, verlassen hat. Dem Ich-Erzähler, der sich als Weidel ausgibt, gelingt es, alle Papiere für Marie und sich selbst zu besorgen, um gemeinsam per Schiff Frankreich zu verlassen. Doch am Ausreisetag gibt er sein Schiffsticket zurück und lässt Marie mit dem Arzt Frankreich verlassen.

Marie hofft, ihren Mann auf dem Schiff zu treffen. Der Ich-Erzähler sieht ein, dass Marie ihren Mann immer suchen wird. Die „Montreal“ mit Marie und dem Arzt geht während der Überfahrt unter.

In dieser Dreiecksgeschichte bewegen sich viele Personen: französische und deutsche Flüchtlinge, französische und mexikanische Beamte. Zugleich setzt Anna Seghers dem ehemaligen mexikanischen Generalkonsul ein Denkmal.

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Schlussapplaus, Foto: Renate Feyerbacher

Der niederländische Regisseur Paul Binnerts hat die zehn Kapitel des Romans in fünf Teile gegliedert: Vorspiel, die Flucht, die Jagd, das Geheimnis, der Abschied. Er hat in seiner Bühnenfassung einige Nebenfiguren zu jeweils einer zusammengefügt, andere weggelassen. Neun Akteure bespielen die Naxoshalle: die Schauspielerinnen und Schauspieler des Willy Praml Theaters, Willy Praml selbst ist dabei, ferner Angelika Sieburg und Andreas Wellano alias „Wu Wei Theater Frankfurt“. Die ehemaligen Ensemblemitglieder am TAT (Theater am Turm), das Ende der 1970er Jahre geschlossen wurde, gründeten zusammen mit Paul Binnerts die „Schlicksupp teatertrupp“. Das ist lange her. Angelika Sieburg und Andreas Wellano gründeten 1989 ein neues Theater: das „Wu Wei“. Paul Binnerts hat die Schauspieler jedoch nie aus den Augen verloren.

Im Stück passiert alles in „real time“, wie es Binnerts nennt. Die Schauspieler erzählen und spielen, bedienen alle Theaterelemente wie Musik und Video, deren Installation sie arrangieren. Kleine Tanzeinlagen lassen Zeit zum Nachdenken. Die Schauspieler treiben die Geschichte voran, nicht die Geschichte treibt sie. Sehr nah sind sie dabei dem Publikum. Die Fülle von Fakten, von Episoden, von Vorgängen setzt sich nach und nach wie ein Mosaik zusammen. Das gelingt überzeugend und trotz der vielen Erzählstränge übersichtlich und verständlich. Bühnenpräsenz total – und das drei Stunden lang wird von den Schauspielern verlangt und erfüllt. Eine Pause wird gewährt. Ideal, wie Paul Binnerts die grosse Naxoshalle als Bewegungsraum nutzt und Realität spürbar macht.

Ein Bühnenabend besonderer Art, der nicht verpasst werden sollte!

Weitere Vorstellungen am 8. und 11. Oktober 2015, jeweils um 18 Uhr

Das Theater Willy Praml plant die Fortsetzung des Themas Transit mit heutigen Flüchtlingen: Sein Titel „Theatralische Intervention im TRANSIT-Raum Rhein-Main“.

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