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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Alberto Giacometti im bretonischen Landerneau

Spiel mit Masse, Linien und Farbe

Petra Kammann

hat sich einen Eindruck von der Giacometti-Retrospektive vor Ort verschafft

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Die Giacometti-Ausstellung in der Leclerc-Kulturstiftung in Landerneau in einem ehemaligen Kapuzinerkloster, Foto: Petra Kammann

18 km südwestlich von Brest, im bretonischen Finistère, schlummert der idyllische Ort Landerneau mit seiner bewohnten Brücke über der Trichtermündung des Flusses Elorn. Hier gründete in Nähe des einstigen Kapuzinerklosters aus dem 17. Jahrhundert 1949 Edouard Leclerc (1926 – 2012) die erfolgreiche Supermarktkette Leclerc. Seit im Juli 2012 das frisch renovierte Kapuzinerkloster mit der Kunststiftung Hélène & Edouard Leclerc (FHEL, Fonds Hélène et Edouard Leclerc pour la culture) seine Pforten für das Publikum öffnete, weil Leclerc überzeugt vom Bedürfnis der Bretonen nach Kultur war („Les Bretons ont un réel désir de culture. Ils se déplacent volontiers pour l’art comme ils le font pour la musique“), wurde es zu einem neuen Mekka für Kunstliebhaber. Im letzten Jahr hatte der Fonds Hélène & Edouard Leclerc erneut mit seiner Miró-Ausstellung „Joan Miró, Harlekin Feuerwerker“, in der ganze 470 Werke des spanischen Malers, Grafikers und Bildhauers gezeigt wurden, von sich reden gemacht. In diesem Sommer zieht der Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti (1901-1966) die Besucher an …

Mitte der 1980er Jahre hatte der sozial und kulturell engagierte Unternehmer Edouard Leclerc schon für Aufsehen gesorgt, als er in Frankreich der Armut den Krieg erklärte. Er richtete Arme-Leute-Theken in seinen Geschäften ein und nahm „Überlebenspakete“ unter Selbstkostenpreis ins Sortiment. Sein Sohn Michel-Edouard Leclerc setzte nach dem Tod des Vaters 2012 den Kampf für niedrige Preise durchaus fort – auch in der Kultur. Er möchte einem breiten Publikum für einen Eintrittspreis von 6 Euro den Besuch einer Ausstellung ermöglichen – wie jetzt für einen der wichtigsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Außerdem kann man mit der Eintrittskarte auch noch die Abtei von Daoulas, das Centre d’art Contemporain de Quimper und die Passerelle Centre d’art contemporain wie auch das Océanonopolis in Brest besuchen.

Seit dem 14. Juni und noch bis zum 25. Oktober 2015 sind nun in Landerneau 150 bemerkenswerte Werke des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti zu sehen: die ganze Spannbreite seines Werkes vom Kubismus zum Surrealismus, bis hin zur lebensgroßen ausschreitenden Skulptur „L’Homme qui marche“, die Giacometti 1960 ursprünglich für den im Bau befindlichen Wolkenkratzer der Chase Manhattan Bank in New York entworfen hatte und die dann 1962 erstmals auf der Biennale in Venedig präsentiert wurde.

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Blick in Giacomettis rekonstruiertes Atelier, © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Fotos: Petra Kammann

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In der Ausstellung sind die verschiedensten Genres vertreten: Skulpturen, Zeichnungen, Ölgemälde, Fotos und unveröffentlichte Werke. Da das Pariser Atelier das Zentrum seines Schaffens war, in dem auch Schriftsteller, Filmemacher und Fotografen, u. a. Henri Cartier-Bresson, aus- und eingingen, ist auch diesem eigens ein gleichgroßer Ausstellungsraum gewidmet. Zu recht. In seinem Atelier untersuchte und inszenierte Giacometti über 40 Jahre lang das Zusammenspiel von Kunst und Leben; eine Welt für sich – mit seinem eigenen Kopf als Ikone. Die lebendigen Schwarzweiß-Fotos geben einen Einblick in seine tägliche und oft nächtliche Arbeit in diesem beengten Raum von gerade mal 25 Quadratmetern mit dutzenden von aufgetürmten Arbeiten, die jeweils neue Räume auf kleinstem Raum schaffen.

Geschickt werden insgesamt in der Ausstellung die Achsen seines Gesamtwerks thematisch und chronologisch miteinander verbunden, so dass der Betrachter begreift, welche Überlegungen den Künstler ‬umgetrieben haben mögen, um eine jeweils neue Schaffensperiode einzuleiten.

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Bronze „Femme qui marche“ von 1932, Version 1936, 150,3 x 27,7 x 38,4 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

Die ausstellungserfahrene Kuratorin und seit 2013 Direktorin der Fondation Alberto et Annette Giacometti, Catherine Grenier, konnte dabei aus dem Fundus der Fondation schöpfen. Die Stiftung ist heute immerhin mit 170 Skulpturen, 20 Gemälden, 80 Zeichnungen, 23 Skizzenheften, 39 Büchern mit Randzeichnungen und Druckgrafik die bedeutendste museale Sammlung von Werken des Plastikers, Malers und Zeichners Alberto Giacometti. Dieser Bestand umfasst das Lebenswerk des Künstlers von seinen frühesten bis zu den letzten Arbeiten in allen wesentlichen Aspekten. Sie wurde 1965 von einer Gruppe von Kunstfreunden um Hans C. Bechtler in Zürich gegründet, welche die Giacometti-Bestände des Pittsburger Industriellen David Thompson erwarb, der zahlreiche wichtige Skulpturen aus der avantgardistischen Periode von 1925 bis 1934 und Exemplare der meisten Hauptwerke von 1947 bis 1950, den schöpferischsten Phasen Giacomettis, besaß. Der Künstler selbst ergänzte das spätere Sammlungswerk durch eine Gruppe von Zeichnungen und um etliche Gemälde. Sein Bruder Bruno und dessen Frau Odette Giacometti schenkten 2006 der Stiftung 75 Gipse und 15 Bronzen aus dem Nachlass Albertos.

Gemeinsam mit dem Ausstellungsarchitekten Christian Alandate entwickelte Catherine Grenier einen Parcours, der jedem einzelnen Werk Giacomettis Raum und Luft gibt und in dem sich dessen jeweilige Schönheit entfalten kann. Das erscheint gerade für Giacometto bedeutsam, da ein Großteil seines Werks aus zum Teil sehr kleinen Skulpturen besteht, die in dem schlichten Raum besonders gut atmen können und daher in ihrer Vielfalt und in ihrem Detailreichtum zum Ausdruck kommen.

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Zwischen Kubismus und Surrealismus: Giacomettis „Femme cuillière“ von 1927 in der Version von 1963, Gips, 146,5 x 51,5 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

Schon 1922 hatte Alberto Giacometti, der von seinem Vater früh an die Kunst herangeführt worden war, in Paris ein Bildhauerstudium begonnen. Auf der Suche nach Ausdrucksformen, die seinem individuellen Erleben gerecht werden sollten, faszinierte ihn zunächst die Gestaltung afrikanischer und ozeanischer Skulptur mit ihrer magischen Ausstrahlung wie bei der „Femme Cuillière“, der Löffelfrau von 1953. In der symbolischen Darstellung der Wirklichkeit orientierte sich Giacometti dabei an der Formensprache des Kubismus. Daneben arbeitet er zeitlebens am Figürlichen sowie am Erfinden neuer Räume weiter.

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„Fleur en danger“, 1932, Gips und Metall 52,2 x 78 x 18,5 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

Anfang der 1930er Jahre schuf er die eher massiven „Unangenehmen Gegenstände“ und scheinbar schwebende Käfig-Skulpturen, die an einem „Faden“ hängen und auch reale Bewegungen einbeziehen wie die „Schwebende Kugel“ oder die „Fleur en danger“, die „bedrohte Blume“ von 1932. „Von Giacometti kenne ich so kräftige, so leichte Skulpturen, daß man von Schnee sprechen möchte, der einen Vogeltritt bewahrt“, schrieb Jean Cocteau in seinem „Tagebuch eines Entwöhnten“ 1930. 1934 kommt es zum Bruch Giacomettis mit den Surrealisten.

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„Le nez“, 1947, Version 1949, Bronze, 80,9 x 70,5 x 40,6 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

Das Verhältnis von Distanz und Dimension rückt ins Zentrum seines Bemühens.

Dann zeichnet Giacometti geradezu surreal winzige Menschen in die Skulpturen und gibt damit einen neuen Größenmaßstab vor. In den 1940er Jahren dominiert der Sockel einer Figur und kulminiert 1945 in der „Femme au chariot“, der „Frau auf dem Wagen“, zusammengebaut aus einem modellierten Sockel plus Rädern.

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Gips von „Femme au chariot“, um 1945, Gips und Holz, 154,5 x 35,3 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

1925 war sich Giacometti noch sicher, dass er unmöglich einen Kopf schaffen könnte. Zehn Jahre später, nachdem er verschiedene Strömungen hinter sich gebracht und sich vom Kanon der Moderne befreit hat, versucht er erneut, einen Kopf zu schaffen. Um die menschliche Gestalt zu erkennen, hat er sich einige Jahre auf den Kopf konzentriert. Allein schon im Blick drückt sich für den Bildhauer das Menschliche, Leben und Tod, aus. Sehr strukturierte Zeichnungen mit dem Kuli arbeiten dieses Zentrum heraus. Hier steht besonders das Porträt seines Bruder Diego im Vordergrund.

Giacomettis Statuen ähneln zunehmend ägyptischen und sumerischen Gestalten. Er sucht danach, „die Figur in ihrem Wesensgehalt aufscheinen zu lassen“ und zwar auf Grundlage der Erfahrung seiner selbst in der Wirklichkeit. Erst danach beschäftigt er sich mit den Händen, den Beinen, den Augen, der Nase, immer getrieben vom Wunsch, das Universelle aus dem Detail heraus zu entwickeln. Das Erleben der Distanz hat er von den Surrealisten erworben. Genau diese Weiterentwicklung der einzelnen Phasen kann der Betrachter in der Ausstellung nachvollziehen.

Daneben wurden zwei bemalte Gipsmodelle von „La femme de Venise“ („Die Frau für Venedig“) von der Stiftung restauriert und konnten hier zum ersten Mal ausgestellt werden. Die Restaurationsarbeiten wurden von einem Film begleitet, der in der Ausstellung zu sehen ist. An ihnen lässt sich die prozesshafte Arbeitsweise Giacomettis besonders deutlich ablesen. Ein halbes Jahr lang hatte er in seinem Atelier immer wieder an der gleichen Figur gearbeitet, Ton hinzugefügt und ihn an anderer Stelle wieder abgenommen.

1956 hatte er diese Gruppe von 15 Skulpturen in Vorbereitung für die Biennale von Venedig geschaffen, um damit den französischen Pavillon zu bespielen. „Die Frauen für Venedig“, allesamt Frauenakte mit anliegenden Armen, scheinen mit dem Sockel, auf dem sie stehen, verschmolzen zu sein, wobei die Betonung des Unterbaus im Kontrast zu den sphärisch klein anmutenden Frauen-Köpfen steht. Für diese Art des weiblichen Akts hatte dem Bildhauer auch schon zuvor in zahlreichen Plastiken seine Frau Annette Modell gestanden.

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Portrait Jacques Dupin, Zeichnung für ein Bild in Öl auf Leinwand, 1965; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

Für die Entwicklung der gesamten reifen Werke Giacomettis ist der formale und konzeptuelle Austausch zwischen Malerei und plastischem Gestalten von großer Bedeutung. Die Bewusstseinsbilder beeinflussen die Skulptur und umgekehrt. All das wird in dem einstigen Klosterraum der Kapuziner besonders deutlich.

Mit dem von skulpturaler Schwere und Massigkeit fernen spezifischen Körpergefühl Giacomettis hat er Gestalten aus Energien geschaffen, die sich zwischen Punkten zu Linien zu bündeln scheinen. Seine schwerelosen Skulpturen um 1930 entstanden ebenso aus den durchsichtigen räumlichen Strukturen wie die erscheinungshaften späten Figuren, die teils aus Dialogen mit Schriftstellern entstanden.

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„L’Homme qui marche“, 1960, Bronze, 180,5 x 23,9 x 97 cm; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

In dem „Schreitenden Mann“ konfrontiert uns der Bildhauer auf paradoxe Weise mit dem stilisierten Phänomen der Bewegung des Raumergreifens, was am Ende dieser gelungenen Ausstellung die Außenwelt wieder erahnen lässt.

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Ausstellungsansicht; © Fonds Hélène & Edouard Leclerc pour la Culture et Fondation Giacometti, Foto: Petra Kammann

„Alberto Giacometti“, Fonds Hélène & Édouard Leclerc pour la Culture, Aux Capucins,Landerneau, bis 25. Oktober 2015

 

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