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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Harmonie und Hässlichkeit: Installationen bei der Ruhrtriennale 2015

Von Dietmar Zimmermann

Wahrhaft internationale Strahlkraft hat von den zahlreichen Festivals in Nordrhein-Westfalen wohl nur eines: die Ruhrtriennale. Ihre Einzigartigkeit verdankt sie ihren Spielstätten. Tief im Westen, wo die Sonne längst nicht mehr verstaubt, hatten Kohle- und Schwerindustrie einen unvergleichlichen Niedergang zu verkraften, aber die Ruinen alter Zechen und Stahlwerke sowie die gigantischen Produktionshallen wurden zu Kulturzentren mit einzigartigem Ambiente umfunktioniert. Jahrelang war die Bochumer Jahrhunderthalle, eine monumentale Stahlkonstruktion, die einst als Kraftzentrale die Hochöfen des Bochumer Vereins mit Energie versorgte und die sich nach mehrfacher Erweiterung über eine Fläche von fast 9.000 qm erstreckt, das Epizentrum der Ruhrtriennale. Während der Intendanz von Heiner Goebbels (2012 – 2014) verlagerte sich der Schwerpunkt der Aufführungen mehr und mehr in den Landschaftspark Nord in Duisburg. Dort entwickelt sich rund um die Reste eines stillgelegten Hüttenwerks eine artenreiche Flora und Fauna, während die stummen Zeugen einer schwerindustriellen Vergangenheit zu lebendigen Veranstaltungsräumen erwachen. Johan Simons, der die aktuelle Triennale von 2015 – 2017 verantwortet, hat weitere Spielstätten identifiziert, darunter die raue, unbearbeitete, riesige Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken.

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Kohlenmischanlage Zeche Lohberg Dinslaken; Foto © Julian Röder

Von Beginn an war die Ruhrtriennale vor allem ein Theater- und Musikfestival, das sich immer wieder auch experimentellen Formen der Darstellenden Künste öffnete. Sieht man von einer Installation des baskischen Bildhauers Agustín Ibarrola auf der Halde Haniel in Bottrop im Gründungsjahr 2002 ab, war es erst Heiner Goebbels, der das Festival durch Kooperationen mit dem Folkwang-Museum Essen sowie urbane Interventionen in unmittelbarer Nähe der Spielstätten in Duisburg, Essen und Bochum um die Bildende Kunst erweiterte.

Vom 14. August bis zum 26. September 2015 findet nun die erste Spielzeit der Triennale unter Johan Simons statt. Sie setzt die Hinwendung des Festivals zur Bildenden Kunst fort und löst die Installationen zum Teil noch stärker von den Spielstätten der Darstellenden Kunst. Die spektakulärste Installation zieht allerdings erneut im unmittelbaren Umfeld der Jahrhunderthalle Bochum die Blicke der Besucher auf sich.

„Good, Bad and Ugly“: Ein Kunstdorf des Ateliers van Lieshout thematisiert die Ambivalenz von Fortschritt und Rückbesinnung auf die Wurzeln

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Kunstdorf vor der Jahrhunderthalle Bochum (Ausschnitt); Foto © Atelier van Lieshout

Auf deren bislang ein wenig steril wirkendem Vorplatz hat das Rotterdamer Atelier van Lieshout ein Kunstdorf aufgebaut – mit all den nicht immer ästhetisch schönen, stattdessen bisweilen provozierenden architektonischen Wunderwerken und Skulpturen, für die das niederländische Künstlerkollektiv berühmt (oder bei manchen Kunstliebhabern auch berüchtigt) ist. „The Good, the Bad, and the Ugly“ heißt das Dorf, und manche der Installationen erwecken den Eindruck, dass „the Ugly“ das Werk dominiert. Nicht nur „good“, sondern „excellent“ dagegen ist, was sich in diesem Dorf während der Triennale-Spielzeit abspielen wird: Als zentrales Gebäude wird das „Refektorium“ zum Ort der Begegnung zwischen Künstlern und Publikum. Dort können die Besucher speisen, das beste hausgemachte Eis des Ruhrgebiets genießen oder Drinks an der Bar nehmen. Vor allem aber können sie Filme über die Ruhrgebiets-Städte schauen, sich viereinhalb Stunden lang Dantes Inferno vorlesen lassen oder Performances besuchen, zum Beispiel mit den „Spielkindern“. Dahinter verbergen sich die Beckmann-Geschwister Lina (mehrfache NRW-Schauspielerin des Jahres, heute Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Maja (Schauspiel Stuttgart; ehemaliger Publikums-Liebling am Schauspielhaus Bochum), Nils und Till sowie 110-Kommissar Charly Hübner. Konzerte, Partys und Symposien sowie Workshops und Werkstattgespräche ergänzen das so innovative wie intelligente Veranstaltungskonzept, das vor allem junge Menschen ansprechen und die Ruhrtriennale auch für solche Zielgruppen attraktiv machen soll, die zur Hochkultur sonst auf Distanz gehen.

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Decken-Installation im „Refektorium“; Foto: theatermail nrw

Die mal poppigen, mal intellektuellen und mal alltäglichen schönen Künste im Refektorium werden in schrägem Ambiente präsentiert: unter den Nachbildungen abgehangener und enthaarter (gehäuteter?) menschlicher und tierischer Körper zum Beispiel und in unmittelbarer Nachbarschaft einer Werkstatt für Waffen und Bomben. Denn das Gute geht laut Joep van Lieshout immer einher mit Bösem und dem Hässlichen. Leben und Tod, Krieg und Frieden, Gewalt und Autarkie, Nahrung und Energiewirtschaft, Genuss und Verdauung. The Good, the Bad and the Ugly gehören untrennbar zusammen. Die Menschheit, die ihre Welt zu gestalten versuche, bediene sich sinnvollerweise des technischen Fortschritts, doch dieser Fortschritt bringe zwangsläufig auch ethisch-moralische und wissenschaftliche Grenzüberschreitungen mit sich. Und nicht immer könne man zwischen Gut und Böse unterscheiden – ist zum Beispiel die Gentechnik, mit deren Hilfe der Hunger in der Welt gelindert werden kann, Teufelswerk oder ein Geschenk des Himmels?

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Der „Domestikator“ bei der Arbeit; Foto: theatermail nrw

Und so sehen wir auf dem riesigen Gelände um die Jahrhunderthalle den „Domestikator“: eine Kreuzung aus Totem und Tempel, zusammengesetzt aus braunen Würfeln und Quadern. Schaut man genau hin, so ähnelt der Turm des Domestikators der Figur eines an einer Werkbank stehenden Menschen. Die Skulptur symbolisiert die Macht des Menschen, seine Fähigkeit, die Welt zu gestalten, sie zu domestizieren und sich zu unterwerfen. Und damit möglicherweise auch: sie zu zerstören und Tabus zu verletzen. Van Lieshout spricht ethische Dilemmata an: Er versteht seine Installationen als eine Einladung an das Publikum, über sich selbst nachzudenken und eine neue Idee zur Rolle des Menschen in der Gesellschaft zu entwickeln. Wir sehen das „Hagioscoop“, eine labyrinthische Polyester-Skulptur, die einen Bauernhof aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. darstellen soll – eine Farm für die Heilige Familie. „Panta Rhei“ wiederum gilt dem Künstler als ein Kult- und Opfergegenstand einer Gesellschaft, die zurückgekehrt ist zu einer primitiven Stammesgesellschaft, zu Ackerbau und einfacher Industrie, zu Ritualen, bei denen ethische und philosophische Überlegungen keine Bedeutung mehr haben.

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Wohnstatt für die Heilige Familie: Im Inneren des „Hagioscoops“; Foto: theatermail nrw

Lecker wird es in der „BarRectum“. Links nahe des Dorfeingangs hat van Lieshout ein menschliches Verdauungssystem nachgebildet, weitgehend maßstabsgetreu, aber stark vergrößert, als handele es sich um ein Werk von Claes Oldenburg – doch mit einem überdimensional aufgeblasenen Dickdarm. In dem können sich die Besucher an wohlschmeckenden Drinks gütlich tun. Wer sie nicht verträgt – kein Problem: Der Anus ist gleichzeitig der Notausgang aus dem Gebäude. Wer weitere Inspirationen zu diesem Thema sucht, der begebe sich ins Foyer der Jahrhunderthalle: Dort steht – neben zahlreichen Klein-Skulpturen – das „Excrementorium“.

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Die Bar im Dickdarm: „BarRectum“ an der Jahrhunderthalle; Foto: theatermail nrw

Neben der erwähnten „Werkstatt für Waffen und Bomben“, die dem Dorf zur Selbstverteidigung dienen möge, aber auch ein Arsenal des Terrors ist (Lieshouts „The Good, the Bad and the Ugly“ war ursprünglich ein mobiles Kunstdorf, das eine hypothetische Nachbildung der idealen Behausung des Unabombers sein sollte, der zwischen 1978 und 1995 in den USA mit dem Versand zahlreicher Briefbomben sein Unwesen trieb), gibt es auch eine „Werkstatt für Alkohol und Medizin“: Erneut verschwimmen die Grenzen zwischen Richtig und Falsch, zwischen der Droge und ihrer wichtigen Funktion bei der Herstellung von Medikamenten. Diese Ambivalenz zieht sich durch das gesamte Werk des Ateliers van Lieshout, und sie ist es auch, die den Regisseur und jetzigen Ruhrtriennale-Intendanten Johan Simons immer wieder fasziniert. Auch in seiner Premieren-Inszenierung „Accattone“ nach dem Debut-Film von Pier Paolo Pasolini kehrt dieses Motiv wieder …

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Joep van Lieshout vor dem „Hagioscoop“; Foto: theatermail nrw

Rund um die größte Bochumer Triennale-Spielstätte findet der Besucher ca. 20 Installationen und Objekte. Selbst die Toilettenanlagen bestehen aus einer Installation der niederländischen Gruppe, die auf eine Rückkehr zu primitiveren Lebensformen verweist. Besuchern des Dorfes sei eine der regelmäßig stattfindenden Führungen empfohlen, denn der Zusammenhang und der Sinn der Kunstwerke erschließt sich erst, wenn man die ihnen zugrunde liegende Philosophie des Künstlerkollektivs verstanden hat.

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Zur Benutzung freigegeben: „Sanitary Silos“ im Kunstdorf „The Good, the Bad and the Ugly“; Foto © Atelier van Lieshout

Mit Charon in den „Flüsterdom“: “Nomanslanding” im Duisburger Binnenhafen

Harmonischer als das Künstlerdorf wirkt die zweite urbane Intervention, die Simons und Urbane Künste Ruhr während der diesjährigen Triennale-Spielzeit haben aufbauen lassen. „Nomanslanding“ ist eine internationale Gemeinschaftsproduktion von Robyn Backen, Nigel Helyer und Jennifer Turpin (alle Australien) sowie Andre Dekker (Niederlande) und Graham Eatough (Schottland). Entstanden ist sie als Kooperationsprojekt zwischen den Hafenstädten Sydney, Glasgow und Duisburg. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten arbeiten die fünf Künstlern seit Jahren an Installationen im öffentlichen Raum: Backen ist der Poet, der akustische Räume und „Flüsterdome“ schafft; Eatough ist der Theatermann des Quintetts und hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr der Visual Art zugewandt, Helyer ist bekannt für großflächige, technisch orientierte skulpturale Soundinstallationen und Turpin bedient sich der natürlichen Elemente Wind, Wasser und Licht und benutzt sie als Ausgangsmaterial.

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Unter dem Pflaster liegt der Strand: „Nomanslanding“ in Duisburg; Foto: theatermail nrw

Wasser und Wind, Sonne und Regen, Architektur, Theater und Sounddesign gehen bei „Nomanslanding“ eine poetische Verbindung ein. In einem Hafenbecken von Europas größtem Binnenhafen schwimmen zwei große Plattformen, die über zwei schwankende Stege von verschiedenen Ufern des Hafens erreichbar sind. Von beiden Seiten balanciert jeweils die Hälfte der Besucher einer Performance zu ihrer jeweiligen Plattform, auf der sich langsam eine dunkle Geräuschkulisse entwickelt. Zunächst fast unmerklich bewegen sich die beiden Inseln aufeinander zu; mehr und mehr verdunkelt sich der Raum; einzelne Worte, die Bezeichnungen von Alltagsgegenständen, etwa der Ausrüstung für einen vom Reiseveranstalter inszenierten Abenteuer-Trip, kristallisieren sich heraus. Bedrohliche Explosionen folgen. Dann schließt sich die Kuppel vollends zu einem „Flüsterdom“ mit exzellenter Akustik. Eine Sängerin trägt ein eigens für diese Installation geschriebenes, betörendes Klagelied vor. Mit einem Öllämpchen schreitet sie vor uns einher, und wir fühlen uns wie in einer Geschichte aus 1001er Nacht.

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Über Wasser gehen … im Gänsemarsch zum „Flüsterdom“; Foto © Volker Hartmann/Urbane Künste Ruhr

Die zuvor getrennten Besucher sind wieder vereint in einem Raum, der eine so harmonische wie elegische Atmosphäre aufweist: Auf schwankendem Grund haben die Besucher den Styx überquert und sind eingetreten in eine Art Totenreich. Sound und Musik lösen Gefühle der Trauer und der Betroffenheit aus; die Sängerin repräsentiert mit ihren Worten und ihrem Gesang die Toten aller Zeiten und Epochen. Doch am Ende verwandelt sich das Klagelied in ein Wiegenlied. Die Besucher begegnen einander und verlassen die Installation auf dem jeweils ihrem Eingang gegenüberliegenden Weg. Großartig fügt sich das Kunstwerk in die raue, sterbende Industrielandschaft des alten Duisburger Eisenbahnhafens ein; in der alten, durch harte körperliche Arbeit geprägten Umgebung bewegt sich der Zuschauer in einer schwebend leichten, friedlichen Atmosphäre. Angst und Unsicherheit, die vom Veranstalter versprochen werden, stellen sich beim von einem freundlichen Charon organisierten Überqueren des Totenflusses nicht ein. Gruselig ist’s nicht – aber schön.

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… ohne unterzugehen; Foto: theatermail nrw

 

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