Der schroffe Norden der Bretagne − Das Pays de Léon mit seinen Kalvarienbergen
Impressionen von Petra Kammann
Eine fast surreale Szene: An der Pointe St. Mathieu ragen über der Steilküste zwei unterschiedliche Leuchttürme aus einer Klosterruine. Das im 6. Jahrhundert gegründete Kloster war dem Hl. Tanguy geweiht
Auch ein strahlend blauer Himmel im Sommer kann nicht darüber hinwegtäuschen. Die umtoste Westküste der Bretagne wie an der Pointe de St. Mathieu bei Le Conquet hat es in sich und das in jeglicher Hinsicht. Hier drohen Klippen, Riffs und Untiefen. Mit den Meeresströmungen des Atlantik, die sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 16 Stundenkilometern an den Inseln vorbeidrängen, gehört das Meer hier zu den gefährlichsten Gewässern der Welt. Während über hundert Leuchttürme Schiffer und Fischer auf die Gefahren aufmerksam machen, blühen im Hinterland die Legenden und der in Stein gemeißelte Glaube mit seinen Heiligengestalten in Kirchen, Kapellen und Kreuzen.
Die Gegend um Frankreichs westlichste Hafenstadt Brest zwischen den Monts d’Arrées bis Morlaix ist geprägt von den gezeitenabhängigen Meeresarmen, den “Abers”, den Flussläufen, die das Meer erobert hat, über die sich der Handel entwickeln konnte und die sich heute wie Fjorde flach ins Land winden und. Um sie herum ranken sich nicht nur die Legenden, sondern auch Wahrzeichen der bretonischen Kultur wie die Kalvarienberge in den “Enclos paroissiaux”, den umfriedeten Kirchhöfen aus grauem Granit. Es sind einzigartige architektonische Ensembles, die sich Menschen des digitalen Zeitalters nicht auf Anhieb erschließen, erzählen sie doch Bildgeschichten, welche die meisten nicht mehr zu deuten wissen.
Der Kalvarienberg von Guimiliau entstand zwischen 1581 und 1588 und gilt mit seinen 200 Figuren als zweitgrößter der Bretagne. Die Eingangshalle der Kirche ist reich mit Figuren geschmückt, die Szenen aus Alten und Neuen Testament darstellen
Die Kalvarienberge (Calvaires) erzählen die Lebens- und Leidensgeschichte Christi. Das Wort Calvaire leitet sich aus dem lateinischen “calva”, Hirnschale, ab. Diese Schädelstatten also, eine Art Golgatha, findet man in der gesamten westlichen Bretagne, meist an Weggabelungen, in winzigen Dörfern, vor allem aber im Pays de Léon, dem nördlichen Finistère. Sie wirken ganz archaisch und versteinert. Doch bestehen diese Enclos aus dem Zusammenspiel verschiedener Elemente und schienen den Menschen für eine kurze Zeit den Eingang ins Paradies zu weisen. Ein Charakteristikum:
Durch ein Triumphtor betritt man das jeweilige Pfarrgelände, häufig über eine senkrecht eingelassene, nur durch einen großen Schritt zu überwindende hohe Steinplatte. Sie soll den Toten Schutz vor Dämonen und ewiger Verdammnis bieten und macht auch heute noch deutlich, dass man einen besonderen Ort betritt. Die im Kirchhof liegenden Beinhäuser entstanden, weil die Friedhöfe räumlich sehr begrenzt waren. Wurden sie zu klein, so grub man die Gebeine der schon lange Verstorbenen aus und bewahrte sie dort auf.
Im Inneren des Pfarrbezirks, einem Hof mit Garten, in dem meist Hortensien in den unterschiedlichsten Blau- und Rosatönen blühen, spiegelte sich einst das gesamte Leben von der Wiege bis zur Bahre, und in seiner Mitte thront dann eben ein Calvaire und eine kleine Kirche, die im Gegensatz zum grauen Granit reich und farbig ausgeschmückt ist.
Dazu gehören das meist achteckige prächtig verzierte Baptisterium, die geschnitzten und bemalten Querbalken und Lettner, die geschnitzte Orgel und der hochverzierte Altar. Hier wurden Sonntag für Sonntag die Lebenden und die Toten mit ihren Heiligen, deren bretonische Namen für uns fast unaussprechlich sind, gefeiert. Entstanden sind sie in knapp anderthalb Jahrhunderten zwischen 1450 und 1610, in der Zeit der großen Umwälzungen und der Gegenreformation, für die Bretagne ein „goldenes Zeitalter“.
Die kunstvolle Ausprägung der Kalvarienberge erklärt sich vor allem durch den Reichtum, der durch den blühenden Tuch- und Seehandel zustande gekommen war und damals über Hafenstädte wie Landerneau verbreitet wurde. Im Bemühen, den erlangten Reichtum auch sichtbar zu machen, entbrannte unter den Dörfern ein heftiger Konkurrenzkampf und Schönheitswettbewerb um den prächtigsten Pfarrbezirk. Man beauftragte hervorragende Bildhauer und Handwerker der Zeit. Von den gläubigen Katholiken wurden die Kalvarienberge dann zur Andacht genutzt.
↑ Das konkret ausgestaltete Satanische wurde nach außen verbannt
↓ Das Posaunenengelchen in St. Thégonnec mit seiner barock ausgestalteten Kirche
Der Triumphbogen als Eingangspforte ins himmlische Paradies
Herausragend ist St. Thégonnec, 1610 errichtet, ist er der jüngste der großen Kalvarienberge, umgeben von einem zweistöckigen Beinhaus und einer reichausgeschmückten Kirche, der sich hinter einer gewaltigen Triumphpforte erhebt. Bemerkenswert auch der Kalvarienberg selbst, der mit der hier dargestellten Geißelungsszene geradezu expressionistisch wirkt. Sie zeigt, wie Jesus abgeführt wird, während die Grimassen der Häscher wie Karikaturen wirken.
Das doppelstöckige Beinhaus von St. Thégonnec. Jean le Bescond schuf zwischen 1676 und 1682 diesen zweistöckigen Renaissancebau mit korinthischen Halbsäulen und Muschelnischen
Dort beeindruckt der Kalvarienberg mit seinen mehr als 200 Skulpturen ebenso wie die kunstvolle Innenausstattung der Kirche.
↑ Überraschend in St. Thégonnec ist auch das farbig ausgestaltete barocke Innere der Kirche wie hier mit den sechs polychromen Altären
↓ Typisch für den Kalvarienberg: die Szenen aus der Passionsgeschichte, hier in Guimiliau: Detail
Über dem Portal einer kleinen Kirche in Guimiliau heißt es auf einer verwitterten Inschrift „Wahrhaftig, hier ist das Haus Gottes und sonst nichts: hier ist die Pforte des Himmels!“ Mit diesen Worten hatte einst Jakob den Stein, auf dem er geschlafen hatte, als ersten Grundstein des ersten Hauses Israels geweiht, nachdem er den Traum von der Himmelsleiter geträumt hatte.
In Lampaul-Guimiliau gibt es sogar zwei Beinhäuser, eines mit Säulen und ein zweistöckiges mit einer Außenkanzel.
Das doppelstöckige Beinhaus mit dem polychrom bemalten Steinfiguren im Pfarrbezirk Miliau
Dieses Enclos ist vor allem auch wegen seines höchst kunstvollen und figurenreichen Mobiliars – wie das bemalte Taufbecken mit seinem Baldachin und den gedrechselten Säulen – berühmt. Vor allem aber auch wegen der bemalten Pietà im Innern der Kirche, der prächtigen Orgel aus dem 17. Jahrhundert, dem geschnitzten und bemalten Prunkbalken aus dem 16. Jahrhundert sowie den Szenen aus der Passion: Christus zwischen der Jungfrau und dem Hl. Johannes. Statuetten und Allegorien gibt es hier überall in Hülle und Fülle. Verregnete Tage, die es auch im Hochsommer in der Bretagne durchaus gibt, eignen sich dafür, diese näher zu erforschen. Eine ausführliche Spurensuche lohnt sich auf jeden Fall, denn jedes dieser Monumente ist ein großartiges Einzelstück, das Zeugnis ablegt über die Handwerkskunst der Zeit wie auch über die in Stein gemeißelte Frömmigkeit der Bretonen, die sich durchaus dessen bewusst sind, dass auch das Böse aus dem Leben nicht auszuschließen ist.
↑ Das achteckige, dem Märtyrer Lampaul-Guimiliau gewidmete Taufbecken mit dem holzgeschnitzten Baldachin
↓ Die feingeschnitzte Orgel in Lampaul-Guimiliau
Dem Teufel begegnen die Besucher etwa beim Altar des Laurent, wo ein granitenes Weihwasserbecken zwar ein Bild der Taufe Christi zeigt, darunter aber auch zwei Satane, deren Schwänze sich in das Bassin winden.
Etliche der biblischen Geschichten in den Enclos bleiben uns heute jedoch verborgen. Und in der Erinnerung verschmelzen die Figuren beim Verlassen zu einer Art geheimnisvollem Gesamtpanorama, wenn man sich auf den Weg auf die Halbinsel Crozon macht …
Zwischen der Reede von Brest und der Bucht von Douarnenez schiebt sich die ursprüngliche Halbinsel Crozon mit ihrer wilden Brandung weit in den Atlantik. Nicht umsonst heißt das französische Wort für das Departement hier Finistère (finis terrae), das Ende der Welt.
An der Westspitze der Halbinsel liegt dann das malerische Camaret-sur-Mer, des einst bedeutendsten Langustenhafens. Dessen Spitze wiederum ist von der „Tour Vauban“, einzigartig in der französischen Militärarchitektur, gekrönt und wacht seit mehr als 300 Jahren über die Bucht von Camaret.
Der sechseckige Turm an der Spitze von Camaret ist ein unter Vauban entstandenes Verteidigungsbauwerk, das 2008 mit anderen Festungsanlagen Vaubans Teil des UNESCO Weltkulturerbes wurde
2008 wurde der eindrucksvolle Turm in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes eingetragen und wird seither komplett renoviert. Vorher trifft man noch auf die Kirche Notre-Dame de Rocamadour.
Im Sommer tönt hier allmontäglich klassische Musik heraus und lockt die Besucher an und lässt sie innehalten: „Les lundis musicaux …“, „Am Ende der Welt“, dem Finistère, wird so eine ganz melancholische Stimmung erzeugt.
Die einstige Pilgerkapelle Notre-Dame de Rocamadour von 1527 ist für ihre zahlreichen Votivgaben bekannt, die der Kirche von Überlebenden aus Schiffsunglücken als Dankesgabe überlassen wurden. Heute finden hier im Sommer Konzerte statt
Geht man weiter entlang des Deichs, der den Hafen vor den Westwinden schützt, so liegen dort die Wracks der ausgedienten Fischerboote wie ein memento mori. Sie wurden vor rund zwanzig Jahren stillgelegt, als sich das Fischen nach Sardinen und Langusten hier nicht mehr lohnte, weil die Konkurrenz andernorts zu groß wurde. Touristen kaufen bretonische Sardinen heute – bestens vermarktet – in hübsch gestalteteten Dosen …
Die Aktion aber, die Schiffsskelette zu zeigen, zeugt ebenfalls von der Sensibilität und dem Geschichtsbewusstsein der Bretonen, die sich in ihrer so facettenreichen Kunst widerspiegeln, und sie stimmt nachdenklich.
Schiffsfriedhof in Camaret-sur-Mer
Fotos: Petra Kammann