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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Grimmiges aus Steinau an der Straße

Von Winfred Kaminski

Der kleine Ort Steinau an der Straße, ungefähr auf der Hälfte zwischen Frankfurt am Main und Fulda gelegen, hat dem Besucher einiges zu bieten. Denn er liegt an der Jahrhunderte alten, von Westen nach Osten führenden Handelsstraße nach Leipzig. Alte Reste dieser Straße können vor Ort noch bewundert werden. Und wenn man den Straßenbelag sieht, lässt sich gut vorstellen, wie beschwerlich Kutschfahrten damals waren.

Dann gibt es das aus dem 13. Jahrhundert stammende und den Ort überragende Schloss, ein eindrucksvoller Bau mit zahlreichen Renaissance-Resten, und darin zu finden eine Brüder-Grimm-Gedenkstätte, die noch in einer Sonderausstellung bis Mitte Oktober 2015 zeitgenössische Grimm-Illustrationen der Märchen der Brüder Grimm bietet. Wenn man dann den großen zentralen Platz des Ortes „Am Kumpen“ überquert, kommt man gegenüber vom historischen Rathaus an einem weiteren Highlight vorbei: dem Marionettentheater der Stadt Steinau, geleitet von Familie Magersuppe. Hier finden in den ersten beiden Oktoberwochen die 23. Steinauer Puppenspieltage statt.

1Turm des Steinauer Schlosses. Foto Winfred Kaminski

Turm des Steinauer Schlosses; Foto: Winfred Kaminski

Wenn man alles dieses aufgenommen hat, findet man sich plötzlich vor einem klug restaurierten und renovierten Gebäudekomplex wieder: der Steinauer Amtshofscheune und dem Amtshof (aus dem 16. Jahrhundert), in dem die Brüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht haben. Ihr Vater Philipp Wilhelm Grimm, selber in Steinau geboren, war Jurist und hatte ab 1791 in Steinau die Position eines landgräflichen Amtsmannes inne. Diese Gebäudeansammlung ist die einzige noch heute existierende, in der die Grimms tatsächlich gelebt haben, und hat damit unter allen Grimm-Stätten, ob nun in Hanau, Kassel, Göttingen oder Berlin, einen besonderen Rang.

Eingang zum Brüder Grimm-Haus in Steinau an der Strasse. Foto Winfred Kaminski

Eingang zum Brüder-Grimm-Haus; Foto: Winfred Kaminski

Ludwig Emil Grimm (1825) Illustration zu Die Gänsemagd

Emil Ludwig Grimm, Illustration zu „Die Gänsemagd“, Archiv Brüder-Grimm-Haus

Vor jetzt gut zehn Jahren war unter der Leitung des Kunsthistorikers Burkhard Kling damit begonnen worden, die Räume herzurichten und diesen Ort zu einem Museum zu machen, das unterschiedlichen Ansprüchen gerecht wird. Selbstverständlich wird Leben und Wirken der beiden Grimm-Brüder dokumentiert, dann die Vorfahren und Eltern sowie die Geschwister präsentiert. Einen besonderen Raum nimmt dabei das künstlerische Werk des „Malerbruders“ Ludwig Emil Grimm (1790-1863) ein, ohne dessen Illustrationen die „Kinder- und Hausmärchen“ nicht das geworden wären, was sie heute sind. Weitere Einblicke in das umfassende Schaffen der beiden zeigen Erstausgaben und Illustrationen von anderen europäischen Märchensammlern, dann die sprachwissenschaftliche Forschung der beiden mit Blick auf die Grammatik und das von ihnen begonnene „Wörterbuch der deutschen Sprache“, ein Jahrhundertwerk.

Ludwig Emil Grimm (1825) Illustration zu Rotkäppchen und der Wolf

Emil Ludwig Grimm, Illustrationen zu „Rotkäppchen und der Wolf“ und „Schneewittchen“, Archiv Brüder-Grimm-Haus

Ludwig Emil Grimm (1825) Illustration zu Sneewittchen

All das ist in den Räumen nachzuempfinden, die zugleich Einblicke in das Alltagsleben um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erlauben, ob nun in der Küche oder im Salon oder im kleinen Gerichtssaal. Darin finden heute literarische Lesungen und ähnliche Veranstaltungen statt. Alles ist mit Sorgfalt hergerichtet worden und dort, wo es möglich war, mit historisch angemessenen Möbeln, Geschirren und Geräten ausgestattet.

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Wohnhaus der Brüder Grimm und ihrer Familie (Teilansichten); Fotos: Winfred Kaminski

Märchen, obwohl anfangs ganz und gar nicht als Kindermärchen von den Brüdern gedacht, haben sich längst zum unersetzlichen Bestandteil des Kinderlebens fortentwickelt. Dem wird in dieser Ausstellung nachdrücklich Rechnung getragen durch Mitmachstationen, die es erlauben, alte Märchenkassetten und -schallplatten abzuhören. Wir gehen dann durch einen Raum, in dem links und rechts Dioramen mit Märchenszenen verzaubern. Und zugleich gilt es zu raten, welches Märchen, welche Märchenfigur dargestellt wird. Darüber hinaus gibt es Filme anzuschauen, und wir bekommen mediale Einblicke in die Märchenopern von Engelbert Humperdinck „Hänsel und Gretel“ und von Carl Orff „Die Kluge“.

Ein wichtiger Raum der Ausstellung ist dem Niederschlag der Märchen in der Malerei und Graphik gewidmet. Hier finden sich selbstverständlich Originale von Ludwig Emil Grimm, sowie solche von Otto Ubbelohde, Heinrich Vogeler, Albert Schindehütte und des englischen Popart-Künstlers David Hockney. Zuletzt waren in Sonderausstellungen Lithographien von Antoine de Saint-Exupéry zu der „Der kleine Prinz“ zu sehen und jüngst erst Werke des Gründauer Künstlers Eberhard Hoff.

Hänsel und Gretel Ill. von Hermann Vogel-Plauen

„Hänsel und Gretel“: von Hermann Vogel-Plauen (1854-1921, oben) und Heinrich Vogeler (1872-1942, unten), Archiv Brüder-Grimm-Haus

Hänsel und Gretel Ill. von Walter Vogeler

Der Horizont des Werkes der Brüder Grimm, nicht zuletzt zählen sie zu den Begründern der Germanistik und der Volkskunde, beeindruckt auch heute noch: vor allem die Unvoreingenommenheit, mit der sie Märchen und Sagen aus dem weiten europäischen Kontext zusammentrugen und adaptierten. Sie haben Märchen gefunden und erfunden, aber die „Gattung Grimm“ bleibt ihr ureigenes Werk. Und dies wird in der Ausstellung im Brüder-Grimm-Haus in Steinau an der Straße für Klein und Groß hör-, seh- und fühlbar gemacht. Wir verdanken den Brüdern Grimm wunderbare poetische Chiffren wie die Formel vom „Es war einmal …“ oder „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …“.

Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass die beiden auch kluge politische Köpfe waren. Jacob Grimm war 1848 Mitglied des Frankfurter Paulskirchen-Parlamentes. Er stellte folgenden bemerkenswerten, leider abgelehnten Antrag zum Artikel 1 der Grundrechte: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ In Zeiten, in denen manche wieder eine Beschränkung des Asylrechts fordern, lohnt es sich, an diese gut 160 Jahre alte Idee zu erinnern und sie festzuhalten.

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren Ill. von Otto Ubbelohde

Illustrationen von Otto Ubbelohde „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (oben) und (unten) Walter Klemm „Der Wolf und die sieben Geißlein“, Archiv Brüder-Grimm-Haus

Walter Klemm Ill. zu Der Wolf und die sieben Geißlein

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren politikerfahren und konflikterprobt, deshalb ist es vielleicht wichtig, dass sich in Steinau an der Straße, einem so zentralen Ort ihres Lebens, die beiden Institutionen, die sich um das Erbe der Grimms bemühen – die Brüder-Grimm-Gesellschaft in Kassel und eben das Brüder-Grimm-Haus in Steinau – , statt gegeneinander zu agieren doch ein Miteinander versuchen und kluge Absprachen treffen, um den stofflich wie formal weiten Horizont ausschreiten zu können. Denn obwohl die „Kinder- und Hausmärchen“ 200 Jahre alt sind, steckt in ihnen noch vieles und die Märchenschätze wollen gehoben werden. Kooperation statt Konfrontation scheint das Gebot der Stunde.

Brüder-Grimm-Haus, Steinau an der Straße, Öffnungszeiten: Täglich von 10.00-17.00 Uhr

 

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