„Julietta“ von Bohuslav Martinů an der Oper Frankfurt
Hin und Her zwischen Wirklichkeit und Illusion
Von Renate Feyerbacher
Fotografien: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt
Es ist eine Frankfurter Erstaufführung. Die lyrische Oper „Julietta“ von Bohuslav Martinů, die 1938 in Prag uraufgeführt wurde, wird als die beste seiner sechzehn Opern bezeichnet. Er war mit über 400 Werken ein sehr produktiver Komponist.
Kurt Streit (Michel) und im Hintergrund Juanita Lascarro (Julietta); Foto © Barbara Aumüller
Martinů, der 1890 „Auf dem Kirchturm“, wie es im Taufregister heisst, geboren wurde – sein Vater war Schuhmacher und Turmwächter in der kleinen Stadt Policka in Ostböhmen – , ging mit 33 Jahren nach Paris, wo er mit den Surrealisten und Dadaisten Kontakt bekam. 1930 wurde „Juliette ou la clé des songes“ (Juliette oder der Schlüssel zum Träumen) des Surrealisten Georges Neveux (1900-1982) in Paris aufgeführt, das heftige Diskussionen, aber auch Zustimmung auslöste. Bohuslav Martinů (1890-1959) war begeistert und machte sich ein paar Jahre später, als er Neveux kennengelernt hatte, ans Komponieren. Das Libretto schrieb er in tschechischer Sprache. Kurz vor seinem Tod schuf er zusammen mit Neveux eine französische Version. In Frankfurt wird in deutscher Sprache mit Übertiteln gesungen.
Eine realistische Handlung gibt es nicht. Der Pariser Buchhändler Michel kehrt nach drei Jahren in das kleine Städtchen am Meer zurück, um die junge Frau zu finden, deren Lied ihn seinerzeit faszinierte und seitdem nicht mehr los liess. „Ich stand wie ein Gelähmter unter diesem Fenster … Ich hatte Angst, mich plötzlich in diese junge Unbekannte zu verlieben.“ Jede und jeden der Dorfbewohner, die er befragt, können sich an nichts mehr erinnern. Sie alle haben ihr Gedächtnis verloren. Es geht sehr turbulent zu. Durch Michels Erzählungen will jeder sein Gedächtnis, seine Erinnerungen wieder auffrischen. Der alte Araber zwingt ihn sogar, das Küchenmesser in der Hand haltend, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Der herbeigerufene Kommissar klärt Michel auf, dass die Einwohner sich auf jeden Fremden stürzen, „um diesem Besucher einige Anekdoten zu entreißen, und sich dann vorstellen, diese Erinnerungen seien von ihnen“ (1. Akt, Szene 7).
Juanita Lascarro (Julietta) und Kurt Streit (Michel); Foto © Barbara Aumüller
Auch die Begegnung mit Julietta ist ein verschwommenes Wiedersehen. Michel und sie geraten sogar in Streit. Ein Schuss fällt. „Julietta ist das Symbol der Sehnsucht. Alle jungen Mädchen in dem Spiel heißen Julietta, und der eine Name, den alle suchen, ist ebenfalls Julietta“, das schrieb Martinů 1938. Diese Suche geht über zwei Stunden. Ein Traum – absurd und ohne jede Logik. Emotionen, die im Nichts verlaufen: „Ich habe dich gehört! Du rufst meinen Namen: Michel! Ich sehe Dich, sehe! Wie du schön bist, Julietta, Julietta“ (3. Akt). Unerreichbar, abweisend erscheint alles in der letzten Szene, mit dem pflichtbewussten Beamten im Zentralbüro der Träume, wo alle Träume verwaltet und arrangiert werden. Ein Bettler, ein Hotelboy, ein Sträfling, der vor der Hinrichtung noch einmal träumen will, kommen. Sie alle trafen das Mädchen Julietta. Michel, unentschlossen und hin und her gerissen, will nicht entlassen werden, sondern folgt Juliettas Rufen – oder doch nicht? Michel hält an seinem Begehren fest, fast ohnmächtig dem erbarmungslosen Umfeld ausgeliefert. Eine kafkaeske Geschichte: Nicht Traum, nicht Wirklichkeit.
Michael McCown (Beamter), Kurt Streit (Michel) und Nina Tarandek (Hotelboy); Foto © Barbara Aumüller
Musikalisch wird dem surrealen Geschehen von Neveux‘ s poetischen Fantasien Rechnung getragen. Unberechenbar springt die Musik, lässt sich in keinem Schema festlegen. Schnelle Wechsel. Es gibt nichts Verbindendes, keine Arie, viel wird rezitiert. Elf Sängerinnen und Sänger stehen auf der Bühne, aber 27 Rollen sind zu verkörpern. Das heisst, ausser Michel und Julietta schlüpfen alle anderen in mehrere Figuren. So ist Beau Gibson der Kommissar, der Briefträger, der Waldhüter und Lokomotivführer und Andreas Bauer der Mann am Fenster und der Sträfling, den er überzeugend mimt und ihm herrliche Basstöne zueignet.
Vielfarbig sind Martinůs musikalischen Einfälle: Mal ist Tänzerisches zu hören, mal Folkloristisches, mal Sphärisches, mal Kammermusikalisches, mal Jazziges, mal Rhythmisch-Eruptives, mal Witziges, mal Filmmusikfantastisches. Das hat seinen Reiz, ist aber nicht einfach aufzunehmen, vor allem zu spielen. Aber dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester gelingt das wieder und es ist zu merken, wie intensiv sich Generalmusikdirektor Sebastian Weigle, der das Orchester leitet, vorbereitet hat und Spass an dem Werk hat wie auch die Musiker und der Chor der Sopranistinnen und Altistinnen, die Herren kamen vom Band (Markus Ehrmann).
vorne v.l.n.r. Nina Tarandek (Kleiner Araber; kniend), Magnus Baldvinsson (Alter Araber), Beau Gibson (Kommissar; kniend), Boris Grappe (Mann mit Helm), Kurt Streit (Michel; sitzend) und Andreas Bauer (Mann am Fenster) sowie im Hintergrund den Damenchor und die Statisterie der Oper Frankfurt; Foto © Barbara Aumüller
Es gibt viele Szenen, die die tägliche Realität widerspiegeln: zum Beispiel das Aneinandervorbeireden; die mangelnde Bereitschaft der Menschen einander zuzuhören und wahrzunehmen, dass die Wahrheit auch immer die Wahrheit des Anderen ist (Günter de Bruyn). Regisseurin Florentine Klepper, die bereits Telemanns „Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ im Bockenheimer Depot inszenierte, hat dieses schwierige Sujet bedacht und einfallsreich umgesetzt. Der renommierte, weltweit agierende Bühnenbildner Boris Kudlicka („Falstaff“) schuf ihr ein grossartig-flexibles Bühnenbild: ein Innenhof mit um die Ecke laufenden Loggien, Hotelrezeption auf der einen Seite, Küchentrakt auf der andern Seite, ein Fantasiewald, Pflanzen wie in einem Aquarium, in dem sich Michel und Julietta treffen und herumirren. Er ist beweglich und verschwindet schliesslich ganz und gibt eine Traum-Bühne frei: Das Eingangstor zu den Träumen. Mit wenigen Veränderungen wird das Hin- und Herbalancieren zwischen Realität und Illusion verdeutlicht. Jan Hartmanns Lichtspiele und Mario Siegels Videoeinspielungen unterstützen dieses Gefühl. Adriane Westerbarkey, die mit Florentine Klepper schon bei Telemanns „Orpheus“ zusammengearbeitet hatte und demnächst in Graz wieder zusammenarbeitet, schuf realistische, fantasievolle, teils witzige Kostüme.
Boris Grappe (Verkäufer von Erinnerungen), Juanita Lascarro (Julietta) und Kurt Streit (Michel); Foto © Barbara Aumüller
Für Kurt Streit, den feurigen Loge im Frankfurter „Das Rheingold“ (2010), der zwei Jahre zuvor an der Frankfurter Oper den Tito in La Clemenza di Tito gesungen hat, ist diese Partie des Michel eine Herausforderung, die ihm anfangs schon zu schaffen machte, wie er bei der Premierenfeier eingesteht. Diese Rolle ist eine Zumutung, denn Michel ist mehr als zwei Stunden auf der Bühne präsent, singend und agierend. Kurt Streit, Sohn amerikanischer Eltern, in Japan geboren, heute österreichischer Staatsbürger, wurde lange als ausgesprochener Mozart-Sänger gefeiert. Seine Schallplattenaufnahmen bestätigen das. Überwältigend, wie der Tenor die Rolle des Michel meistert: Die Stimme klar, vorzüglich ansetzend, sprechend, das Spiel traumwandlerisch. Sehr erotisch erscheint Juanita Lascarro, seit dreizehn Jahren Mitglied im Ensemble, als Julietta, deren kurze Gesangspartien sie wohlklingend-lyrisch darbietet. Das gesamte Sängerteam gefällt, was auch der anhaltende Beifall, der bei Kurt Streit frenetisch wurde, bestätigte. Viel Beifall auch für das Orchester und seinen Dirigenten sowie für die Frauen und Männer von Regie, Bühnenbild und Kostüme, der auch der Dramaturgie von Norbert Abels gebührt.
Dennoch – im Gespräch danach war von Begeisterung, auch von Kritik und sogar totaler Ablehnung der Oper zu hören: zu lang sei sie, wie eine wiederkehrende Traumschleife.
Weitere Vorstellungen am 25. und 27. Juni sowie am 3., 8. und 13. Juli 2013